Mo 29.08.2022
Dieser Artikel wurde ursprünglich am 26. Juli auf der Homepage unserer Internationale, International Socialist Alternative (ISA, International Socialist Alternative) veröffentlicht.
Der Krieg in der Ukraine geht nun in den sechsten Monat. Ganze Städte wie Mariupol und Sewerodonezk wurden ausgelöscht. Tausende von Zivilist*innen und Zehntausende von Soldaten auf beiden Seiten sind getötet worden, während wahrscheinlich zehnmal mehr verwundet worden sind. Auch wenn einige von ihnen inzwischen zurückgekehrt sind, flohen mehr als acht Millionen Menschen, vor allem Frauen und Kinder, ins Ausland. Noch einmal so viele sind innerhalb der Ukraine vertrieben worden.
Die Hoffnungen des Kremls, das ganze Land besetzen zu können, wurden schnell enttäuscht, da er auf heftigen Widerstand stieß. Die russische Fürhung war gezwungen, sich aus der Umgebung von Kiew, Tschernigow und Charkiw zurückzuziehen und ihre Kräfte auf den Donbas zu konzentrieren. Dabei handelt es sich um ein etwa 400 mal 200 km großes Gebiet, das die Industrieregionen Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine umfasst. Im Jahr 2014 wurde ein Teil des Donbass von den sogenannten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk (DNR/LNR) eingenommen, und seither dauern die Kämpfe an. Jetzt kämpfen russische und ukrainische Streitkräfte in einem Zermürbungskrieg um jeden Kilometer Land, der wahrscheinlich noch viele Monate, möglicherweise sogar länger, andauern wird.
Der Krieg ist das Ergebnis einer neuen Periode wachsender Spannungen zwischen den imperialistischen Mächten, als Folge von Wirtschaftskrise, der Abkehr von Globalisierung und Neoliberalismus und den Versuchen die globalen Einflusssphären (d.h. die Ausbeutungsgebiete) neu aufzuteilen. Mit der Verschärfung des neuen Kalten Krieges zwischen den beiden imperialistischen Großmächten USA und China werden die militärischen und diplomatischen Blöcke neu geordnet und die regionalen Gleichgewichte umgeworfen. Das von den USA angeführte Lager sieht den Krieg eindeutig als Gelegenheit, Russland zu schwächen, und auch als Warnung und Generalprobe für einen militärischen Konflikt mit China zu einem späteren Zeitpunkt.
Der russische Imperialismus hat seine eigene aggressive Agenda, in der die Ukraine kein Recht hat, als unabhängiger Staat zu existieren. Tatsache ist auch, dass die USA und die westlichen imperialistischen Regierungen, trotz all ihrer Versprechen an das ukrainische Volk, die Ukraine als Spielball in ihrem globalen Konflikt betrachten.
Biden ändert seinen Tonfall
Zu Beginn des Krieges, als sich US-Präsident Biden durch die russischen Rückschläge und die einheitliche Reaktion der NATO ermutigt fühlte, forderte er mit großen Worten den Sturz Putins. Er und andere in der US-Führung unterstützten die Idee, dass Russland aus dem gesamten ukrainischen Gebiet vertrieben und entscheidend besiegt werden könnte. Während Putin sich beim Start der Invasion schwer verrechnet hat, sieht es sehr danach aus, dass sich Biden seitdem verschätzt. Dies gilt umso mehr, als der Westen sah, wie die Kosten des Krieges immer weiter eskalierten.
Aber wir müssen auch realistisch sein, was das militärische Kräfteverhältnis angeht: Trotz der massiven westlichen Propaganda zu Beginn des Krieges, dass das russische Militär kurz vor dem Zusammenbruch stehe, ist dies keineswegs der Fall. Ohne die Unterstützung des Westens wäre das ukrainische Militär gleich nach Beginn der Invasion rasch zusammengebrochen. So schickten die USA beispielsweise 7.000 Javelin-Panzerabwehrraketen. Für Russland wäre es jedoch unmöglich gewesen, die gesamte Ukraine oder auch nur den größten Teil davon gegen den entschlossenen Widerstand der Bevölkerung dauerhaft zu besetzen.
Die neue Phase des Krieges im Donbass begünstigt den russischen Ansatz, die ukrainischen Städte mit Langstreckenartillerie in die Knie zu zwingen. Während die russischen Streitkräfte immer noch hohe Verluste hinnehmen müssen, sind die ukrainischen Verluste zunehmend untragbar. Der Westen hat der Ukraine mehr Hightech-Militärsysteme versprochen. Die Wahrheit ist, dass die einzige Möglichkeit, das russische Militär militärisch zu besiegen und es aus der Ukraine zu vertreiben, darin bestünde, dass die NATO ihre eigenen Streitkräfte entsendet, was die Welt an den Rand eines totalen Krieges zwischen Russland und der NATO führen würde. Die westlichen Imperialisten haben deutlich gemacht, dass sie dazu nicht bereit sind und stattdessen den Krieg auf ukrainisches Territorium beschränken wollen, um eine größere Kontrolle zu behalten.
