Di 01.03.2022
Eine Revolution ist so lange undenkbar, bis sie stattfindet, dann gilt sie als unausweichlich, schrieb schon Rosa Luxemburg. Dasselbe galt für die Russische Revolution, in der Frauen eine zentrale Rolle spielten. Russland war vor der Revolution 1917 ein rückständiges Land. Frauen machten zwar einen immer größeren Anteil der Arbeiter*innenklasse aus, verdienten aber deutlich weniger als Männer, arbeiteten in den am wenigsten qualifizierten Berufen, waren mit Schwangerschaft, Kindererziehung und Hausarbeit neben dem Beruf mehrfach belastet, von Bildung weitestgehend ausgeschlossen und per Gesetz ihrem Ehemann unterstellt.
1905 machten Frauen fast 40 % der russischen Beschäftigten aus, der Anteil stieg im Zuge des 1. Weltkriegs. Frauen galten aber im Allgemeinen, auch bei den Revolutionär*innen, als "rückständig", was ihr Bewusstsein betraf. Kollontai schrieb: „Die arbeitenden Frauen gehen dem Leben und dem Kampf aus dem Weg, weil sie glaubten, ihr Schicksal sei der Kochtopf, der Waschzuber und die Wiege".
Bereits 1903 nahm die RSDLP die Gleichstellung der Geschlechter in ihr Programm auf. Sie fordert u.a. 10 Wochen Mutterschaftsurlaub, Betreuung vor und nach der Geburt sowie die Einrichtung von Kinderkrippen. Es wurde jedoch kaum systematisch daran gearbeitet, diese Forderungen mit den Frauen am Arbeitsplatz zu verbinden. Dies änderte sich mit der Streikwelle 1905, Arbeiterinnen begannen das traditionelle Bild abzulegen und sich zu organisieren. So beteiligten sich 11.000 Textilarbeiterinnen an einem der längsten Streiks. In den Streiks wurden auch bezahlter Mutterschaftsurlaub, Freistellung zum Stillen und betriebliche Kinderkrippen gefordert.
In ihrer Geschichte der Bewegung der Arbeiterinnen in Russland schrieb Kollontai 1920: „…je aktiver sie wurde, desto schneller vollzog sich der Prozess ihres geistigen Erwachens. Die Arbeiterin begann, die Welt um sich herum wahrzunehmen, die Ungerechtigkeiten des kapitalistischen Systems. Sie wird sich der Bitterkeit all ihrer Leiden und Sorgen immer schmerzhafter und schärfer bewusst. Neben den allgemeinen proletarischen Forderungen hört man immer deutlicher die Stimmen der Frauen der Arbeiterklasse, die an die Bedürfnisse und Forderungen der Arbeiterinnen erinnern.”
Durch die Ereignisse von 1905 politisierten sich viele Frauen und schlossen sich auch der Bolschewistischen Partei an. Die Revolution von 1905 hinterließ ihr ein Netzwerk engagierter Aktivistinnen in einigen der riesigen Fabriken von St. Petersburg. Es entstand auch eine bürgerliche Frauenbewegung an der Seite der entstehenden bürgerlichen Parteien. Kollontai war eine der Ersten, die die Gefahren des bürgerlichen Feminismus, der im kapitalistischen System verhaftet bleibt, erkannte. Gleichzeitig fanden die bürgerlich-feministischen Ideen allmählich ein gewisses Echo bei Arbeiterinnen, weil sie auf ihre Bedürfnisse einzugehen schienen.
In der Praxis hatten die bürgerlichen Feministinnen oft wenig Verständnis oder Willen, die Probleme der arbeitenden Frauen anzusprechen. Ihre Forderungen nach demokratischen Rechten griffen zu kurz - Sozialist*innen erkannten, dass beispielsweise das reine Frauenwahlrecht nicht ausreicht, wenn Frauen und die gesamte Arbeiter*innenklasse weiterhin unter Armut, Hunger und Elend leiden. Kollontai leistete Pionierarbeit mit einer Taktik, bürgerliche Feministinnen auf Versammlungen in die Zange zu nehmen, um Forderungen zu stellen, die das Leben der arbeitenden Frauen verbessern sollten und denen die bürgerlichen Feministinnen kaum zustimmen konnten, da sie ihren eigenen Klasseninteressen widersprachen - so wurde deutlich, wo die Gemeinsamkeiten und wo die Unterschiede lagen. In den Wochen vor dem russischen Frauenkongress 1908 organisierte Kollontai arbeitende Frauen, um ihre Forderungen nach sozialen Reformen vorzubringen und innerhalb der feministischen Bewegung für Sozialismus zu organisieren.
