Mi 12.08.2015
Vorbemerkung: In der britischen “Labour Party” wird bis zum 10. September ein neuer Vorsitzender gewählt. Was anfangs noch wie klares Rennen für die rechten KandidatInnen in der Partei aussah, ist nun mit dem wachsenden Zuspruch für den alternativen Kandidaten Corbyn zu einem Kampf um die Ausrichtung und Zukunft der Partei geworden. Wir veröffentlichen Artikel der „Socialist Party“ (Schwesterorganisation der SLP und Sektion des CWI in England & Wales).
Große Beteiligung an den Anti-Austeritätsveranstaltungen im ganzen Land
von Steve Score
Die Kandidatur von Jeremy Corbyn für den Vorsitz der sozialdemokratischen „Labour Party“ in Großbritannien hat den gesamten Wahlgang durcheinandergebracht. Im Gegensatz zu den drei anderen Variationen eines Tony Blair, die für „Austerität light“ stehen, hat Corbyn den Nerv getroffen.
Eine große Zahl an jungen wie auch älteren Menschen, von denen viele bislang nicht Mitglied dieser Partei gewesen sind, haben sich von den Aussagen Corbyns, mit denen er sich gegen die Austerität richtet, begeistern lassen. Vergleichen lässt sich dies mit der gegen die Austerität gerichteten Stimmung, die im Zusammenhang mit dem Unabhängigkeitsreferendum in Schottland aufkam und zum Aufstieg der „Scottish National Party“ führte. Darüber hinaus lassen sich auch Parallelen zu den Millionen Menschen ziehen, die bei den letzten Parlamentswahlen in Großbritannien für die „Green Party“ gestimmt haben.
Umfragen deuten darauf hin, dass Jeremy Corbyn momentan tatsächlich vor seinen drei MitbewerberInnen um den Parteivorsitz der britischen Sozialdemokratie liegt. Von den Untergliederungen der Partei hat er die meisten Nominierungen bekommen. Ähnliches gilt für die Gewerkschaften, darunter auch die beiden größten des Landes, UNISON und UNITE. Es ist natürlich positiv, wenn eine Kandidat nominiert wird, der sich gegen die Austerität ausspricht, was darauf hindeutet, welcher Druck von unten ausgeübt wird. Im Falle von Dave Prentis, dem Generalsekretär von UNISON, spielten dabei zweifellos auch die Tatsache, dass die innergewerkschaftlichen Vorstandswahlen anstehen und die Notwendigkeit eine Rolle, sich diesbezüglich links geben zu müssen! Allein es reicht nicht, einfach nur den Kandidaten Corbyn zu nominieren. Wir müssen auch gegen die Austerität kämpfen, bevor es wieder zu Parlamentswahlen kommt. Dabei müssen die Gewerkschaften die Führung übernehmen und koordinierte Streikaktionen organisieren.
Die „Labour“-Vorstandswahlen enden am 10. September, und der rechte Parteiflügel wie auch die Medien leiten schon zur Angst-Kampagne über, indem sie versuchen, Einfluss auf die Stimmabgabe zu nehmen. Dabei sagen sie, dass „Labour“ nicht mehr wählbar wäre, wenn der neue Vorsitzende Jeremy Corbyn heißen würde. Chris Leslie, designierter Finanzminister im Schattenkabinett von „Labour“, war sich nicht zu schade zu behaupten, dass Corbyns wirtschaftspolitisches Programm die Armen belasten würde. Diese Aussage kommt nach Jahrzehnten der Austerität, die von Leslie unterstützt wird und von allen drei etablierten Parteien durchgeführt wurde und die Lebensbedingungen der Ärmsten vollkommen zerstört hat! Er sagt, dass eine Partei unter Corbyn „nicht diejenige sei, in die er eingetreten wäre“.
Das wirft die Frage auf, was geschehen wird, wenn Corbyn das Rennen tatsächlich für sich entscheidet! Er würde als Geisel der Parlamentsfraktion von „Labour“ beginnen, die von der Partei-Rechten dominiert wird. Bedauerlicher Weise hat er bereits gesagt, dass er sogar Anhänger des Blair-Kurses in sein Schattenkabinett aufnehmen wird. Dennoch würden sie alles daran setzen, ihn so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Die „Socialist Party“ hat Corbyn dazu aufgerufen organisiert dagegen vorzugehen und eine Konferenz für Gewerkschaften und die AnhängerInnen seiner Politik einzuberufen – egal, ob sie Mitglied der „Labour Party“ sind oder nicht! Wichtig ist es, eine Basis für sozialistische Ideen zu schaffen. Wir würden an einer solchen Konferenz teilnehmen wollen und die AnhängerInnen der „Trade Unionist and Socialist Coalition“ (TUSC; dt. „Gewerkschaftliches und sozialistisches Wahlbündnis“) aufrufen, dasselbe zu tun.
