Mi 10.03.2021
1992 sang die zehnjährige Britney Spears eine eindrucksvolle Version von „Love Can Build a Bridge“ (von The Judds). Der Moderator, Ed McMahon, der sie danach interviewt, äußert sich zu ihren „hübschen Augen“ und fragt sie, ob sie einen Freund habe. Britney, bei der dies sichtlich Unbehagen auslöst, lächelt daraufhin höflich und wählt ihre Worte mit Bedacht, während sie vor einem großen Publikum versucht, eine Antwort zu finden. Es ist eine Situation, die den meisten Frauen* und Mädchen* bekannt vorkommen wird – in die Position gezwungen zu sein, die Emotionen eines erwachsenen Mannes angesichts unangebrachter Kommentare zu managen – und eine Begegnung, die charakteristisch für Spears’ Karriere werden sollte. Demgegenüber wurde ihr 12-jähriger männlicher Kontrahent gefragt, wie es sei, auf einer Farm aufzuwachsen.
Der kürzlich erschienene Dokumentarfilm Framing Britney Spears dokumentiert die #FreeBritney-Bewegung und verfolgt Spears’ Karriere und die Ereignisse, die zu der Vormundschaft führten, der die 39-jährige Performerin und Künstlerin derzeit ausgesetzt ist. Er zeichnet den Werdegang des Superstars nach, vom bodenständigen, temperamentvollen Teenager zu einer jungen Frau, die von den kapitalistischen Medien schikaniert, gejagt und an den Rand des Nervenzusammenbruchs getrieben wurde.
Systemimmanenter Sexismus
Eines der eklatanten Merkmale des Filmmaterials, das Spears’ Aufstieg zum Ruhm dokumentiert, ist die unverhohlene Sexualisierung und Objektifizierung des jungen Stars seit dem Alter von nur 16 Jahren. Angefangen beim sexualisierten Schulmädchen-Outfit von „Hit Me Baby One More Time“ bis hin zu Interviews und Pressekonferenzen, bei denen Moderator*innen, oft Männer, die mehr als doppelt so alt sind wie sie, den Teenager über ihre Brüste, Küsse mit Jungs, ihre Outfits und ihre Jungfräulichkeit befragen. Britney wird durch ihre Plattenfirma und die kapitalistischen Medien hyper-sexualisiert, was durch eine mediale Besessenheit hinsichtlich ihrer Jungfräulichkeit konterkariert wird. All das macht die Falle deutlich, in die alle Frauen* und Mädchen* auf die ein oder andere Weise geraten: Sie sollen sexy sein, aber nicht sexuell. Das stellt einen unmöglichen, fragilen Drahtseilakt dar, bei dem das gesellschaftlich akzeptierte Gleichgewicht ständig außer Reichweite liegt.
Die Sexualisierung und Objektifizierung von Britney Spears ist deshalb keine Ausnahmeerscheinung oder ein einmaliges Ereignis, das nur von einer einzelnen Person erlebt wurde. Vielmehr macht die Erfahrung von Spears das breitere gesellschaftliche Problem der Objektifizierung aller Frauen und Mädchen in der kapitalistischen Gesellschaft deutlich. Objektifizierung bedeutet die Herabsetzung von Menschen auf den Stellenwert von bloßen Dingen, ein Prozess der Entmenschlichung. In der heutigen kapitalistischen Gesellschaft wird Objektifizierung von Frauen* vor allem durch die Fixierung auf ihr Äußeres betrieben. Diese schädliche Ideologie wird durch Werbung, Fernsehen, Zeitschriften, Musik, Filme usw. verbreitet, die alle eine Rolle dabei spielen, dieses Problem zu normalisieren und zu verbreiten.
Objektifizierung für den Profit
Doch welchen Nutzen hat die Objektifizierung von Frauen* für Kapitalist*innen? Ganze Industrien sind aus der Ausbeutung von Frauen durch Objektifizierung hervorgegangen. Der globalen Schönheitsindustrie wird bis 2026 ein Wert von 438,38 Milliarden Dollar prognostiziert, während die globale Pornoindustrie, einseitige Vorstellungen von “Schönheit” verbreitend, einen jährlichen Wert von 97 Milliarden Dollar erwirtschaftet. Eine Fülle anderer Industrien profitiert von dieser Objektifizierung: darunter die Mode-, TV-, Film-, Einzelhandels-, Massenmedien- und Social-Media-Industrie.
Wenn die Objektifizierung Frauen als Menschen abwertet, entwertet sie auch die von ihnen ausgeübten Tätigkeiten. Dies gilt insbesondere dann, wenn diese mit Frauen* in Verbindung gebracht werden, z. B. Haus- und Pflegearbeit, die von Frauen* in überwältigender Mehrheit unentgeltlich geleistet wird und der Weltwirtschaft laut einem Oxfam-Bericht von 2018 jährlich 10 Billionen Dollar erspart. Am Arbeitsplatz bedeutet dies eine geringere Entlohnung für Frauen*, was einen klaren Vorteil für die Arbeitgeber*innen mit sich bringt.
