Großbritannien: Brexit-Chaos

Theresa May erleidet historische Niederlage bei Parlamentsabstimmung
Christian Bunke (der Artikel erschien vormals in der Zeitschrift LUNAPARK21)

Vorgestern hat das britische Unterhaus den Brexit-Deal zwischen der Regierung von Theresa May und der EU mit überwältigender Mehrheit abgelehnt und damit ein neues Kapitel im Brexit-Chaos eröffnet. Der Labour-Vorsitzende hat einen Misstrauensantrag gegen die Premierministerin May angekündigt und die zukunft der Tory-Regierung hängt an einem seidenen Faden.

Die Socialist Party (Schwesterorganisation der SLP in England und Wales) fordert Neuwahlen und ruft Jeremy Corbyn auf, den Kampf für eine Labour-Regierung mit sozialistischem Programm aufzunehmen. Ein aktueller Artikel in englischer Sprache dazu findet sich hier.

Darin heißt es unter anderem: „Corbyns ‚rote Linie‘ für einen Brexit sollte Opposition gegen alle neoliberalen, pro-kapitalistischen Regeln sein. Er sollte fordern, dass verhandlungen wieder aufgenommen werden auf der Basis von Opposition gegen alle Regeln eines Binnenmarktes und einer Zollunion, die sich gegen die Interessen der Arbeiterklasse richten – wie diejenigen zu Staatshilfen, ‚Marktliberalisierungen oder die vorgesehene Arbeitnehmerrichtlinie.“

Die Socialist Party fordert:

* Nein zum Brexit-Deal von Mays Tories

* Schluss mit Austerität – Tories raus, labour rein!

* Für eine sozialistische Alternative zur EU der Bosse

* Schmeißt die (rechten, A.d.Ü.) Blairite Saboteure (aus labour, A.d.Ü.) raus

* Verstaatlicht die Banken und großen Monopole

* Für eine neue Zusammenarbeit der Völker Europas auf sozialistischer Grundlage

 

Der Brexit: Ein Symptom des wachsenden kapitalistischen Chaos.

„We‘re in the Brex-shit“ titelte das britische Boulevardblatt „Sun“ als der Entwurf des zwischen EU und Großbritannien ausgehandelten Austrittsvertrages endlich auf dem Tisch lag. Diese durch und durch reaktionäre Zeitung hat in ihrer Geschichte immer ein besonderes Talent gehabt: Nämlich mit Überschriften Stimmungslagen zusammenzufassen.

Und die obige Überschrift trifft auf viele der am Brexit-Drama beteiligten Fraktionen zu. Der Brexit entblößt gleich mehrfache miteinander verschränkte Krisenprozesse. Da sind zum einen die zunehmenden Schwierigkeiten der EU selbst. Wo man hinschaut, es hakt einfach überall. Die Interessen der Großmächte Deutschland und Frankreich sind immer schwerer unter einen Hut zu bringen. Politische Instabilität im Inneren hat längst beide Länder erreicht. In Frankreich waren die Proteste der Gelbwesten der jüngste Ausdruck, in Deutschland kann man dass an den andauernden Unstimmigkeiten innerhalb der großen Koalition festmachen. Hinzu kommt, dass budgetpolitische Gründungsdogmen der EU unter Druck stehen. Italien möchte die Staatsausgaben erhöhen und Frankreich musste den Gelbwesten Zugeständnisse machen.

Der Kapitalismus zeigt sich auf weltpolitischer Ebene in brennenden Fragen zunehmend handlungsunfähig. Das trifft auf die Klimakrise zu, und wird auch auf die kommende Weltwirtschaftskrise zutreffen deren erste Anzeichen gerade überall sichtbar werden. Phänomene wie der Brexit sind auch Ergebnisse der Wirtschaftskrise von 2007/8. Eine neue Wirtschaftskrise wird noch stärkere Fliehkräfte dieser Art entfalten.

Brexit als Krisenprotest

Hauptursache des Entschlusses einer knappen Mehrheit der britischen Bevölkerung für den Brexit zu stimmen waren die durch Wirtschaftskrise und Jahrzehnte neoliberaler Politik verursachten sozialen Verwerfungen. Großbritannien ist heute ein Land, in dem zehntausende Kinder hungrig zu Schule gehen weil die Eltern nicht genug Geld haben um ihnen ein Frühstück auf den Tisch zu stellen. Ein Land, dessen Sozialpolitik von einem im Herbst erschienenen UN-Bericht als „bewusst unmenschlich“ gebrandmarkt worden ist. Ein Land, in dem 120.000 Kinder obdachlos sind und 80.000 Haushalte nicht wissen, ob sie mittelfristig ein Dach über den Kopf haben werden.