Es ist auch möglich, dass die Partei-Rechte verdrängt wird oder von selbst austritt. Das klingt aus einigen Kommentaren wie z.B. dem von Leslie heraus. Dies würde die Situation verändern und es entstünde tatsächlich Potential für eine neue Alternative zur Austerität.
Wenn Corbyn in den Wahlen unterliegt, bleibt die Notwendigkeit bestehen, eine solche Alternative zur Austerität für die Arbeiterklasse zu gründen. Wenn er zur Schaffung einer solchen Alternative außerhalb der „Labour Party“ aufrufen würde, dann würde das auf ein großes Echo treffen. Ein Beleg dafür sind die Reaktionen, die seine jetzige Kampagne hervorruft. Die „Socialist Party“ setzt ihre Unterstützung für und den Aufbau der TUSC fort und betrachtet diese als Schritt in Richtung des Aufbaus einer neuen Massen-Partei der Arbeiterklasse. Auf welche Weise sich diese herausentwickeln wird, ist noch nicht entschieden, aber die Wut der jungen Leute und der Menschen aus der Arbeiterklasse wird sich ihren Weg bahnen, um sich Gehör zu verschaffen und zu einer eigenen Stimme zu kommen.
Veranstaltung von Jeremy Corbyn in Liverpool
von Tony Mulhearn, „Socialist Party“ (Stadtverband Liverpool)
Seit Jahrzehnten hat das „Adelphi Hotel“ nicht mehr solche Menschenmassen erlebt, die durch sein Eingangsportal geströmt wären. Es war die größte politische Veranstaltung in Liverpool seit der Zeit von 1983 bis 1987, als der sozialistische Stadtrat gegen die Angriffe von Margaret Thatcher gekämpft hat. 1.200 Menschen drängten sich im großen Saal und weitere 600 bis 700, die dort keinen Platz mehr gefunden hatten, lauschten den Reden in angrenzenden Räumlichkeiten.
Die Zusammensetzung des Publikums führte den Versuch von Neil Kinnock (er war „Labour“-Vorsitzender, als o.g. Liverpooler Stadtrat aus der Partei ausgeschlossen und die Kürzungen der Konservativen durchgesetzt worden sind) ins Absurde, der die Legitimität von Corbyns Kandidatur in Frage stellen wollte. Kinnock hatte in der Tageszeitung „The Observer“ erklärt, dass „Militant“ (Vorläuferorganisation der heutigen „Socialist Party“) oder die Tageszeitung „The Daily Telegraph“ die „Labour Party“ mit „bösartigen“ Absichten infiltrieren und Jeremy Corbyn unterstützen würden. Das ist eine Frechheit und vollkommen falsch, wenn auch ein Standpunkt, der für seine Lordschaft nicht gerade ungewöhnlich ist.
In der Veranstaltung drängten sich Männer, Frauen und Kinder aus allen möglichen sozialen Schichten. Bei einigen handelte es sich zwar um Polit-Veteranen. Es waren aber auch hunderte dabei, die zuvor offenkundig noch nie an einer politischen Veranstaltung teilgenommen haben oder einer politischen Partei angehören. Ein Beleg dafür war die Anzahl an unverbrauchten Leuten, die eine Reihe von Fragen zur Politik von Jeremy Corbyn gestellt haben.
Junge Studierende, die wegen der Schulden, die ihnen drohen, außer sich sind, Menschen mit schlechten Arbeitsverträgen, AktivistInnen, die angesichts der hiesigen Bibliotheksschließungen schockiert sind, Menschen, deren Löhne so niedrig sind, dass sie von den SteuerzahlerInnen subventioniert werden müssen, Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen, die sich Sorgen um die Zukunft ihrer Branche machen und darunter leiden, dass ihre Löhne seit Jahren auf Eis liegen – sie alle betrachten Jeremy Corbyn als Volkstribun, der ihre Interessen vertreten wird.