Daher ist der Westen jetzt damit beschäftigt, die Erwartungen herunterzuspielen und die Illusionen der einfachen Ukrainer*innen zu zerstören. Dies könnte sich noch verschlimmern, wenn die westlichen Imperialist*innen Zelensky schließlich dazu zwingen, ein Abkommen zu unterzeichnen, das die Teilung des Landes und die faktische Angliederung eines großen Teils oder des gesamten Donbass an Russland akzeptiert.
In der Zwischenzeit zeigen sich die westlichen Mächte Spannungen und Uneinigkeit über ihre nächsten Schritte angesichts der möglichen Folgen. Der Krieg hat die weltweite Nahrungsmittel- und Energiekrise, die Inflation und die Schuldenkrise vieler ärmerer Länder bereits dramatisch verschärft. Dies deutet auf massive Umwälzungen hin, wie wir sie bereits in Sri Lanka erleben.
Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen werden jedoch nicht auf die ärmeren Länder beschränkt sein. Unter den Großmächten ist Deutschland besonders gefährdet, da sein Wirtschaftsmodell auf billiger russischer Energie und Exporten nach China beruht. In den westlichen Medien wird derzeit mit großer Sorge darüber diskutiert, ob Russland die Nord-Stream-Erdgaspipeline abschalten wird. Deutschland bezieht 35 % seiner Gaslieferungen aus Russland und deckt damit die Heizkosten für die Hälfte der Haushalte des Landes, während Frankreich 19 % seines Gases aus Russland bezieht. Je länger sich der Krieg hinzieht, desto schärfer könnte die Spaltung im westlichen Lager werden: Die einen wollen den Konflikt schneller beenden, indem sie Russland in irgendeiner Form entgegenkommen, die anderen wollen ihn in die Länge ziehen.
Wie sich der Ukraine-Konflikt entwickelt hat
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben westliche Wirtschaftsinteressen die billigen Arbeitskräfte Osteuropas für ihre Lieferketten ausgebeutet und waren auf die Energie-, Mineralien- und Nahrungsmittelrohstoffe der Region angewiesen. Militärisch hat sich die NATO in der Region ausgebreitet. Bis zur globalen Krise 2008 betrachteten sowohl der Westen als auch Russland ihre Beziehungen als eine sich entwickelnde "Partnerschaft". Putin deutete sogar an, dass Russland der NATO beitreten könnte. Doch als sich die Globalisierung zu verlangsamen begann und Russland von den gestiegenen Öleinnahmen profitierte, nahmen die Konflikte zu.
Sowohl die "Orangene Revolution" in der Ukraine im Jahr 2004 als auch die Euromaidan-Krise 2013/4 waren das Ergebnis eines Konflikts zwischen pro-russischen und pro-EU-Interessen innerhalb der oligarchischen Führungselite der Ukraine. In beiden Fällen waren die Pro-EU-Kräfte, die sich auf Massenproteste stützten, siegreich. Die Antwort des Kremls war die Annexion der Krim und die militärische und politische Unterstützung der abtrünnigen Regierungen der "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk (DNR/LNR) im Osten. Der daraus resultierende Krieg im Donbass von 2014-21 forderte über 15.000 Menschenleben. In dem Maße, wie die imperialistischen Interessen der USA und der EU in der Region gestärkt wurden, hat sich die Kreml-Elite immer aggressiver gegen sie gestellt.
Als sie diesen brutalen Krieg begann, behauptete sie ihr Ziel sei die "Entnazifizierung" und "Entmilitarisierung" der Ukraine. Sie rechtfertigt das, wie sie das in der Kampagne für das Referendum auf der Krim im Jahr 2014 getan haben, mit einer Flut von üblen Behauptungen über die Übernahme der Kiewer Regierung durch Faschist*innen. Es ist sicherlich richtig, dass die ukrainische extreme Rechte eine Schlüsselrolle in der Euromaidan-Krise und in den Kämpfen gegen die prorussischen Kräfte in den Jahren 2014-16 gespielt hat, auch wenn seit dem Euromaidan die Stimmen der extremen Rechten von 7 % auf 2,2 % zurückgegangen sind. Ein Teil der Oligarch*innen sah jedoch während der Präsidentschaft von Viktor Poroschenko (2014-19) die Rechtsextremen als nützliche Ergänzung zum repressiven Staatsapparats an, und viele rechtsextreme Aktivist*innen, einschließlich des berüchtigten Asow-Regiments, wurden auf verschiedenen Ebenen in ihn integriert.
Wir sind mit der Art und Weise wie das Zelensky-Regime von pro-russischen Stimmen charakterisiert wird, die es als rechtsextrem/faschistisch bezeichnen, nicht einverstanden oder von seinen Befürwortern, die das wahre Wesen von Zelenskys Regime beschönigen und es als Verteidiger der "Demokratie" gegen den "Autoritarismus" darstellen. Er wurde 2019 als Außenseiter gewählt und gewann die Unterstützung all jener, die von den früheren Oligarchenregimen von Poroschenko und Janukowitsch angewidert waren. Er versprach ein Ende des Krieges in der Ostukraine und einen Kampf gegen die Korruption. Er stieß schnell auf den Widerstand der extremen Rechten, die sich seinen Versuchen Frieden zu verhandeln widersetzte. Gleichzeitig setzte er seine unternehmer*innenfreundliche, neoliberale Wirtschaftspolitik fort, manchmal mit einem leichten Anflug von Populismus - zum Beispiel mit vorgeschlagenen Maßnahmen gegen die Oligarch*innen.
