Di 02.12.2014
Die Schlacht um die kurdische Stadt Kobanê an der syrisch-türkischen Grenze wird weiterhin mit Härte geführt, auch wenn die Tagesschau ihre tägliche Frontberichterstattung eingestellt hat. Die YPG/YPJ-Einheiten konnten die Truppen des „Islamischen Staates“ (IS) teilweise zurückdrängen und Stadtviertel beziehungsweise Positionen im Umland der Stadt zurückerobern. Doch der Region Rojava drohen weitere Gefahren durch das Agieren der westlichen ImperialistInnen und der Regierung von Masud Barzani im Nordirak. Im erbitterten Abwehrkampf um Kobanê könnten zentrale politische Botschaften der linken kurdischen Bewegung in den Hintergrund geraten.
Die symbolträchtige Eroberung Kobanês durch die IS-Milizen hätte das Prestige des US-Imperialismus in der Region beschädigt. Das US-Militär und die Regierung von Barack Obama haben sich daher entschieden, die schnelle Eroberung der Stadt nicht zuzulassen.
Gleichzeitig hat die Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan alles getan, um die Verteidigung zu behindern. Ein Korridor wurde nicht geöffnet, weder kurdische KämpferInnen noch Waffen, nicht einmal Medikamente und Lebensmittel können über die offizielle Grenze nach Kobanê gelangen – im Unterschied zu den IS-Kämpfern.
Die von Erdoğan als Hilfe für die „Anti-IS-Koalition“ dargestellte Öffnung der türkischen Grenze für kleinere Einheiten nordirakischer Peschmerga und syrischer KämpferInnen der FSA (Freie Syrische Armee) ist in Wirklichkeit ein vergiftetes Geschenk. Diese Truppen teilen nicht die politischen Ziele der Partei der Demokratischen Union (PYD) und YPG/YJP, stehen weder für mehr demokratische Rechte noch für das friedliche Zusammenleben verschiedener Völker und Religionen. Offensichtlich hofft Erdoğan darauf, dass die Peschmerga und FSA-Einheiten die kurdische Autonomie als trojanische Pferde von innen schwächen.
Die VerteidigerInnen von Kobanê brauchen jede einzelne schwere Waffe, sie nehmen die Anwesenheit politisch zweifelhafter Truppen in Kauf und hoffen möglicherweise darauf, die entsandten KämpferInnen politisch beeinflussen zu können.
Anfang Oktober hatten wir darauf hingewiesen, dass es sowohl den USA als auch Erdoğan nutzen könnte, wenn die Belagerung bestehen bleibt und sich IS-Milizen und die YPG/YPJ gegenseitig aufreiben. Aktuell entwickelt es sich in diese Richtung. Der IS kann die Stadt momentan nicht erobern. Allerdings verteidigen die YPG/YPG-Einheiten eine teilweise zerstörte Stadt, von den Ansätzen zur Selbstbestimmung der Bevölkerung ist nicht mehr viel übrig geblieben. Bombardierung und Waffenlieferungen der US-geführten Allianz finden wohldosiert statt, sie helfen den KurdInnen zu überleben, aber reichen nicht aus, um eine Offensive zur Säuberung des Umlands von den IS-Einheiten starten zu können.
Politik der YPG
Im direkten militärischen Kampf um die Stadt Kobanê hat die linke kurdische Bewegung nur wenig Spielraum. Die KämpferInnen der YPG/YPJ haben beeindruckenden Mut und Kampfkraft bewiesen. Auf der Grundlage ihrer hohen Moral und politischen Überzeugung, die eigene Bevölkerung zu schützen, haben sie einer extrem brutal agierenden Übermacht Stand gehalten. Bis dato kannten die IS-Milizen nur schnelle Siege, YPG/YPJ haben ihnen die Grenzen aufgezeigt.
Allerdings kann der IS nicht rein militärisch geschlagen werden. Deshalb stellt sich die Frage nach der politischen Strategie. Die Rettung der yezidischen Bevölkerung, einer religiösen Minderheit unter den KurdInnen, aus dem Sindschar-Gebirge im August durch YPG/YPJ und HPG, die bewaffneten Einheiten der ArbeiterInnenpartei Kurdistans (PKK) in der Türkei, beinhaltete eine starke politische Botschaft: Eine linke kurdische Bewegung, die von vielen als Kraft gesehen wird, für Solidarität zwischen den Völkern, für demokratische Rechte für alle. In einer Region, die in einem brutalen religiösen und ethnischen Bürgerkrieg versinkt, in der nicht nur der IS, sondern auch irakisch-schiitische Milizen und die Truppen des Regimes von Baschar al-Assad Massaker an ganzen Dörfern organisieren, hebt sich diese Haltung der kurdischen Bewegung deutlich ab.
