So 21.02.2016
In Irland wird es nächsten Monat Parlamentswahlen geben. Vor welchem sozialen und politischen Hintergrund finden sie statt?
Seit 2008 lastet auf Irland die schwerste Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Der irische Kapitalismus war schon immer schwach und von ausländischen Direktinvestitionen abhängig, und in den letzten Jahren des „Celtic Tiger“-Booms kam noch eine künstlich aufgeblähte Überbewertungsblase im Immobiliensektor hinzu. Daher war der vom neoliberalen Kapitalismus verursachte Zusammenbruch der Wirtschaft umso stärker. Die falsche „Lösung“ einer noch verschärften neoliberalen Wirtschaftspolitik – gnadenlose Sparprogramme gekoppelt mit einem Bankenrettungspaket, das die höchsten Pro-Kopf-Zahlungen weltweit an die Banken gab – wurde von mehreren aufeinander folgenden irischen Regierungen sowie der Troika durchgedrückt und führte zu einem stark gefallenen Lebensstandard, während die reichsten 300 Individuen ihren Reichtum in den letzten fünf Jahren um 34 Milliarden Euro vermehrt haben.
Es gibt eine große Wut auf das ganze politische Establishment; insbesondere unter den am meisten unterdrückten Schichten der ArbeiterInnenklasse verachtet ein Großteil der Leute alle etablierten Parteien. In den letzten Parlamentswahlen (2011) wurde Fianna Fail – die kapitalistische Partei, die bis dahin seit der Republikgründung die irische Politik beherrscht hatte – hart abgestraft und verlor bis auf einen alle ihre Sitze in der Hauptstadt Dublin. Die jetzige Fine Gael/Labour-Regierung hat den Austeritäts- und Kürzungskurs ungebremst fortgesetzt und so für eine weitere Politisierung der ArbeiterInnenklasse gesorgt, weil klar geworden ist, dass Ungleichheit und Ungerechtigkeit im Kapitalismus systemimmanent sind.
Dabei wird die Labour-Partei [die irische Sozialdemokratie, AdÜ] von Arbeiterinnen und Arbeitern besonders verachtet, und ihre PolitikerInnen können heute viele Wohnviertel, die ehemals Labour-Bastionen waren, nicht mehr ungestört betreten. In letzter Zeit haben zwei sehr dynamische soziale Bewegungen stattgefunden: erstens der spontane Massenaufstand gegen die Wassergebühren und zweitens der Sieg des „Ja“ in der Volksabstimmung über gleiche Eherechte für homosexuelle Paare, ein historischer Erfolg. Beide Bewegungen tragen dazu bei, dass die kommenden Parlamentswahlen die politische Krise des irischen Establishments weiter vertiefen werden – unabhängig vom genauen Ergebnis ist jetzt schon klar, dass Labour demütigende Verluste erleiden wird, Fianna Fail weiterhin in der Krise ist, und Sinn Fein, der das Establishment aufgrund ihrer historischen Verbindung mit der IRA und der aktuellen Anti-Kürzungs-Rhetorik misstraut, Erfolge erzielen wird. Entscheidend ist aber auch, dass eine ganze Reihe von wirklich linken ParlamentarierInnen gewählt werden können, darunter zahlreiche „Unabhängige“, die glaubhaft gegen das Establishment aufgestellt sind.
Wie ist der Zustand der Bewegung gegen die Wassergebühren?