Obwohl seine Beliebtheit vor dem Krieg gesunken war, stiegen seine Umfragewerte aufgrund seiner Weigerung die Ukraine zu verlassen und der Art und Weise wie er als standhaft gegenüber Russland wahrgenommen wird. Dennoch setzt seine Regierung ihre arbeitnehmer*innenfeindliche Politik mit einem Streikverbot, neuen Gesetzen, die die Entlassung von Arbeitnehmer*innen erleichtern, und Plänen die Rentenreformen voranzutreiben fort. Der Krieg selbst hat die Tendenzen zur Militarisierung verstärkt und es Zelensky ermöglicht, schärfer gegen seine politischen Gegner*innen vorzugehen - einschließlich des Verbots pro-russischer Parteien. Wie auch immer der Krieg ausgeht, in Ermangelung einer linken Alternative ist klar, dass die russischen Aktionen zu einem dramatischen Anstieg nationalistischer und rechtsnationaler Ansichten führen werden. Um sich darauf vorzubereiten, ist es wichtig, dass die Arbeiter*innenklasse während des Krieges ihre eigene organisierte politische Alternative zu Zelenskis pro-kapitalistischer und pro-imperialistischer Politik entwickelt.
Wenn der Kreml wirklich "den Faschismus bekämpfen" wollte, sollte er im eigenen Lager beginnen. Unter denjenigen, die zuerst die DNR/LNR-Regierungen bildeten, waren viele Mitglieder der neofaschistischen "Russischen Nationalen Einheit", obwohl sie weitgehend durch für den Kreml sicherere Figuren ersetzt wurden. Heute befinden sich unter den russischen Truppen Gruppen wie "Rusich", die sich hauptsächlich aus St. Petersburger Neonazi-Gruppen rekrutieren, und die berüchtigte Wagner-Gruppe, Söldner, die vom Kreml als "abstreitbare Aktivposten" eingesetzt werden und von denen viele nazistische und faschistische Symbole tragen.
Die Natur des Krieges
Einige in der internationalen Linken unterstützen fälschlicherweise das Putin-Regime in dem einen oder anderen Maße mit der Begründung, dass es die schwächere imperialistische Macht ist, und geben die Idee wieder, dass das ukrainische Regime pro-faschistisch ist.
Im Westen gibt es jedoch eine noch weiter verbreitete falsche Position in der breiten Linken, die von Podemos in Spanien bis zur AOC in den USA reicht und darin besteht, Joe Bidens Behauptung die NATO kämpfe für "Demokratie gegen Diktatur", Glauben zu schenken. Dies führt dazu, dass die massiven Militärausgaben der westlichen imperialistischen Mächte im Namen des Kampfes gegen die russische Aggression unterstützt werden, auch von einigen in der radikalen Linken, einschließlich so genannter Trotzkist*innen die ihre Unterstützung für die westliche Aufrüstung mit einer allgemeinen antiimperialistischen Rhetorik verbinden. Aber in Wirklichkeit ist die Aufrüstung untrennbar mit der breiteren westlichen imperialistischen Agenda verbunden. Wer das eine unterstützt, unterstützt auch das andere.
Die ISA ist gegen alle imperialistischen Mächte. Die Ukraine steht heute vor einem langwierigen Zermürbungskrieg. Zelenskys Ansatz besteht darin, immer mehr Waffen vom Westen zu fordern, in der Hoffnung Russland militärisch aus dem Donbas zu drängen. Wenn dies gelingen sollte, dann nur um den Preis einer großen Zahl von Opfern und einer umfassenden Zerstörung von Häusern, Schulen, Krankenhäusern und Arbeitsplätzen. Dies würde wahrscheinlich ein viel direkteres Eingreifen der NATO erfordern, das einen viel größeren Konflikt auslösen würde. Dies würde die Ukraine in völlige Abhängigkeit vom westlichen Imperialismus bringen, der seinerseits jederzeit seine Haltung ändern und von der Ukraine unannehmbare Zugeständnisse verlangen könnte. Die Realität ist, dass das ukrainische Volk in dieser Situation vor der Wahl steht, entweder als Vasall Russlands oder des westlichen Imperialismus zu enden. Es sei denn natürlich, die Arbeiter*innenklasse kann bei ihrer Verteidigung gegen die russische Besatzung neue Methoden des Kampfes entwickeln, die sich auf die Solidarität der Arbeiter*innenklasse stützen.
Die ISA unterstützt voll und ganz das Recht der Arbeiter*innenklasse in der Ukraine, sich gegen die russische Aggression zu verteidigen, natürlich auch militärisch. In den von den russischen Kräften besetzten Gebieten, wie z. B. in Cherson, entwickelt sich bereits eine aufkeimende Partisan*innenbewegung. Aber schon zu Beginn des Krieges gab es Beispiele für eine breitere Mobilisierung gegen die Besatzung. Im Kernkraftwerk Saporoschskaja gingen Arbeiter*innen und Anwohner*innen auf die Straße, um die vorrückenden russischen Truppen zu blockieren, während im nahe gelegenen Energodar Feuerwehrleute eine Demonstration in ihren Fahrzeugen organisierten, nachdem ihr Feuerwehrchef von einem Russen abgelöst worden war.