Maßnahmen im Sinne der Arbeiterklasse
Jeremy Corbyn stellte in seiner Rede, die eine große Bandbreite an Themen umfasste, auch die Wiederherstellung des Gesundheitssystems NHS in Aussicht, das demnach voll und ganz in öffentliches Eigentum gehöre und kostenlos sein müsse. Er sprach von der Rückverstaatlichung von Bahn und Post, einem Ende der eingefrorenen Löhne im öffentlichen Dienst, kostenloser Bildung von der Kita bis zur Hochschule, einer Aufhebung des Atomwaffenprogramms „Trident“ und der Rücknahme der gewerkschaftsfeindlichen Gesetze.
Nach Jahrzehnten der Angriffe auf die Arbeitslöhne, das „soziale Netz“ und die Gewerkschaften, die nicht gerade auf ernstzunehmenden politischen Widerstand gestoßen sind, erntete diese Rede tosenden Beifall. Die Begeisterung, Energie und die ganze Dynamik, die zu spüren war, ließ Erinnerungen an das Ausmaß der Kampagne wach werden, die in den 1980er Jahren von den StadträtInnen angeführt wurde, die als die „Liverpool 47“ bekannt geworden sind.
Corbyn bot einen Bezugspunkt für all die, die miterleben müssen, wie die Standards nur nach unten gehen, während das Vermögen der Hedge Fonds-Manager, der Bankiers und anderer ausgewählter Geschäftemacher, die die Wirtschaftskrise zu verantworten haben und die die „Tory Party“ finanzieren, spektakuläre Ausmaße erreicht haben. Die ganze Leidenschaft, mit der die gegen die Austerität gerichteten Aussagen von Corbyn begrüßt wurden, ähnelte einem Damm, der unter dem Druck eines vor Wut kochenden Kessels zum Bersten gebracht wird. Diese Wut verspüren Millionen von Menschen aus der Arbeiterklasse.
Das Signal war eindeutig: Wir wollen keine weitere Austerität – weder von den „Bullingdon boys“ (elitär-konservativer Männerbund; Anm. d. Übers.) noch von falschen Parlamentariern, die sich als Vertreter der Arbeiterklasse ausgeben und in Wirklichkeit aber die Ausgabendeckelung der konservativen „Tories“ akzeptieren. Jede Erwähnung des „Blairismus“ erregte beim Publikum lauten Abscheu.
Grundlegend anders
Ein ganz wesentlicher Aspekt der Veranstaltung war, dass sie an keiner Stelle wie eine Veranstaltung der „Labour Party“ war. Es war eine Veranstaltung, die für eine Politik stand, die ganz im Gegensatz zu der von „New Labour“ steht. Der Charakter von „Labour“ wird unterdessen vom Schatten-Finanzminster der britischen Sozialdemokraten, Chris Leslie, zusammengefasst, der – nachdem er seinen Parlamentssitz verlor – 2005 zum Vorsitzenden des „New Local Government Network“ wurde, das vom „Local Government Chronicle“ als eine „Denkfabrik à la Tony Blair“ bezeichnet wird.
1997 wurde er zum ersten Mal ins Parlament gewählt, damals auf der Anti-Tory-Welle, von der Blair einst profitierte. Was den „Austerität light“-Ansatz von „Labour“ angeht, so kann er sozusagen auf eine einwandfreie Bilanz verweisen. Er hat erklärt, einem Kabinett unter Corbyn nicht angehören zu wollen, da eine Partei unter einem Vorsitzenden namens Corbyn „eine völlig andere politische Partei“ wäre als die, in die er einmal eingetreten sei.
Dies ist ein Beleg für die Degenerierung der „Labour Party“ in einen Zufluchtsort für Leute, die ihre politische Karriere im Blick haben. Menschen, denen die Vertretung der Arbeiterklasse am Herzen liegt, findet man hier eigentlich nicht mehr. Der rechte Parteiflügel und seine ihm treuen Medien werden alles tun, was sie können, um die Vorstandswahlen zu sabotieren und einen Sieg Jeremy Corbyns zu verhindern.
Was immer auch das Ergebnis sein wird: Der Prozess hat begonnen, um in den Wochen und Monaten, die vor uns liegen, eine neue Massenpartei der Arbeiterklasse aufzubauen. Unter Beibehaltung unserer unabhängigen Position werden wir als „Socialist Party“ darauf vorbereitet sein, bei dieser Aufgabe mitzuhelfen.
Unterdessen ziehen auch britische Zeitungen die Presseerklärung der „Socialist Party“ in ihre Berichterstattung mit ein: