Di 16.03.2021
Die Ermordung von Sarah Everard ist eine Tragödie - für ihre Familie, für Freund*innen, die örtliche Gemeinschaft und für alle, die sich gegen Unterdrückung und Gewalt einsetzen. Socialist Alternative übersendet ihr Beileid und ihre Solidarität an alle, die Sarah kannten, und an alle, die durch die Enthüllungen der letzten Tage erschüttert sind. Die Trauer wurde zu Recht auch von Wut begleitet: auf den Täter und die Opferbeschuldigung der Polizei (diese riet Frauen, die in der Nähe des Ortes leben, an dem Sarah vermisst wurde, nicht allein rauszugehen). Die Wut richtet sich auch gegen eine Gesellschaft, die Gewalt gegen Frauen propagiert. Die Plattformen sozialer Medien wurden seitdem von Frauen überschwemmt, die ihre eigenen Geschichten von sexuellen Übergriffen teilen und die Mythen über geschlechtsspezifische Gewalt entlarvten, die sich entgegen aller Beweise hartnäckig halten. Das alles gleicht einem kollektiven Aufschrei: Wir haben genug! Wir können nicht zulassen, dass Sarahs Geschichte nur eine weitere Zahl in der Statistik ist. Wir müssen dafür kämpfen, dass Sarah Gerechtigkeit widerfährt. Gleichzeitig müssen wir uns die Frage stellen, welche Art von Gesellschaft Frauen und nicht-geschlechtskonformen Menschen echte Sicherheit und Freiheit bieten kann. Und wir müssen uns organisieren, um jetzt für Veränderungen zu kämpfen.
Was aus den Antworten kapitalistischer Politiker*innen aller Parteien klar hervorgeht, ist, dass wir uns nicht auf sie verlassen können, um das Problem der geschlechtsspezifischen Gewalt zu lösen. Entgegen seiner teilnahmsvollen Erklärung hat Premierminister Boris Johnson selbst eine lange Geschichte frauenfeindlicher Äußerungen und wurde wegen sexueller Übergriffe gegen eine Journalistin angeklagt. Sogar in seiner eigenen Regierung wurde ein ehemaliger Minister nie suspendiert, dem 2020 Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und Kontrollzwang vorgeworfen wurden.
Keir Starmers (der aktuelle Vorsitzende der Labour Party, Anm. d. Übers) schwache Reaktion bestand darin, mehr Polizeikräfte auf den Straßen zu fordern. Dies ist ein besonders unangemessener Lösungsvorschlag, angesichts der Tatsache, dass der Mann, dem dieses Verbrechen vorgeworfen wird, aktuell im Polizeidienst ist. Starmer war zudem seinerzeit der Leiter der Staatsanwaltschaft, als man entschied Jimmy Savile (Savile war ein britischer Fernsehstar, dem mehrfach vorgeworfen wurde, sexuelle Übergriffe an Minderjährigen begangen zu haben. Erst ein Jahr nach seinem Tod 2011 ging die Polizei den über 200 Zeug*innenaussagen nach, Anm. d. Übers.) nicht strafrechtlich zu ermitteln, mit der Begründung, "es gäbe nicht genügend Beweise".
Auch auf die Polizei können wir uns nicht verlassen. Systematischer Sexismus, neben Rassismus und Homophobie, sind bei der Polizei selbst gut dokumentiert. Erst letztes Jahr wurden zwei diensthabende Polizisten der Metropolitan Police suspendiert, nachdem sie für Selfies mit den Leichen der Mordopfer Nicole Smallman und Bibaa Henry posiert hatten (die beiden Schwestern wurde im Juni 2020 ermordet in einem Londoner Park gefunden, Anm. d. Übers.). Mina Smallman, die Mutter von Nicole und Bibaa, sagte: „Wenn wir überhaupt jemals noch ein Beispiel dafür benötigten, wie vergiftet die Polizei geworden ist, dann ist es dieses, dass diese Polizeibeamten sich so sicher fühlten, so unantastbar, dass sie meinten, sie könnten Fotos von toten schwarzen Mädchen machen und sie herumschicken. Das spricht Bände über das Berufsethos, das sich durch die Metropolitan Police zieht.“ Innerhalb der Metropolitan Police wurden zwischen 2012 und 2018 594 Beschwerden über sexuelles Fehlverhalten von Polizeibedienstete eingereicht, von denen nur 119 von der Polizei bestätigt wurden. Das IOPC (Unabhängiges Amt für Polizeiverhalten) untersuchte zudem Beschwerden darüber, dass Vorwürfe der unsittlichen Entblößung gegen den aktuell festgenommenen Polizeibeamten nicht ordnungsgemäß bearbeitet wurden. Das passt in das vorherrschende Muster der Metropolitan Police. In diesem vergifteten Umfeld werden nicht nur Mitarbeiter*innen der Polizei, sondern auch Mitglieder der Öffentlichkeit nicht geschützt.
Wir unterstützen alle Maßnahmen, die dazu beitragen, dass sich Frauen sicher fühlen. Zum Beispiel ist eine massenhafte und gut gewartete Beleuchtung auf Clapham Common und anderen öffentlichen Plätzen notwendig. Diejenigen, die über Sarahs Mord und die Folgen wütend sind, sollten sich weiterhin gemeinsam organisieren und austauschen, um den Kampf für diese dringend notwendigen Maßnahmen zu führen.
Aber das ist nicht genug. Wir wissen, dass Sarah „alles richtig gemacht hat“: Sie wählte eine belebte Strecke für den Heimweg, sie rief an und ließ andere wissen, wohin sie ging und wann sie wieder zu Hause sein würde. Aber das hat den gewalttätigen Angriff, der sie das Leben kostete, nicht verhindert. Fast 80 % der Frauen, die in Großbritannien von Männern getötet wurden, waren Opfer ihres Lebenspartners und wurden in ihrem eigenen Haus ermordet. Solche oben beschriebenen Sicherheitsmaßnahmen hätten sie nicht geschützt.
Geschlechtsspezifische Gewalt ist im Kapitalismus allgegenwärtig. Frauenfeindliche Ideen, die die Unterdrückung von Frauen rechtfertigen, werden normalisiert und in der gesamten Gesellschaft propagiert, auch in den Medien, in der Erziehung, in der Werbung, in der Popkultur und in den Familien.
Der Kapitalismus ist auf die Unterdrückung von Frauen angewiesen - er kann ohne sie nicht existieren. Um die Unterdrückung der Frauen zu beenden, brauchen wir einen grundlegenden Systemwandel. Wir müssen eine Massenbewegung gegen die Geschlechterunterdrückung und das System, das sie aufrechterhält, aufbauen.
Frauenfeindlichkeit existiert weltweit, also muss die Bewegung dagegen international sein. In den letzten Monaten haben wir Proteste für Abtreibungsrechte in Polen, einen Frauenstreik in Russland gegen die Verhaftung von feministischen Aktivist*innen und riesige Aufmärsche in Indien gegen Vergewaltigung und Gewalt gegen Frauen gesehen. Mitglieder der Socialist Alternative und unserer Schwesterparteien auf der ganzen Welt haben sich aktiv an diesen Kämpfen beteiligt. Wir kämpfen für eine demokratische und sozialistische Welt ohne geschlechtsspezifische Gewalt und Unterdrückung.