Die revolutionären Methoden, die Trotzki aus der Revolution von 1917 verallgemeinert hat, würden in der heutigen Ukraine bedeuten, dies durch eine Massenmobilisierung der ukrainischen Bevölkerung zu erweitern. Aber bei einer solchen Mobilisierung muss die Arbeiter*innenklasse ihre politische Unabhängigkeit von allen prokapitalistischen Kräften bewahren.
Während dieser Artikel geschrieben wird, hat Zelensky angekündigt, dass eine "eine Million starke" Armee zusammengestellt wird, um die besetzten Gebiete im Süden um Cherson zurückzuerobern. Sollte dies tatsächlich geschehen und nicht nur eine prahlerische Behauptung bleiben, so ist es schwer vorstellbar, wie die russische Armee die Kontrolle über den Süden aufrechterhalten könnte.
Dennoch ist diese von oben verordnete und höchstwahrscheinlich einmalige Mobilisierung nicht dasselbe wie eine Mobilisierung, die sich auf die Arbeiter*innenklasse stützt und von ihr organisiert wird. Wenn man sie, wie Zelensky es tut, an die Bereitstellung von Waffen durch die westlichen Imperialisten knüpft, bedeutet das, dass die Imperialist*innen faktisch kontrollieren werden, wie effektiv eine solche Mobilisierung sein wird. Nach der Wiederbesetzung würde die Region an dieselben Eigentümer*innen zurückgegeben, die für die Ausbeutung der ukrainischen Arbeiter*innen und Landarbeiter*innen vor dem Krieg verantwortlich waren, und der Weg für die Rückkehr einer besser vorbereiteten russischen Armee zu einem späteren Zeitpunkt wäre offen.
Anders wäre es, wenn die Mobilisierung durch die in den Betrieben und Stadtvierteln organisierte Arbeiter*innenklasse umgesetzt werden würde, durch Streiks, Boykotte und Aufstände in den besetzten Gebieten, verbunden mit einem direkten Klassenappell an die russischen Soldat*innen, um die Fortsetzung der Besatzung unmöglich zu machen. Damit wäre die Arbeiter*innenklasse in der Lage, ihre eigenen Interessen zu verteidigen, indem sie die Oligarch*innen aus den Fabriken vertreibt und eine eigene politische Partei gründet, die um die politische Macht kämpft. Wenn dies geschähe, würde die Solidarität der Arbeiter*innenklasse in der ganzen Welt und auch in Russland massiv zunehmen, was es dem Regime sehr viel schwerer machen würde den Krieg fortzusetzen.
Doch das Zelenski-Regime, das sich auf bürgerlichen Nationalismus und neoliberale Ideologie stützt, lehnt diesen Weg völlig ab und verlässt sich stattdessen ganz auf den westlichen Imperialismus.
Repression in Russland
Jetzt ändert sich der Schwerpunkt der Kreml-Propaganda. Die Behauptungen, die Ukraine werde "entnazifiziert" und "entmilitarisiert", haben in der öffentlichen Meinung keinen Anklang gefunden. Das Außenministerium sagt nun, die Ukraine führe einen "Stellvertreterkrieg im Interesse der USA" gegen Russland.
Die staatlich kontrollierten Meinungsumfragen sind ebenso wie die russischen Wahlen gefälscht. Es ist jetzt sogar eine Straftat, die "Militäroperation" als "Krieg" zu bezeichnen. Dennoch ist klar, dass die Stimmung nicht für einen Krieg ist. Die Mehrheit der Befragten möchte nicht, dass sie oder ihre Familien darin verwickelt werden. Während die Unterstützung für den Krieg in den wohlhabenden und älteren Bevölkerungsschichten am höchsten ist, ist die Mehrheit der jungen Menschen und der Arbeiter*innenschaft dagegen.
Die Anti-Kriegs-Proteste in Russland sind nach der massiven Repression vorerst abgeebbt. Allerdings gab es bisher nur einen Tag seit Kriegsbeginn, an dem niemand wegen einer Äußerung verhaftet wurde. Viele Soldat*innen haben sich geweigert, in die Ukraine zu gehen, andere haben Befehle verweigert, und einige, die bereits in der Ukraine kämpften, haben sich geweigert, für einen zweiten Einsatz zurückzukehren. Es gab Brandanschläge auf Rekrutierungszentren. Die Opposition gegen den Krieg ist jedoch spontan und sporadisch und hat noch keine organisierte Form angenommen.
Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass es keine Oppositionsparteien oder -organisationen gibt, die in der Lage wären, die latente Unzufriedenheit in aktiven Widerstand umzusetzen. Die sogenannten "Systemparteien", die im Einvernehmen mit dem Kreml agieren, um die Opposition in sichere Bahnen zu lenken, sind in der "Partei des Krieges" - die Kommunistische Partei ist die kriegstreiberischste von ihnen. Sie taten es, um den Druck auf den Kreml zu mindern. In der Anfangsphase kursierten viele Gerüchte über eine Opposition innerhalb der herrschenden Elite, des Militärs und der Sicherheitsdienste. Führende Generäle, auch aus dem FSB, wurden Berichten zufolge entlassen und in einigen Fällen sogar verhaftet. Da der Konflikt jedoch in eine neue, langwierige Phase eingetreten ist und die Opposition zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Berichts unter der Oberfläche bleibt, hat der Druck auf Putin nahestehende Personen, gegen ihn vorzugehen, nachgelassen.
Kurzfristig hat Putin zwar seine diktatorische Herrschaft über die russische Gesellschaft gestärkt, aber um den Preis, dass die Basis des oligarchischen Regimes längerfristig untergraben wird. Selbst wenn es gelingt, ein Abkommen mit der Ukraine zu schließen, das Macron als "gesichtswahrend" bezeichnet und das darauf beruht, dass Russland zumindest einen Teil, wenn nicht sogar den gesamten Donbass behält, wird dies mit einem sehr hohen Preis verbunden sein. Die russische Wirtschaft wurde weitgehend von der Weltwirtschaft isoliert. Ehemaligen Verbündete zeigen ihr nun die kalte Schulter. Selbst der weißrussische Diktator Lukaschenko hat die Angriffe auf die Ukraine nicht offen unterstützen können. Keine der zentralasiatischen Republiken hat die abtrünnigen Republiken in der Ukraine anerkannt, und der kasachische Präsident Kassym-Jomart Tokajew hat es sogar gewagt, dies Putin gegenüber auf dem jüngsten Wirtschaftsforum in St. Petersburg öffentlich zu erklären.
Trotz des im Januar angekündigten "grenzenlosen" Kooperationsabkommens zwischen China und Russland hat sich auch China bisher mit einer allzu offenen Unterstützung des Kremls zurückgehalten. Trotz seiner angeblichen Ablehnung jeglicher Angriffe auf die territoriale Integrität eines Landes - mit Blick auf Taiwan, das es als Teil Chinas betrachtet - hat es kein Wort der Kritik an der Invasion geäußert. Sie macht die USA und ihre Verbündeten für den sich hinziehenden Krieg verantwortlich und lehnt die verhängten Sanktionen ab. Sie vermeidet jedoch alles, was als direkte Hilfe für Russland ausgelegt werden könnte, sei es militärisch oder zur Vermeidung von Sanktionen, denn im Vorfeld des diesjährigen KPCh-Kongresses braucht Xi Jinping globale Stabilität.
Chinesische Banken und Hightech-Unternehmen wie Huawei ziehen sich sogar aus dem russischen Markt zurück. Ein gemeinsames chinesisch-russisches Projekt zur Entwicklung und zum Bau eines Großraumflugzeugs, das mit Airbus und Boeing konkurrieren soll, scheint ebenfalls endgültig zu scheitern. Es stimmt zwar, dass China und Indien von Russlands überschüssigen Ölvorräten profitieren, indem sie sie mit großen Preisnachlässen kaufen, aber selbst ein hochrangiger Beamter der Regierung Biden sagte kürzlich (anonym) gegenüber Reuters: "Wir haben nicht gesehen, dass die VR China (Volksrepublik China) systematische Umgehungen vornimmt oder Russland militärische Ausrüstung liefert."
Die Wirkung der Sanktionen
Die westlichen imperialistischen Mächte waren sich zunächst in der Verhängung beispielloser Wirtschaftssanktionen gegen Russland einig. Mehr als 1.000 Unternehmen haben ihre Geschäftstätigkeit eingestellt oder reduziert, während sowohl die EU als auch die USA den Kauf von Erdöl verboten haben, obwohl die Maßnahmen in den nächsten acht Monaten schrittweise eingeführt werden. Der Kreml brüstet sich nun damit, dass die Sanktionen dem Westen in Form von Inflation, Energie- und Nahrungsmittelkrisen mehr schaden. In der Tat war der Rubel in diesem Jahr die Währung mit der "besten Performance" - am 24. Februar lag der Wechselkurs zwischen Dollar und Rubel bei 85, fiel dann auf 139 und hat sich seitdem auf über 60 erholt.
Die Gründe dafür sind dreierlei. Erstens ist der Ölpreis trotz des Rückgangs der Ölexporte dramatisch gestiegen, nämlich um 60 %. Das bedeutet, dass die EU jetzt mehr Geld nach Russland schickt, als sie als Hilfe für die Ukraine vereinbart hat! Infolgedessen erreichte der russische Leistungsbilanzüberschuss in den ersten fünf Monaten des Jahres 2022 110 Milliarden Dollar - 3,5 Mal höher als 2021. Zweitens führte die Regierung sofort Kapitalkontrollen ein, schränkte die Ausfuhr von Bargeld ein und erhöhte den Leitzins auf über 20 %. Obwohl diese Beschränkungen inzwischen gelockert wurden, trugen sie zur Stärkung des Rubels bei. Und drittens führten die Sanktionen natürlich zu einem raschen Rückgang der Importe, wodurch wiederum Devisen in Russland verblieben und die Leistungsbilanz gestärkt wurde. Der Rubel ist jetzt so stark, dass die Zentralbank versucht, ihn zu schwächen.
Aber die Stabilisierung des Finanzmarktes ist nicht dasselbe wie die der restlichen Wirtschaft, in der sich gewöhnliche Menschen normalerweise bewegen. Die Inflation liegt derzeit bei 17 % und ist damit die dritthöchste unter den G20-Ländern - nach der Türkei und Argentinien. Selbst nach den Statistiken der Regierung wird die Arbeitslosigkeit bis zum Jahresende voraussichtlich von 4,5 % auf 7 % ansteigen, während die Statistikbehörde RosStat berichtet, dass sich die Zahl der in Armut lebenden Russ*innen in den ersten fünf Wochen des Krieges verdoppelt hat. Inzwischen leben 21 Millionen Menschen in Armut - was angesichts des schwankenden Wechselkurses zwischen 100 und 200 Dollar pro Monat liegt. Die Arbeitslosenzahlen sind immer zu niedrig angesetzt, da die Arbeitgeber*innen von der Regierung dazu gebracht werden, die Leute nicht zu entlassen - stattdessen werden ihre Löhne gekürzt. Schätzungen zufolge sind seit Beginn des Krieges etwa eine Million Russ*innen aus dem Land geflohen.
Es ist klar, dass sich eine Rezession abzeichnet. Einige Sektoren sind vom Aussterben bedroht - im letzten Monat waren nur noch zwei der 22 russischen Autofabriken in Betrieb. Selbst die russischen Hersteller, die ihre Preise um 30 % erhöht haben, können nicht produzieren, da erstens der Markt zusammengebrochen ist und sie zweitens die erforderlichen Teile, wie Mikrochips, nicht aus dem Ausland beziehen können. Die Autoproduktion ist im Juni um 97 % zurückgegangen. Die Regierung plant zwar, einige der stillgelegten Fabriken zu übernehmen, aber die Modelle, die sie dann produzieren kann, werden nach den Worten eines Experten der Zentralbank "technologisch veraltet" sein. Sie werden keine Airbags, APS-Systeme oder Navigationsgeräte mehr haben. Dies wird in vielen Sektoren der Fall sein - russische Fluggesellschaften rechnen beispielsweise damit, dass sie bis zu einem Drittel ihrer Flugzeuge für Teile "ausschlachten" müssen, um den Rest der Flotte in den kommenden Jahren am Leben zu erhalten. Inzwischen gibt es Berichte, dass sogar die Waffenhersteller mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Die Arbeiter*innen einer Fabrik im Ural haben vor kurzem gestreikt, weil sie seit zwei Monaten keinen Lohn mehr erhalten haben - der Direktor warnte sie kurz und bündig, dass die Arbeiter*innen während des Zweiten Weltkriegs auch keine Löhne erwartet hätten!
Die Prognosen der Zentralbank, dass Russland in eine Rezession gerät und dass es ein Jahrzehnt dauern wird, bis es sich wieder erholt, sind wahrscheinlich ziemlich realistisch.
Der Krieg in der Ukraine, der nun schon den fünften Monat andauert, hat eine Reihe von Prozessen auf globaler Ebene beschleunigt. An erster Stelle stehen die Auswirkungen des Krieges auf die Weltwirtschaft, insbesondere weil er eine massive Energie- und Nahrungsmittelkrise ausgelöst hat. Wie wir an anderer Stelle erläutern, sind Hunderte Millionen Menschen in armen Ländern von Ernährungsunsicherheit und Hungersnot bedroht, unter anderem weil Getreide aus der Ukraine und Russland sowie wichtige Düngemittellieferungen aus der Region nicht auf den Weltmarkt gelangen. Steigende Energiekosten verschärfen die Krise in der Landwirtschaft zusätzlich.
Die Energie- und Nahrungsmittelkrise wiederum heizt die Inflation an, die in den USA und im Vereinigten Königreich ein 40-Jahres-Hoch erreicht hat. In vielen anderen Ländern ist die Inflation sogar noch höher. Es ist wichtig zu betonen, dass sich die Inflation nicht gleichmäßig auf alle Bevölkerungsgruppen auswirkt. Der Anstieg der Lebensmittelpreise trifft arme Familien am stärksten, da Lebensmittel einen viel größeren Anteil an ihrem Haushaltsbudget ausmachen. Dies gilt selbst in fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern wie den USA, wo Millionen von Menschen auf Lebensmittelmarken angewiesen sind, aber in weiten Teilen Südasiens, des afrikanischen Kontinents und Lateinamerikas ist die Lage noch viel verzweifelter.
In dem Versuch, die Inflation einzudämmen, wenden sich die Zentralbanken in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern nun, wie wir es angekündigt haben, einer drastischen Anhebung der Zinssätze zu. Die höfliche Erklärung lautet, dass durch die Anhebung der Zinssätze die Kosten für die Kreditaufnahme für Unternehmen und normale Menschen steigen werden und dies die Ausgaben verringern wird. Dies verschleiert jedoch die brutale Wahrheit, dass das eigentliche Ziel darin besteht, die Löhne niedrig zu halten und gegebenenfalls die Arbeitslosigkeit zu erhöhen, selbst wenn dies bedeutet, eine Rezession zu riskieren. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich erklärte kürzlich, dass die Zentralbanken, um eine Verfestigung der Inflation zu verhindern, "sich nicht scheuen sollten, kurzfristig Schmerzen und sogar Rezessionen zu verursachen". Der ehemalige US-Finanzminister Larry Summers erklärte kürzlich noch unverblümter: "Wir brauchen fünf Jahre mit einer Arbeitslosigkeit von über 5 %, um die Inflation einzudämmen - mit anderen Worten, wir brauchen zwei Jahre mit 7,5 % Arbeitslosigkeit oder fünf Jahre mit 6 % Arbeitslosigkeit oder ein Jahr mit 10 % Arbeitslosigkeit."