Diese Bewegung war eine unglaubliche Explosion an Selbstorganisation der ArbeiterInnenklasse und führte zu einigen der größten Mobilisierungen seit Jahrzehnten. Die Anti Austerity Alliance [Bündnis gegen Kürzungen, AdÜ], zu der die irische Schwesterorganisation der SAV, die Socialist Party, gehört, hat die „We won’t pay“-Kampagne [Wir zahlen nicht, AdÜ] ins Leben gerufen, um beim Aufbau eines organisierten Massenboykotts zu helfen, der als Grundstein für den Aufstand gegen diese neoliberale Gebühr dient. Diese Initiative war nötig, weil die breitere Kampagne „Right2Water“, in der auch Sinn Fein und einige Gewerkschaften sind, sich weigerte, einen Boykott mitzutragen. Sinn Fein weigert sich auch weiterhin, dies zu tun, weil sie sich auf die Regierungsbeteiligung vorbereiten – ihr Vorsitzender Gerry Adams hat wiederholt Offenheit für eine Koalition mit Fianna Fail signalisiert. Aber mehr als die Hälfte aller irischen Haushalte beteiligt sich am Boykott, auch wenn es in den letzten Monaten weniger Großproteste gegeben hat. Die Anti Austerity Alliance und andere AktivistInnen aus diesem Feld nutzen auch die aktuelle Wahlkampagne, um die Bewegung weiterzubringen.
Die Volksabstimmung über gleiche Eherechte für homosexuelle Paare war in den internationalen Schlagzeilen. Inzwischen ist der Kampf für das Abtreibungsrecht ein zentraler Punkt im Kampf gegen Unterdrückung. Was unternehmt ihr zu dem Thema?
Die Socialist Party hat 2013 eine neue feministische Gruppe, genannt ROSA, gegründet. ROSA ist nach Rosa Luxemburg benannt, steht aber auch [auf englisch] für die Begriffe Reproduktive Rechte, Unterdückung, Sexismus und Kürzungspolitik. Die Gruppe ist offen für jede/n, die/der ihr Anliegen unterstützt und aktiv werden will. ROSA ist an der Spitze der Bewegung für Abtreibungsrechte dabei. Wir haben zum Beispiel im Oktober 2015 einen „Bus der Abtreibungspille“ organisiert, mit dem wir das irische Abtreibungsverbot frontal herausgefordert haben: In Zusammenarbeit mit ÄrztInnen der niederländischen Organisation „Women on Web“ haben wir in dem Bus eine mobile Klinik eingerichtet und sind kreuz und quer durch Irland gefahren, wodurch zahllose Frauen Zugang zu sicheren, aber in Irland eben illegalen Abtreibungspillen bekamen. Unsere Genossin Ruth Coppinger, die auch für die Anti Austerity Alliance (AAA) im Parlament sitzt, fuhr im Bus mit. Die AAA wird die Forderung nach einer Volksabstimmung zugunsten der Abschaffung des achten Artikels der irischen Verfassung, der Abtreibungen verbietet, zu einem zentralen Thema des Wahlkampfs machen [„Repeal the 8th“ auf englisch, AdÜ]. Die AAA steht für das Recht der Frau selbst zu entscheiden – im Gegensatz zu allen anderen etablierten Parteien, eingeschlossen Sinn Fein.
Die AAA und die Socialist Party haben zur Zeit drei Parlamentsabgeordnete. Ihr habt einen Wahlblock mit einem anderen Anti-Kürzungs-Bündnis, der PBP (People before Profit, AdÜ), geschlossen. Was erwartet ihr für ein Ergebnis?
Die AAA wird auf einer gemeinsamen linken Wahlliste, genannt Anti Austerity Alliance – People Before Profit, antreten, um mindestens sieben Sitze zu bekommen und unter diesem Banner eine Parlamentariergruppe bilden zu können, die besondere Rechte hätte (z.B. mehr Redezeit). Damit würde sichergestellt, dass die Linke eine gute Vertretung im neuen Parlament hat. Der ArbeiterInnenklasse, der Jugend, der LGBT- und Frauenbewegung wäre damit sehr in ihren Kämpfen geholfen, und das Potential für die Bildung einer vereinten Kraft der Linken könnte besser genutzt werden, wenn diese Bewegungen sich entwickeln. Dann könnte auch der Kampf für eine Linksregierung aufgenommen werden, die die Herrschaft der 1 Prozent herausfordert, die Kürzungspolitik beendet, Kirche und Staat trennt sowie sich mit unseren Brüdern und Schwestern der ArbeiterInnenklasse überall auf dem Kontinent daran macht, ein sozialistisches Europa zu erkämpfen.