Alexandra Kollontai erkannte, dass ein Wettstreit zwischen Feminismus und Sozialismus um die Organisierung der politisierten Arbeiter*innen entstand. Feministische Bewegungen in ganz Europa versuchten, alle Frauen, unabhängig von ihrer sozialen Klasse zu vereinen, um für ihre politischen Rechte zu kämpfen, anstatt sich gegen das System, das sie unterdrückte zu wenden. Kollontai betonte, dass die Partei auf die besonderen Probleme der Frauen eingehen muss, wenn sie sie für die Ideen des Sozialismus und gegen die falschen Versprechungen des bürgerlichen Feminismus gewinnen will.
Kollontai forderte die RSDLP auf, spezielle Propaganda für die Frauen der Arbeiter*innenklasse zu entwickeln und sich für Reformen einzusetzen, die ihnen direkt zugutekommen. Sie sprach sich auch für die Einrichtung eines Frauenbüros unter der allgemeinen Leitung und dem Programm der Partei aus, das die Arbeit unter Frauen organisieren und die Gewinnung und Integration von Frauen aus der Arbeiter*innenklasse in die Partei erleichtern sollte. Hieraus entstand nach der Revolution 1917 das Frauenbüro, Zhenotdel - eine große Struktur mit vielen Aktivist*innen.
Viele Parteimitglieder lehnten nicht nur die Idee eines Frauenbüros ab, sondern auch Propaganda oder Kampagnen, die sich speziell an arbeitende Frauen richteten. Kollontai stimmte zu, dass die Einheit der Arbeiter*innenklasse unerlässlich sei, argumentierte jedoch, dass sie nicht verwirklicht werden könne, ohne die spezifische Unterdrückung von Frauen zu thematisieren. Sie wandte sich energisch gegen diejenigen, die behaupteten, Frauen bräuchten keine "spezielle Aufmerksamkeit” und würden sich automatisch der allgemeinen Bewegung anschließen. Sie wandte sich auch gegen diejenigen (darunter viele weibliche Mitglieder), die die Arbeit unter Frauen für unwichtig, zweitrangig, eine Verschwendung von Ressourcen oder eine Ablenkung vom allgemeinen Klassenkampf hielten.
Nur durch eine systematische, bewusste und organisierte Kampagnenarbeit könne die Beteiligung von Frauen aus der Arbeiter*innenklasse in der Partei und somit dem Kampf zur Umgestaltung der Gesellschaft geschehen. Der Kampf für die Befreiung der Frau wurde damit an zwei Fronten geführt, einerseits innerparteilich, um die Wichtigkeit der Organisierung von Frauen in eigenen Kampagnen und Material widerzuspiegeln und gleichzeitig innerhalb der Frauenbewegung, um Frauen für Sozialismus und den geeinten Kampf der Arbeiter*innenklasse zu gewinnen.
Alexandra Kollontais politische Geschichte ist bestimmt nicht unumstritten, vor allem ab dem Übergang zum Stalinismus. Aber was sie unzweifelhaft erkannte, wohl auch aus ihrer eigenen Politisierung heraus, ist, dass politisches Bewusstsein und Radikalisierung vor allem eines sind: Ein Prozess. Ein Prozess, der keineswegs linear verläuft, sondern sich auch in Sprüngen entwickelt, wie beispielsweise nach der Streikwelle 1905. Es war essentiell, zu erkennen, welche zentrale Rolle der Kampf um die Befreiung der Frau im Kampf um eine geeinte Arbeiter*innenklasse spielen musste. Es reichte nicht, „Sozialismus“ und „sind eh mitgemeint“ zu hämmern, das gilt auch für heute. Die Strategie der Bolschewiki zur Organisierung arbeitender Frauen mittels eigenem Material und einem eigenen Frauenbüro - aber im Rahmen der revolutionären Partei - war und ist unerlässlich.