Auf diese Weise versuchen die Kapitalisten wie immer, die arbeitenden Menschen für die Krise ihres Systems zahlen zu lassen. Doch die Auswirkungen der Zinserhöhungen der Federal Reserve und der EZB werden nicht nur die Arbeiter*innen in den USA und Westeuropa zu spüren bekommen. Die Schulden, die arme Länder bei Institutionen wie dem IWF oder bei privaten Kreditgeber*innen haben, laufen größtenteils auf Dollar. Steigende Zinssätze werden die Bedienung dieser Schulden sofort erschweren. Die Folgen der Aufwendung eines größeren Teils des Nationaleinkommens, um die Schulden bei ausländischen Banken und Finanzinstituten zu zahlen, werden Kürzungen im Bildungs- und Gesundheitswesen sein, was die Krise noch verschärft.
Die Kombination aus Inflation, unbezahlbaren Schulden und der Korruption der lokalen kapitalistischen Eliten hat Sri Lanka bereits an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Weitere Länder werden diesem düsteren Weg folgen. Wenn große Teile der Bevölkerung in einem Land nach dem anderen ins Elend getrieben werden und ein Massenhunger droht, sind soziale Umwälzungen unvermeidlich.
Der IWF prognostiziert inzwischen für 143 Länder, die vier Fünftel der Weltwirtschaft ausmachen, einen wirtschaftlichen Abschwung. Wir stehen zum zweiten Mal innerhalb von zwei Jahren am Rande eines globalen Abschwungs und dass nur ein Jahr, nachdem die kapitalistischen Medien vollmundig von einem Aufschwung durch Konjunkturmaßnahmen sprachen. Natürlich weiß jeder, dass die Inflation nicht mit dem Krieg begonnen hat. Der Anstieg der weltweiten Inflation begann mit dem Chaos in den Lieferketten, das durch die Pandemie ausgelöst wurde. Auf einer tieferen Ebene ist sie jedoch auch das Ergebnis der Politik des "leichten Geldes", die von den wichtigsten Zentralbanken seit der tiefen Rezession von 2008/09 verfolgt wird. Dabei haben die Zentralbanken Billionen in die Finanzmärkte gepumpt, um einen völligen Zusammenbruch zu verhindern. Eines der unvermeidlichen Nebenprodukte war das erneute Aufblähen verschiedener Vermögensblasen, u. a. bei Immobilien und Kryptowährungen, da die Kapitalisten das Geld in das Finanzkasino investierten anstatt es in den Ausbau der Produktion, den Wiederaufbau der Infrastruktur usw. zu stecken.
Bizarrerweise bedeutete dies auch, dass die inhärente inflationäre Wirkung dieser Liquiditätsausweitung eine ganze Zeit lang aus der "Realwirtschaft" herausgehalten wurde, so dass die niedrige Inflation und die niedrigen Zinssätze, die ein wesentlicher Bestandteil des Neoliberalismus waren, fortgesetzt wurden. Mit der Pandemie änderte sich das jedoch, da die Krise nicht in erster Linie von den Finanzmärkten, sondern von einem Zusammenbruch der Nachfrage ausgelöst wurde. Die Konjunkturpakete von 2020-21 umfassten astronomische Summen, die in die Finanzmärkte gepumpt wurden, aber auch riesige Beträge, die direkt an Unternehmen und - in weitaus geringerem Maße - an normale Menschen gingen. Dies hat unweigerlich dazu beigetragen, die Grundlage für einen Inflationsschub zu schaffen.
Im Grunde taumelt die Kapitalist*innenklasse nun von einer Krise in die nächste, wobei die Maßnahmen, die zur "Behebung" einer Situation ergriffen werden, direkt zur nächsten Phase beitragen.
Die Auswirkung auf den weiteren Kalten Krieg.
Einige mögen gedacht haben, dass der Krieg in der Ukraine und die Reaktion der USA bedeutet, dass sie sich wieder auf Europa und nicht auf den Indopazifik konzentrieren. Das ist eindeutig falsch. In Wirklichkeit erleben wir eine erhebliche Eskalation des neuen globalen Kalten Krieges. Der Krieg in der Ukraine hat diesen Prozess beschleunigt und ist auch ein Teil davon. Ende Mai reiste Biden nach Japan und Südkorea. Während dieser Reise erklärte er, dass die USA Taiwan im Falle einer Invasion durch China militärisch verteidigen würden. Während dies von amerikanischen Beamten teilweise zurückgenommen wurde und die Medien von einem weiteren "Fauxpas" Bidens sprachen, ist dies Teil eines Musters, bei dem Biden "die Katze aus dem Sack lässt". Während der Reise traf Biden mit den Führern der "Quad" zusammen, einer Sicherheitsallianz, der neben den USA auch Indien, Japan und Australien angehören. Außerdem gab er den Startschuss für die „Indo-Pazifische Economic Framework“ (IPEF) mit 12 Pazifik-Anrainerstaaten. Dieses soll zum Teil die von Barack Obama ins Leben gerufene Trans-Pazifik-Partnerschaft ersetzen, die China isolieren sollte, von der Trump jedoch Abstand nahm. Es handelt sich jedoch nicht um ein traditionelles Freihandelsabkommen, sondern um eine freiwillige Zusammenarbeit in Bereichen wie Technologiestandards.
