Di 27.10.2020
Nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts vom vergangenen Donnerstag, dass Abtreibung bei fötalen Defekten verfassungswidrig sei, haben Proteste und Massendemonstrationen das Land überrollt und täglich an Zahl zugenommen. Nachdem das Urteil am Donnerstag verkündet worden war, zog eine spontane Demonstration am den Sitz der regierenden Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) in Warschau vorbei, dann weiter zum Wohnhaus von Jarosaw Kaczyński, dem Vorsitzenden der PiS. Die Demonstrationen und Proteste haben seit der Verkündung des Urteils jeden Tag stattgefunden, an Umfang zugenommen und sich über das ganze Land ausgebreitet. Am Sonntag stürmten Tausende von Demonstrant*innen die Kirchen und standen in vielen Städten vor einer Auseinandersetzung mit der Polizei. Am Montag brachten Blockaden in über 50 Städten den Verkehr im Land zum Erliegen.
Abtreibung ist bereits bisher fast unmöglich
Gegenwärtig ist Abtreibung in Polen immer noch legal, in Fällen von Vergewaltigung, Inzest oder wenn das Leben oder die Gesundheit der Frau in Gefahr ist. In der Praxis wird das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch in diesen Fällen jedoch in der Regel durch das "Gewissen" des Arztes/der Ärztin blockiert, und es gibt Regionen des Landes, in denen kein Krankenhaus einen Schwangerschaftsabbruch vornimmt. Der andere Fall eines legalen Schwangerschaftsabbruchs, bei dem der Fötus schwer geschädigt ist, wurde erstmals vor vier Jahren angegriffen, als ein Gesetzentwurf zur Einführung eines Verbots im Parlament diskutiert wurde. Damals entwickelte sich über mehrere Monate hinweg eine Massenbewegung, die in einem "Frauenstreik" gipfelte, an dem sich auch Schüler*innen und Studierende beteiligten. Aus Furcht, dass die Bewegung außer Kontrolle geraten könnte, beschloss die PiS, den Gesetzentwurf zum Abtreibungsverbot in die parlamentarische "Gefriertruhe" zu legen.
Nun hat die PiS jedoch erneut beschlossen, das Verbot durchzusetzen, indem sie zynisch die Tatsache ausnutzt, dass die neuen Pandemieeinschränkungen im Land öffentliche Versammlungen von mehr als fünf Personen verhindern. Die Verärgerung ist besonders groß, da dieses Urteil, das von Kaczyński's Handlangern im Verfassungsgericht verkündet wurde, zu einer Zeit kommt, in der die Covid-19-Pandemie mit täglich über 16.000 Neuinfektionen in Polen außer Kontrolle gerät. Doch wenn die PiS glaubte, dieses Verbot mit einem Minimum an Aufhebens einführen zu können, hat sie die tiefe Betroffenheit des Landes in dieser Frage ernsthaft unterschätzt. Der Ausbruch von Wut ist vergleichbar mit dem Abwurf einer Bombe in einen Vulkan, der vier Jahre lang relativ ruhig war. Trotz der Fünf-Personen-Grenze ist der Bogen der Bewegung heute viel weiter gespannt, mit viel größeren und wütenderen Protesten als vor vier Jahren, vor allem in den kleineren Städten.
Die Jugend ist auf der Straße
Wie vor vier Jahren sind viele junge Menschen beteiligt - Studierende und Schüler*innen. Doch diesmal hat die Wut gegen die PiS, die katholische Kirche und die rechtsextreme Partei Konfederacja Wolność i Niepodległość (Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit) den Siedepunkt erreicht. Es ist auch eine viel größere, breitere und spontanere Bewegung als vor vier Jahren. Obwohl die Facebook-Gruppen, die vor vier Jahren die Proteste organisierten, auch jetzt zum Handeln aufrufen, gibt es vor Ort keine Organisator*innen, keine Redner*innen, und Verlauf und Dauer der Demonstrationen kann man nur vermuten.
Vor vier Jahren konnten sich die Liberalen um die PO (Bürgerplattform) und das KOD (Komitee zur Verteidigung der Demokratie) an die Spitze der Bewegung stellen und die radikaleren Stimmen zum Schweigen bringen und sogar Protestierende ausschließen, die "vulgäre" Slogans auf ihren Plakaten hatten oder Abtreibung auf Verlangen forderten. Linken politischen Organisationen war es an vielen der Protete sogar verboten, Flugblätter zu verteilen.
Im Gegensatz dazu ist die Wut so groß, dass der zentrale Slogan nun "Wypierdalać!" (Verpisst euch) lautet. Ein anderer beliebter, aber subtilerer Slogan lautet "Ich wünschte, ich könnte meine Regierung abtreiben". Offensichtlich wollen die Protestierenden nicht einfach das Urteil des Verfassungsgerichts rückgängig machen - sie wollen die Regierung von Recht und Gerechtigkeit und die korrupte Kirchenhierarchie, die den Staat beherrscht, loswerden.
Für Mittwoch, den 28. Oktober wurde ein "Frauenstreik" ausgerufen. Alternatywa Socjalistyczna und die sozialistische feministische Kampagne Rosa Polska fordern die Gewerkschaften auf, sich klar gegen das Abtreibungsverbot auszusprechen, den Streik vom Mittwoch aktiv zu unterstützen und sich darauf vorzubereiten, in Zukunft einen eintägigen Generalstreik zu diesem Thema vorzubereiten. Wir rufen auch alle Schüler*innen und Studierenden auf, ihren Onlineunterricht am Mittwoch zu bestreiken, ihre Opposition zu zeigen und sich zu organisieren. Wir fordern Studierende und Schüler*innen auf, demokratische Komitees für den Widerstand auf Basis ihrer Schulklassen, Schulen und Hochschulen zu bilden.
- Wir kämpfen nicht nur gegen den gegenwärtigen Angriff auf das Abtreibungsrecht. Wir fordern das Recht der Frau, über ihren Körper entscheiden zu dürfen - Abtreibung auf Verlangen, ohne Fragen zu stellen, kostenlos und mit freiem und einfachem Zugang zu Empfängnisverhütung.
- Der Einfluss religiöser Fundamentalist*innen auf den Staat, das Gesundheitswesen und die Schulen muss beseitigt werden. Wir fordern eine massive Erhöhung des Gesundheitsbudgets, um die COVID-19-Pandemie zu bekämpfen und die reproduktiven Rechte der Frauen zu verbessern.
- Eine kostenlose Kinderbetreuung.
- Eine massive Erhöhung des Betreuungsgeldes für Eltern von behinderten Kindern und Erwachsenen.
- Die Trennung von Kirche und Staat.
- Den Ersatz des Religionsunterrichts in den Schulen durch Sexualerziehung, die von gut ausgebildeten Fachpädagog*innen unterrichtet wird.
- Schließlich muss diese religiös-fundamentalistische rechte Regierung abgeschafft werden - treiben wir PiS-Regierung ab, und das System, das sie vertritt.
- Aber damit Frauen wirklich eine Wahl haben, dürfen wir nicht dabei stehen bleiben. Wir müssen die gesellschaftlichen Grundlagen verändern, die uns einengen. Das erfordert sozialistische Veränderungen.
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