Südtirol - "Nationale Frage" im Wandel der Zeit

Franz Neuhold

Der 3. Nationalratspräsident und Rechtsextremist Martin Graf (FPÖ) hat vor kurzem in Bezug auf Südtirol mit seiner Aussage ("Rückkehr zu Österreich") einen weiteren "Brandsatz in die Medien-Arena" geworfen ("Der Standard" vom 28.7.). Wir nehmen dieses offensichtliche nationalistische Schauspiel als Anlass, die Südtirol-Frage aus sozialistischer Sicht zu beleuchten.
Südtirol, hauptsächlich deutsch-spachig bewohnt, war vom 14. Jahrhundert bis 1918 (von einem Intermezzo 1810-1813 abgesehen) unter Habsburgischer Herrschaft. Mit dem ersten Weltkrieg und seinem Ausgang wurde die Nationale Frage Südtiols schlagend: Die vom italienischen Königreich durchgeführte Gebiets-Besetzung wurde ungeachtet der Verteilung von Sprach- und Bevölkerungsgruppen mit dem Vertrag von Saint-Germain 1919 besiegelt. Dies war die Auszahlung des bereits während des Weltkriegs vereinbarten Solds für Italien, um seine Neutralität zugunsten der Entente-Mächte (Britannien, Frankreich, Russland) aufzugeben. Die "Friedensverträge" von Saint-Germain und Versailles lösten keine Probleme, sondern widerspiegelten nur die Interessen der dominanten imperialistischen Länder, von denen keines grundsätzlich demokatischer oder fortschrittlicher war als Deutschland und Österreich/Ungarn. Die Entwicklung Richtung 2. Weltkrieg war dadurch bereits angelegt.
So wie schon vor dem Ersten Weltkrieg im Falle des Balkans und danach in unzähligen Dramen führte die Politik der verschiedenen imperialistischen Staaten zu willkürlichen Grenzziehungen, die mit der Unterdrückung und Vertreibung von ethnischen bzw. sprachlichen Minderheiten einhergingen. Dies war auch in Südtirol der Fall, wo der Anteil deutschsprachiger Menschen bei über 3/4 lag. Das im internationalen Vergleich frühe Wachstum des Faschismus in Italien und seine Machtergreifung 1922 brachte auch für Südtirol Unheil. Die Mussolini-Diktatur führte die sog. "Italianisierung" durch. Davon betroffen waren neben den deutschsprachigen auch die ladinischen Gruppen (Sprache mit Verwandschaft zum Italienischen). Der nationalistische Wahn (den oftmals ja jene PolitikerInnen teilen, die sich besonders "für Südtirol" stark machen) führte zu einem weitreichenden Verbot der Verwendung der deutschen Sprache.
Hitlers Machtergreifung 1933 erzeugte in Südtirol Hoffnungen auf eine Versetzung der Grenze, nationale Einheit und wirtschaftlichen Aufschwung. Ein Irrtum auf allen Linien! Zwischen dem deutschen und dem italienischen Faschismus wurde der Konflikt auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen: die SüdtirolerInnen konnten unter den gegebenen Bedingungen bleiben oder sie wählten die "Option", ins Deutsche Reich zu ziehen. Mit allen Konsequenzen. Dem Schock über Hitlers Verrat folgte dennoch eine Massenauswanderung, da viele, angestachelt durch gezielte NS-Propaganda, Deportationen durch Mussolinis Truppen befürchteten. Die Nazis nannten ihre eigene Politik stolz "völkische Flurbereinigung". Hitler hatte damit die SüdtirolerInnen vollends gespalten. Wichtiger war ihm, im Krieg Italien nicht wieder auf der gegnerischen Seite zu sehen. Die Politik der Nazis zeigt, wie absurd das Konzept der "Nationalen Volksgemeinschaft" ist. Es ist auch wichtig, anzumerken, dass Hitlers "Lösung" der Südtirolfrage die Vergewaltigung der Selbstbestimmung anderer Menschen verlangte: Die AussiedlerInnen sollten in ein geschlossenes Siedlungsgebiet im "Deutschen Reich", was lediglich heissen konnte, ein durch kriegerische Expansion annektiertes Stück Erde zu Neu-Südtirol umzugestalten. Massenmord inklusive.
Ab den 1930er Jahren folgt eine Ansiedlungspolitik von italienisch sprechenden Menschen in Südtriol. Diese ging mit einer teilweisen Industrialisierung einher. Zu Beginn des 2. Weltkriegs lebten bereits über 80.000 ItalienerInnen (bei 234.000 mehrheitlich deutsch sprechenden SüdtirolerInnen) in der Provinz. Die Wohn-Struktur in den Städten (v.a. Bozen) wurde ebenso verändert, was heute einen 80%igen "italienischen" Anteil in der Landeshauptstadt ergibt. Diese Veränderungen müssen, ungeachtet ihrer ehemaligen Gründe, für eine gegenwärtige Bewertung der Nationalen Frage (im Gegensatz zur historischen!) berücksichtigt werden. Was würde eine "Rückkehr zu Österreich" für diese italienisch sprechenden Menschen bedeuten, wenn die etablierten bis hin zu den rechtsextremen PolitikerInnen in Österreich zweisprachige Ortstafeln hassen, sie versetzen lassen oder sich für nicht zuständig erklären?

Nachkriegszeit

Die nationale Frage der Nachkriegszeit wurde zusehend von der sozialen Frage begleitet: Der einstige Widerstand gegen faschistische Schlägertrupps und Sprachverbote wurde zu einem immer stärker durch rechtsextrem-deutschnationale Kräfte beeinflussten Kampf gegen "das Italienische", in dem sich auch der Hass auf italienische ArbeiterInnen und sozial Schlechtergestellte aus südlichen Regionen ausdrückte. Innerhalb der Terrororganisation "Befreiungsausschuss Südtirol" der 50er und vor allem 60er Jahre gab es verschiedene Kräfte mit durchaus unterschiedlichen Positionen, aber ab den 1960ern auch Figuren wie den verurteilten Verbrecher und Nazi Norbert Burger (tot seit 1992), der mit dem FPÖ-Chef HC Strache eng befreundet war. Jene großdeutschen Fanatiker übernahmen immer mehr die Kontrolle und ermordeten gezielt Menschen. Aus Österreich gab es politische und finanzielle Rückendeckung, und das nicht nur aus dem Umfeld der FPÖ. Tief hinein in ÖVP, SPÖ und ORF reicht die Liste der Unterstützer des Südtriol-Terrorismus. Es fehlte in dieser Zeit eine unabhängige und multi-sprachliche ArbeiterInnen-Bewegung, die eine Verbindung vom Kampf gegen nationalistische Unterdrückung hin zu einer internationalen Überwindung kapitalistischer Verhältnisse aufgebaut hätte.

Das Südtirol-Paket

Schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein Rohentwurf für die Autonomie Südtirols ausgearbeitet (benannt nach den damaligen Außenministern "Gruber/De-Gasperi-Abkommen"). Die Behandlung der Südtirol-Frage durch die UNO ab 1960 brachte eine nunmehr offizielle Gegenüberstellung Italiens und Österreichs (Deutschland war ja aufgrund diverser geschichtlicher Vorfälle "out"). Das 1972 beschlossene "Südtirol-Paket" entwickelte die Autonomie, deren vollständige Erfüllung anfangs der 1990er Jahre von allen Seiten anerkannt wurde.

Gegenwart

Innerhalb der Region Trentino-Alto Adige/Südtirol gibt es die Autonome Provinz Bozen. Rund 90 % aller Steuern des Staates Italien werden an das Land retourniert! Seit 2001 wird der Südtiroler Landtag direkt gewählt. Es besteht eine Gesetzgebungsbefugnis in nahezu allen Bereichen. Italien lässt sich Südtirol heute einiges kosten. Das und die unverrückbaren Veränderungen in der Struktur und Zusammensetzung der Region machen es unsinnig, die "Rückkehr zu Österreich" (die Rechtsextremen meinen in Wahrheit ohnehin Deutschland) als logische Lösung der Nationalen Frage zu argumentieren. Mehr noch: Im Juni 2006 erfolgte durch ein Referendum eine klare Ablehnung (75 %) der geplanten Verfassungsreform. Diese hätte durch ein Vetorecht die Position des Südtiroler Landtags sogar noch gestärkt. Das Ergebnis war auf keinen Fall Ausdruck des Wunschen "der SüdtirolerInnen", einen grundsätzlichen Wechsel anzustreben.

Südtirol - Eine rechte Angelegenheit?

Der Kampf für Selbstbestimmung und gegen nationalistische Unterdrückung in Südtirol war aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen nie von der ArbeiterInnen-Bewegung und internationalistisch-sozialistischen Ideen beeinflusst. Als in anderen Regionen Europas revolutionäre ArbeiterInnen-Kämpfe tobten, erhielt 1921 bei den Wahlen zum italienischen Parlament ein Bündnis aus Volkspartei und Deutschnationalen 90 %, während die Sozialdemokratie bedeutungslos blieb. Das und die Konstellation, zwischen den Machtinteressen zweier faschistischer Regimes zerrieben zu werden, legte die Basis dafür, dass die Südtirol-Frage nach dem 2. Weltkrieg und bis heute eine "rechte Angelegenheit" zu sein scheint. Für die österreichische Politik trifft dies sicherlich zu. In diesem Sinn steht Martin Graf in bester Tradition des österreichischen politischen Establishments.
Die SüdtriolerInnen können als eine der privilegiertesten nationalen Minderheiten Europas angesehen werden, wohingegen Selbstbestimmungsrechte in vielen anderen Fällen noch mit Füßen getreten werden. Den Rechtsextremen wie Martin Graf, die Südtirol heute noch für ihre nationalistische Hetze missbrauchen wollen, geht es in Wahrheit nicht um das Prinzip der Selbstbestimmung. Sonst würden sie in Kärnten eigenhändig zweisprachige Ortstafeln aufstellen.
Der Standpunkt von SozialistInnen zur Südtirolfrage kurz nach 1945 unterscheidet sich wohl deutlich von heute. Eine Vereinigung großer Teile Südtirols mit Österreich hätte unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg durchaus Sinn gemacht. Durch das Südtirol-Paket erfolgte jedoch die de facto-Lösung. Den Sonderstatus mit all den finanziellen Vorteilen würde Südtirol in einem Verbund mit Österreich wohl nicht haben. Was aber noch viel wichtiger ist: Es existiert weder in Südtirol noch in Österreich ein auch nur annähernd mehrheitlicher Wunsch nach Vereinigung. Es gibt hier keine "ewigen Bande". Die einzige existierende Bande ist die jener Rechtsextremisten, die zynisch mit der Losung "nationaler Selbstbestimmung" spielen. Selbst im unwahrscheinlichen Fall, diesen (extrem) rechten Kräften in Österreich und Südtirol gelänge eine Mehrheit in einer Grundsatzabstimmung, würde das vor allem auch bedeuten, das Selbstbestimmungsrecht der nur italienisch-sprechenden Menschen verteidigen zu müssen, auch wenn dies notfalls Abspaltung bestimmter Regionen und Schaffung von italienischen Exklaven bedeuten würde.
Grenzen überwinden – ArbeiterInneneinheit gegen nationalistische Hetze schaffen!
In jedem Fall stellt sich für echte SozialistInnen die Aufgabe, letztendlich für eine vollständige Aufhebung nationalstaatlicher Grenzen einzutreten und ArbeiterInnen ungeachtet ihrer Herkunft und Sprache zusammenzubringen. Daraus ergeben sich sogenannte Übergangsforderungen, wie die nach einer freiwilligen Föderation in Europa (und in Folge darüber hinaus) auf sozialistischer Grundlage. Nur ein Systemwechsel weg vom destruktiven und auf Nationalismus und Rassismus aufbauenden Kapitalismus kann die vielfältigen Nationalen Konflikte endgültig überwinden helfen. Diese Richtlinien machen den grundlegenden Unterschied zu allen anderen Positionen politischer Kräfte, unter anderem in der Frage Südtirols, aus. In ihr liegt auch der Kern für eine ernstzunehmende und erfolgreiche Opposition zur FPÖ und ähnlicher Parteien in ganz Europa.