Sowohl die westlichen ImperialistInnen als auch die regionalen Despoten haben kein Interesse daran, dass sich diese Ideen verbreiten. Eine direkte Unterdrückung der kurdischen Bewegung ist für die USA und die Barzani-Clique aktuell nicht möglich, daher versuchen sie, diese zu vereinnahmen und als Teil ihrer Koalition darzustellen.
Kurdische Einheit?
Mitte Oktober fand im nordirakischen Dohuk eine Konferenz zur „kurdischen Einheit“ statt. PYD und die im Nordirak regierende Demokratische Partei Kurdistans (KDP) von Barzani haben über eine mögliche Zusammenarbeit gesprochen. Der genaue Inhalt der Verhandlungen ist unklar, aber Stellungnahmen der Beteiligten zeigen, dass es darum ging, den KDP-nahen Kräften Einflussmöglichkeiten in Rojava zu sichern. PYD-SprecherInnen auch in Deutschland betonen seit der Konferenz von Dohuk die „kurdische Einheit“. Bisher benutzte die PYD diese Formulierung nicht, sondern sprach von „demokratischer Autonomie“.
Aber wie kann es eine „kurdische Einheit“ geben, wenn die beteiligten Kräfte in ganz unterschiedliche Richtungen streben? Die Strategie der eng mit dem deutschen und dem US-Imperialismus verbündeten pro-kapitalistischen Barzani-Regierung ist klar. Sie will den demokratischen Prozess in Rojava unterhöhlen und die YPG zu Bodentruppen im syrischen Bürgerkrieg auf Seiten einer US-geführten Koalition machen. Deren Kampf richtet sich zunächst gegen den IS, aber zielt perspektivisch auch gegen das Assad-Regime.
Wenn PYD und YPG nur als eine weitere Kraft im ethnisch-religiösen mittelöstlichen Bürgerkrieg gesehen werden, werden sie ihr wichtigstes politisches Kapital, die Botschaft von der multiethnischen Solidarität und der Befreiung der Frau, aufs Spiel setzen. Wenn nicht zu einer vereinten, demokratischen Bewegung für Selbstverteidigung aufgerufen wird und dahingehend konkrete Schritte unternommen werden, wird es nicht möglich sein, politisch in Richtung der arabisch-sunnitischen oder alawitischen Bevölkerungsgruppen zu wirken.
Der IS ist nicht aus dem Nichts entstanden. Seine Barbarei erwuchs aus der Barbarei der „demokratischen“ imperialistischen Länder, welche in der Region Grenzen gezogen, Regierungen gestürzt, Regime eingesetzt, die ethnische und religiöse Spaltung gefördert und brutale Kriege geführt haben. Für EuropäerInnen an den TV-Geräten mag es schockierend grausam sein, wenn Menschen durch den IS geköpft werden. Viele SunnitInnen im irakischen Falludscha haben seitens der US-Truppen weitaus Schlimmeres gesehen.
Das soziale Programm der PYD war bisher nicht stark ausgeprägt. Es gab keine klare Botschaft an die Völker der Region, sich gemeinsam gegen die korrupten kapitalistischen Regime zu erheben, Bodenschätze und Produktionsmittel in die eigenen Hände zu nehmen und demokratisch zu verwalten. Aber die Verteidigung demokratischer Rechte war ein Ansatzpunkt, um die sektiererische Frontstellung zu durchbrechen. In der Umarmung durch die „kurdische Einheit“ à la KDP und mittelbar durch die USA und die Europäische Union (EU) wäre auch dieses Alleinstellungsmerkmal von Rojava und der linken kurdischen Bewegung gefährdet.
Um den Teufelskreis der sektiererischen Vergeltung zu durchbrechen, brauchen Syrien und der Irak eine revolutionäre Bewegung, welche die Einheit der Armen und der ArbeiterInnenklasse über nationale und religiöse Grenzen hinweg glaubhaft vertritt und sich mit keinem der regionalen Despoten und imperialistischen Mächte verbündet, sondern unabhängig agiert. Ziel muss der Bruch mit Kapitalismus und feudalen Strukturen und der Aufbau einer sozialistischen Demokratie, einer freiwilligen Föderation sozialistischer Länder in der Region sein.