Das Brexit-Votum war vor allem ein Protest gegen diese Zustände. Ein Ergebnis dieses Votums war, dass die politische Klasse nun selbst in einer Krise steckt aus welcher es kein Zurück gibt. Selbst Versuche, die Lage irgendwie zu kitten führen zu neuen Verwerfungen. Das lässt sich beispielhaft am Entwurf des EU-Austrittsvertrages festmachen. Seine Intention ist es, Großbritannien in den kommenden Jahren so nahe an der EU wie möglich zu halten. Doch gerade diese Intention hat alle möglichen Spannungen erzeugt, welche sowohl die regierende Konservative Partei als auch das Vereinigte Königreich selbst in ihrer Existenz bedrohen. Und auch für die EU beinhaltet der Vertrag Fallstricke.

Diese Fallstricke sind von Geoffrey Cox, dem Generalanwalt der britischen Regierung präzise herausgearbeitet worden. Im Auftrag von Premierministerin Theresa May hat er den Vertragsentwurf analysiert. Die Sprengkraft dieser Analyse war derart, dass die britische Regierung nichts unversucht ließ um eine Veröffentlichung dieser Analyse zu verhindern. Es brauchte eine Revolte des britischen Unterhauses um die Veröffentlichung zu bewirken. Erstmals in der britischen Nachkriegsgeschichte hat ein Parlamentsbeschluss die amtierende Regierung der „Verachtung gegenüber dem Parlament“ beschuldigt. Das ist nur ein Aspekt der vielschichtigen, sich entwickelnden britischen Staatskrise.

Austrittsvertrag mit Fallstricken

Cox widmete sich insbesondere den Auswirkungen des Austrittsvertrages auf Nordirland. Zuerst betrachtete er diese aus britischer Perspektive um danach auf Probleme aus der Sicht der EU hinzuweisen. Insgesamt entsteht ein Bild eines Vertrages welcher versucht die Quadratur des Kreises herzustellen: Großbritannien soll sich EU-Regeln und Gesetzen unterwerfen, gleichzeitig aber als Drittstaat behandelt werden.

Hier nun einige der von Geoffrey Cox herausgearbeiteten Punkte: Großbritannien als ganzes (einschließlich Nordirland) soll für eine Übergangsperiode eine Zollunion mit der EU bilden. Diese Zollunion wird aber für Nordirland und den Rest Großbritanniens jeweils unterschiedlich gehandhabt. Demnach bleibt Nordirland für die Dauer der Übergangszeit in der derzeit bestehenden Zollunion mit der EU. Die EU-Kommission und der Europäische Gerichtshof haben somit Gerichtsbarkeit über Nordirland. So sollen Güter zwischen Nordirland und der Republik Irland transportiert werden können, ohne dass eine EU-Außengrenze nötig wird. Gleichzeitig kann Nordirland während der Übergangsperiode Güter via der Republik Irland in die EU exportieren, ohne sich Kontrollen oder Zöllen zu unterwerfen wie sie normalerweise für Drittstaaten gelten würden.

Für den Rest Großbritanniens gilt dies in dieser Form nicht. Zwar soll zwischen der britischen Hauptinsel und Nordirland Zollfreiheit herrschen, in allen anderen Belangen werden die außerhalb Nordirland liegenden Teile Großbritanniens aber als ein Drittstaat behandelt. Somit stehen England, Wales und Schottland ab dem 29. März 2019, dem offiziellen Austrittsdatum, zwar nicht mehr unter der direkten Aufsicht der EU-Kommission und des Europäischen Gerichtshofes. Wollen diese Landesteile aber nach Nordirland exportieren, müssen sie sich dennoch an EU-Regularien und Einfuhrbedingungen halten. Das bedeutet, dass es für von der britischen Hauptinsel nach Nordirland exportierte Güter Inspektionen und Kontrollen durch Zollbeamte geben wird.

Würde der Austrittsvertrag so implementiert wie Cox dies hier beschreibt, würde dies eine Annäherung Nordirlands an die Republik Irland und im Umkehrschluss eine schleichende Entfremdung Nordirlands vom Rest Großbritanniens bedeuten. Gleichzeitig erhält Nordirland hier Privilegien wie sie Schottland nicht zugestanden werden. Während der Austrittsvertrag also Gift für nordirische Unionisten ist, ist er gleichzeitig für auf den europäischen Exportmarkt schielende Industrielle in Schottland problematisch. Deshalb sind sowohl nordirische unionistische Parteien als auch die schottische Unabhängigkeitspartei SNP gegen den Vertragstext.

Bollwerk gegen linke Politik

Cox wendet sich nun der Frage staatlicher Beihilfen zu. Hier geht es darum, ob der Austrittsvertrag beispielsweise die Stützung der britischen Stahlindustrie oder die Verstaatlichung von öffentlichen Dienstleistungen erlauben würde. Cox ist ein Tory. Weder er noch Premierministerin May würden dergleichen tun wollen. Doch die Brexit-Verwerfungen könnten einen Jeremy Corbyn an die Macht spülen, dessen Wahlprogramm sehr wohl Verstaatlichungen vorsieht.