Entmenschlichung führt zu Gewalt
Welchen Preis zahlen Frauen* und Mädchen* noch für diese Objektifizierung? Objekte sind nicht menschlich; sie sind Gegenstände, die nach Belieben benutzt und weggeworfen werden können. Wenn Frauen* und Mädchen* in der Gesellschaft routinemäßig zu Objekten gemacht werden, wirkt sich das auf die Art und Weise aus, wie sie gesehen und letztlich behandelt werden. Dies wird in der medialen Berichterstattung über Spears deutlich. Beispielsweise konzentrierten sich Publikationen und Moderator*innen auf ihr Äußeres und ihre vermeintliche Sexualität – zu Ungunsten ihres immensen Talents, ihrer Persönlichkeit und ihrer Menschlichkeit. Auch dies wiederholt sich in der gesamten Gesellschaft, wobei Frauen* aus der Arbeiter*innenklasse, LGBTQ*, Migrantinnen, Frauen of Color, Sintiza und Romnja und Frauen* mit Behinderungen am stärksten darunter leiden.
Objektifizierung und ihre entmenschlichenden Auswirkungen ebnen den Weg für Gewalt. 2019 berichtete Women's Aid, dass seit 1996 in Irland 230 Frauen* gewaltsam zu Tode gekommen sind – 87 % von ihnen wurden von einem ihnen bekannten Mann* getötet. Sage und schreibe jede dritte Frau* weltweit hat in ihrem Leben körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt. 60 % der Frauen erleben wahrscheinlich Belästigungen am Arbeitsplatz und 71 % wurden in der Öffentlichkeit unerwünscht berührt oder betatscht. Hinzu kommt, dass Frauen* routinemäßig unerwünschte Aufmerksamkeit, unangebrachte Bemerkungen und andere „mildere" Formen von Sexismus erleben, oft auf täglicher Basis.
Der Tribut, den Frauen* und Mädchen* im Laufe ihres Lebens für solche Erfahrungen zahlen müssen, ist enorm. Die Auswirkungen von unrealistischen Schönheitsstandards, Gewalt, Belästigung und die gesellschaftliche Verharmlosung der Erfahrungen von Mädchen* und Frauen* haben einen verheerenden Einfluss auf die psychische Gesundheit. Während Männer* bei Suizidversuchen mit höherer Wahrscheinlichkeit sterben, ist der Anteil der Frauen* und Mädchen*, die einen Suizidversuch unternehmen, höher. Im Jahr 2016 lag die Wahrscheinlichkeit, sich selbst zu verletzen, bei Frauen* und Mädchen* um 24 % höher. Zudem leiden sie unter einem geringen Selbstwertgefühl, Depressionen, Angstzuständen, Essstörungen und traumabedingten psychischen Problemen. All diese Faktoren schränken die Möglichkeit von Frauen* ein, sich frei in der Welt zu bewegen und wirken sich negativ auf ihre Lebensqualität aus.
Wir nehmen es nicht mehr hin
Trotz allem gibt es auch positive Aspekte, die sich aus der aktuellen Diskussion um die Behandlung von Britney Spears ergeben. Seit den späten 1990er und 2000er Jahren hat es einen deutlichen Wandel der Einstellungen gegeben. Viele junge Menschen und solche, die mit Spears aufgewachsen sind, blicken mit Entsetzen auf die Hyper-Sexualisierung des Stars und ihre Behandlung durch die Medien zurück. Haltungen, die damals komplett normalisiert waren, werden von einem großen Teil der jungen Menschen, die jetzt die #FreeBritney-Bewegung unterstützen, komplett abgelehnt. Neue Generationen werden aktiv und organisieren sich gegen sexistische Vorstellungen und Unterdrückung, was sich auch im Aufstieg der #MeToo-Bewegung zeigt.
Die Tatsache, dass sich die Einstellungen in so kurzer Zeit verändert haben, ist ein Beweis für die Stärke der massenhaften Organisierung und zeigt das Potenzial für zukünftige Kämpfe gegen die derzeitige Ausrichtung der Gesellschaft auf den Profit, zum Schaden der Menschheit. Als Sozialist*innen verstehen wir, dass patriarchale Strukturen und Ideologien Werkzeuge sind, die der Kapitalismus nutzt, um Ungleichheit aufrechtzuerhalten und zu rechtfertigen. Deshalb erfordert der Kampf gegen dieses repressive System ein umfassendes Verständnis von sowie ein Zurückdrängen der Unterdrückung von Frauen und allen Minderheiten als ein zentrales Merkmal unserer Organisierung mit dem Rest der Arbeiter*innenklasse.