Mi 21.09.2022
Die Ermordung der jungen Kurdin Zhina (Mahsa) Amini durch die "Sittenpolizei" im Iran hat eine neue mutige und explosive Bewegung von unten ausgelöst, die die Herrschaft der Mullahs und des Regimes herausfordert, während gleichzeitig Präsident Raisi bei der UN-Generalversammlung in New York begrüßt wird. Wir sind solidarisch mit allen mutigen Frauen, Arbeiter*innen und Jugendlichen, die ihr Leben riskieren, weil sie auf die Straße gehen und „Tod dem Diktator“, „Tod dem Unterdrücker - ob Schah oder (Religions)Führer“ [gemeint ist der Religionsführer Ali Chamenei, Anm. d. Übers.] und "Frauen, Leben, Freiheit" rufen. Es gibt keine Worte, die die Traurigkeit und die Wut beschreiben können, die in unseren Köpfen und Herzen existieren. Wir müssen diese Trauer und Wut in eine koordinierte Aktion der Solidarität mit unseren Schwestern und Brüdern im Iran, in Kurdistan und in der gesamten Region umsetzen. Wir sprechen der Familie, den Verwandten und Freund*innen von Zhina unser tiefstes Beileid aus, und werden als ISA und ROSA international helfen, diese Art von internationalen Protesten und Aktionen zu organisieren und auszuweiten.
Zhina wurde von den brutalen Handlangern des Regimes zusammengeschlagen und starb, nachdem sie drei Tage lang im Koma lag. Im Iran werden täglich Frauen wegen ihrer Kleidung verhaftet und geschlagen. Dies ist ein weiteres Beispiel für die brutale staatliche Gewalt und ihre Verknüpfung mit tief sitzender Frauenfeindlichkeit und Frauenmorden. Deshalb war der erste Gedanke vieler: Das hätte mich treffen können, meine Tochter, meine Schwester, meine Freundin. Auf der Straße von religiösen Männern, der "Sittenpolizei" oder anderen belästigt oder angegriffen zu werden, weil man eine Frau ist, ist eine Erfahrung die viele im öffentlichen wie privaten Bereich machen. Wer einmal verhaftet wird, weiß nie, was mit einem geschieht. Es ist nicht das erste Mal, dass Frauen während der Haft oder unter Folter getötet werden. Im Laufe seiner Geschichte hat das mörderische Regime verzweifelt versucht, diese Morde als Herzinfarkte, Selbstmorde oder ähnliches darzustellen. Diesmal jedoch hat es zu weit verbreiteten Protesten in verschiedenen Formen geführt - von Sitzstreiks bis zu Streiks, von Demonstrationen an den Universitäten bis zu Protesten vor den Polizeibehörden.
Die Ermordung von Zhina war weder ein Unfall noch das Ergebnis eines Fehlers einzelner Polizeibeamter. Dieser Mord ist eine Fortsetzung der systematischen, frauenfeindlichen und repressiven Politik, die das islamische Regime seit seiner Machtübernahme verfolgt. Seit mehr als vier Jahrzehnten haben Frauen und unterdrückte ethnische Gruppen wie Kurd*innen für die Verteidigung ihrer grundlegendsten Menschenrechte einen hohen Preis mit ihren Körpern und ihren Leben bezahlt. Durch ihren Widerstand gegen den Zwang zum Hidschab (Kopftuch, Anm.) riskieren einige von ihnen regelmäßig ihr Leben, um die freie Entscheidung über ihren Körper zu fordern. Das Regime versucht jetzt, die Bewegung und die aktuellen Streiks zu brechen. In den kurdischen Gebieten beispielsweise hat es zu massiver Repression gegriffen die sogar Todesopfern bei den Demonstrationen zur Folge hatten. Doch die weit verbreitete und tiefe Wut der Menschen kann jetzt nicht mehr zum Schweigen gebracht werden. Zhina wurde in einer Situation getötet, in der sich das Regime inmitten mehrerer Krisen befindet - Inflation, wachsende Armut und explodierende Preise, die Frauen noch härter treffen. Die Mullahs befinden sich in einer tiefen Legitimationskrise und gefährden mit jedem Schritt ihre Herrschaft, wie wir während der gesamten Pandemie mit wachsenden Protestwellen und Streiks von Lehrer*innen bis zu Ölarbeiter*innen, von Pfleger*innen bis zu Busfahrer*innen gesehen haben. Die Menschen haben genug - und wieder einmal sind es die Frauen, besonders kurdische, und Jugendliche, die an vorderster Front kämpfen, um die Herrschaft dieser islamistischen Mörder zu beenden. Sie waren es immer, die die ersten Schritte zum Aufbau einer Bewegung unternommen haben, um ihre eigenen Rechte sowie die Befreiung der Arbeiter*innenklasse zu fordern und die revolutionäre Bewegung vor über 40 Jahren anführten, die verraten und gestohlen wurde.
Das Regime ist sich dieser Macht sehr wohl bewusst und hat in den letzten Wochen und Monaten versucht, Frauen, LGBTQI+ und Jugendliche noch brutaler zu unterdrücken, wie wir an dem schrecklichen Todesurteil gegen Zahre Sedighi und Elham Choobdar (2 LGBTQI+ Aktivist*innen, Anm.) gesehen haben. Doch die Bewegung hat nun das Potenzial, sich noch stärker auf das ganze Land und die gesamte Region auszudehnen; wie wir wissen, haben Frauen bei den jüngsten Aufständen vom Libanon bis zum Irak eine Schlüsselrolle gespielt. Nicht nur in Zhinas Heimatstadt und in dieser Region legen Frauen den Hidschab ab, sondern auch bei Protesten, die sich bis nach Teheran und Isfahan sowie in den Irak ausgebreitet haben. Die Sicherheitskräfte wollten die Familie zwingen, ihre Tochter nachts zu beerdigen, aber sie haben sich geweigert. Die Trauerfeier hat sich zu einem lauten Protest entwickelt, der diese Welle ausgelöst hat. Auf Zhinas Grab steht in kurdischer Sprache: "Zhina, du stirbst nicht, dein Name wird zum Symbol".