Der Generalanwalt macht in seinen Einschätzungen deutlich, dass eine Regierung mit Corbynscher Programmatik Probleme mit der EU bekommen würde. Denn der Austrittsvertrag sieht die Schaffung „unabhängiger Institutionen“ vor welche von Vertretern der EU und Großbritanniens besetzt werden sollen. Diese „Institutionen“ haben die Autorität, EU-Recht gemeinsam mit britischen Gerichten und der EU-Kommission in Großbritannien für die Dauer des Austrittsvertrages durchzusetzen. EU-rechtswidrige staatliche Beihilfen würden, so Cox, zu „Aktionen“ der EU-Kommission in diesem Sinne führen. Hier sind ähnliche Szenarien wie in Griechenland unter der Syriza-Regierung angelegt. Die EU könnte selbst nach einem formalen Austritt Großbritanniens zu einem Instrument werden um einen linken Politikwechsel zu verhindern.

Cox spricht in seiner Analyse davon, dass das Austrittsabkommen eine „potentiell unendliche Gültigkeitsdauer“ hat. Zwar geht der Vertragstext von der Notwendigkeit der Aushandlung von Folgeabkommen aus. Allerdings warnt Cox davor, dass im Austrittsabkommen bereits Vorbedingungen für ein erfolgreiches Folgeabkommen festgelegt sind. Dazu gehören offene Grenzen zwischen Nordirland und der Republik Irland. Offene Grenzen zwischen der EU und Drittstaaten sind aber eigentlich nicht vorgesehen, wie man am Umgang mit Flüchtlingen im Mittelmeer gut erkennen kann. Die Irlandfrage bleibt also ungelöst.

Dies führt Cox zu einer weiteren Schlussfolgerung. Er analysiert, dass die oben beschriebenen Grenzregelungen für Nordirland laut Austrittsvertrag so lange bestehen bleiben bis ein neuer Vertrag beschlossen wird. Kommt es aufgrund der komplexen Lage zu keinem neuen Vertrag, behält der Austrittsvertrag seine Gültigkeit. Cox verweist darauf, dass ein Ausstieg aus dem Vertrag nach seiner Ratifizierung nur „durch gemeinsamen Konsens“ möglich ist. Man braucht sich nur den bisherigen Verhandlungsverlauf anzuschauen um zu sehen, wie unwahrscheinlich ein solcher Konsens ist. Cox stellt außerdem fest: „Der derzeitige Vertragsentwurf bietet Großbritannien keine legale Möglichkeit um einseitig aus der Zollunion mit der EU auszutreten.“

Unzufriedene Kapitalfraktionen

Das hat im Herbst 2018 der US-amerikanische Präsident Donald Trump ähnlich analysiert. Er erklärte den Vertragsentwurf via Twitter zu einem „sehr guten Deal für die EU“. Damit brachte er den Unmut amerikanischer Kapitalinteressen zum Ausdruck, die sich durch den Brexit eine Öffnung des britischen Marktes für landwirtschaftliche und chemische Produkte sowie Zugang zum Gesundheitsmarkt erhoffen. Befürworter eines harten Brexits innerhalb der Konservativen Partei Großbritanniens lehnen den Vertragsentwurf auch deshalb ab: Sie wollen von zukünftigen Handelsverträgen mit den USA profitieren und sehen diese Pläne nun gefährdet.

In der Brexit-Debatte wie sie im politischen Mainstream und den meisten Medien geführt wird ist vor allem von den Risiken eines „harten“ Brexit die Rede. Ende des Jahres 2018 wurden diese Risiken auch vom britischen Finanz- und Großkapital noch einmal mit einem am 19. Dezember veröffentlichten offenen Brief aller großen Unternehmerverbände ins Feld geführt. Britische Unternehmen seien über den Zustand der Politik „verzweifelt“, ein harter Brexit würde zu „massiven“ Verlusten führen, so der Tenor. Gleichzeitig erhöhte die britische Regierung den Panikfaktor mit Ankündigungen, im Fall eines harten Brexit das Militär im Landesinneren mobilisieren zu wollen.

Tatsächlich bedeutet ein harter Brexit Disruption. Die Disruptionen durch einen „soften“ Brexit wie er zwischen britischer Regierung und der EU im Austrittsvertrag ausgehandelt wurde werden jedoch kaum thematisiert. Das gleiche gilt für die sozialen Ursachen des Brexit. Als sich Theresa May im Dezember 2018 einem Misstrauensantrag aus ihrer eigenen Fraktion stellen musste, sagte Oppositionsführer Jeremy Corbyn: „Der Ausgang dieser Abstimmung ist für die Menschen in unserem Land völlig irrelevant“. Das stimmt. Während die Eliten streiten hungern die Kinder. Auf kapitalistischer Grundlage wird weder der „harte“ noch der „softe“ Brexit daran etwas ändern.