Der Kampf gegen den Zwangshidschab und die islamistische Kleiderordnung ist eng mit dem Kampf gegen das gesamte Regime und das kapitalistische System im Iran und auf internationaler Ebene verknüpft. Wie wir weltweit sehen, müssen die Herrschenden in Krisenzeiten die Körper und das Leben der Frauen noch mehr kontrollieren. Das iranische Regime braucht die brutale Unterdrückung von Frauen durch religiöse Gesetze und Gewalt, um die Geschlechterrollen und die massive Ausbeutung von Frauen im Haushalt aufrechtzuerhalten. Während westliche Politiker*innen, der US-Imperialismus usw. versuchen, den Tod von Zhina für ihre eigene Agenda zu instrumentalisieren, ist es absolut klar, dass man diesen Kräften nicht vertrauen kann. Unser Leben und unsere Körper werden durch Kleidervorschriften und Abtreibungsverbote, durch die Explosion von geschlechtsspezifischer Gewalt und Femiziden, durch Armut und Hunger kontrolliert. Imperialistische Kräfte haben die ganze Region in Krieg und Zerstörung gestürzt und bedrohen das Leben von Frauen, indem sie zum Aufstieg rechtsgerichteter islamistischer Kräfte wie in Afghanistan, im Irak oder in Syrien beigetragen haben, aber auch durch ihre Sanktionen im Iran, die nicht die superreichen Mullahs treffen, sondern die Arbeiter*innenklasse und die Armen, und insbesondere die Frauen. Außerdem machen sie alle den Herrschern des erzreaktionären Saudi-Regimes den Hof, dessen Behandlung von Frauen ebenso verabscheuungswürdig ist - sie haben beispielsweise gerade erst jahrzehntelange Haftstrafen gegen Aktivist*innen verhängt, nur weil diese ihre Meinung in den sozialen Medien gepostet haben. Diese politischen Kräfte sind nicht an einer wirklichen Freiheit und Befreiung der breiten Bevölkerung interessiert. Deshalb kann das Regime nur durch die Macht der Frauen, Arbeiter*innen, aller Unterdrückten und der Armen im Iran und ihre unabhängige Aktion und Organisation gestürzt werden.
Um zu erreichen, dass die Mörder von Zhina zur Rechenschaft gezogen werden, müssen wir den Kampf gegen das gesamte Regime aufnehmen. Kämpfen wir für ein Ende des Zwangshidschab und für das Recht der Frauen, zu tragen, was sie wollen, für die Abschaffung aller frauenfeindlichen Vorschriften und Gesetze und das Ende aller Formen der Diskriminierung von unterdrückten Gruppen und Minderheiten. Wir müssen für das Recht auf Versammlungs- und Organisationsfreiheit und die Freiheit aller politischen Gefangenen kämpfen. Für ein menschenwürdiges Leben, Sicherheit, Arbeitsplätze und Löhne, für die Unabhängigkeit der Frauen in allen Lebensbereichen. Diese Forderungen stehen in scharfem Gegensatz zu den Zielen und Sachzwängen des Regimes, aber auch seiner westlichen Partner wie Gegner. Wir sind der festen Überzeugung, dass diese Forderungen durch die Einheit, die Solidarität und den unabhängigen Kampf der Arbeiter*innenklasse mit den Frauen und Unterdrückten an der Spitze erreicht werden können.
Ein solcher Kampf hat das Potenzial, den Kampf gegen den tief sitzenden Sexismus, die Gewalt und die Diskriminierung aufzunehmen. Das Regime hat die brutale Diskriminierung des kurdischen Volkes wie auch anderer Minderheiten stets dazu benutzt, zu spalten und zu herrschen. Die kurdische Arbeiter*innenbewegung und die radikale Frauenbewegung und ihr kämpferischer Charakter sind daher eine ganz besondere Bedrohung für sie. Deshalb muss der Streikaufruf, der von den kurdischen Arbeiter*innenorganisationen kam, von der gesamten iranischen Arbeiter*innenklasse aufgegriffen werden. Er muss ausgeweitet werden, um Aktionskomitees in allen Schulen, Universitäten, Arbeitsplätzen und Stadtvierteln aufzubauen. Zeigen wir, dass die iranische Arbeiter*innenbewegung nicht von dem Kampf aller Unterdrückten getrennt werden kann - es ist derselbe Kampf gegen denselben Feind. Diese Art von Solidarität ist notwendig, um die nationale und ethnische Spaltung, die Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen und sexuelle Minderheiten zu überwinden. Das Gleiche gilt für die internationale Arbeiter*innenbewegung, die unmittelbar eine internationale Solidarität von unten als Alternative zur Heuchelei des westlichen Imperialismus und ihres liberalen Feminismus aufbauen muss. Die jüngsten Streikaktionen in einer Reihe von Städten und Regionen im Iran haben das Potenzial für eine starke, demokratisch organisierte und koordinierte Arbeiter*innenklasse aller Ethnien und Geschlechter gezeigt, die die Macht hat, die Herrschaft der Mullahs zu beenden, Präsident Raisi, Ali Khamenei und das gesamte Regime zu stürzen, die Gesellschaft und die Wirtschaft in die eigenen Hände zu nehmen und für ein demokratisches, sozialistisches System zu kämpfen, das Freiheit, Gleichheit und körperliche Autonomie garantiert.