Dann Ende Juni nahmen am NATO-Gipfel in Madrid zum ersten Mal die Premierminister mehrerer wichtiger indopazifischer Staaten teil, darunter Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland. Wie die Financial Times titelte, stellte dieses Treffen eine "Rückkehr zur 'Mission des Kalten Krieges'" dar. Die Schlussfolgerungen des Treffens werden wie folgt zusammengefasst: "Das Ziel einer Versiebenfachung der NATO-Streitkräfte in höchster Alarmbereitschaft, der erste ständige US-Stützpunkt an der Ostflanke des Bündnisses [in Polen], eine Einladung an Finnland und Schweden, dem Bündnis beizutreten, und eine neue zehnjährige Leitstrategie, die jede Illusion einer Partnerschaft mit Moskau über Bord wirft. In der neuen NATO-Missionserklärung wird auch China als systemische "Herausforderung" bezeichnet.
Dies ist das erste Mal, dass die NATO als Gremium direkt auf China Bezug genommen hat. Zusammen mit der Anwesenheit von Vertreter*innen wichtiger indo-pazifischer Staaten zeigt dies, wie der westliche Imperialismus weitere Schlussfolgerungen über einen langfristigen Konflikt mit einem von China geführten Block zieht. Es wird nun offen über eine "asiatische NATO" spekuliert. Dies ist vielleicht noch nicht absehbar, aber die Entwicklung des „Quad“ und der Madrider Gipfel weisen eindeutig in diese Richtung.
Ergänzend dazu wurde auf dem jüngsten G7-Treffen zugesagt, 600 Milliarden Dollar für die Ausweitung der weltweiten Infrastrukturinvestitionen in "Entwicklungsländern" aufzubringen. Dies ist kein Akt des Wohlwollens, sondern eindeutig ein verspäteter Versuch Chinas massives Programm der „neuen Seidenstraße“ („Belt and Road Initiative“) zurückzudrängen, die von China genutzt wurde, um enge Beziehungen zu Regimen in Asien, Afrika und sogar Lateinamerika aufzubauen. Es handelt sich dabei zwar nicht um eine besonders hohe Summe, da sie über fünf Jahre hinweg aufgebracht werden soll. Es ist eher eine Anerkennung der Tatsache, dass es zum Zurückdrängen des wachsenden Einflusses des chinesischen Imperialismus in der neokolonialen Welt notwendig sein wird, sich im Aufbau von "Soft Power" zu engagieren und nicht nur die Militärbudgets auszuweiten.
Natürlich steht das chinesische Regime nicht untätig herum. Xi Jinping warb auf dem jüngsten BRICS-Staaten-Treffen, dem neben China auch Brasilien, Russland, Indien und Südafrika angehören, für seine eigene "globale Sicherheitsinitiative". Das KPCh-Regime bemüht sich auch weiterhin intensiv um die Entwicklung von Sicherheitsvereinbarungen mit pazifischen Inselstaaten. Ein Paradebeispiel dafür ist das jüngste Abkommen mit den Salomonen, das es dem dortigen Regime erlaubt, chinesische "Sicherheitskräfte" zur Unterstützung bei der Niederschlagung lokaler Unruhen heranzuziehen. Im Gegenzug erhält China, in den Worten der New York Times, "eine Operationsbasis zwischen den Vereinigten Staaten und Australien, die genutzt werden könnte, um den Schiffsverkehr im Südpazifik zu blockieren."
Der Trend zur Deglobalisierung hat sich verschärft. Am deutlichsten zeigt sich dies in der radikalen Entkopplung zwischen dem Westen und Russland, der elftgrößten Volkswirtschaft der Welt. Die Entkopplung zwischen den USA und China setzt sich ebenfalls fort, wenn auch in einem viel langsameren Tempo. Wir haben eine gewisse Verlagerung der Produktion aus China heraus und einige Anzeichen für "Reshoring" und "Nearshoring" gesehen, d.h. die Verlagerung kritischer Sektoren in die Nähe wichtiger imperialistischer Länder, wo sie "sicherer" sind. Es wurde viel darüber geredet, dass die US-Regierung große Summen in Spitzentechnologien, insbesondere in die Mikroprozessor-Produktion, investiert, aber es ist nur sehr wenig dabei herausgekommen. Die Ergebnisse sind zwar dürftig, aber die Hinwendung zu einer nationalistischen "Industriepolitik", einer Form des staatlich gelenkten Kapitalismus, ist der Situation inhärent.
Während dessen wurden von der US-Regierung immer mehr Beschränkungen für Investitionen in China verhängt, auch wenn von einer Lockerung der Zölle die Rede ist. Sowohl in Europa als auch in den USA hat die Energiekrise dazu geführt, dass die Regierungen jeden verbleibenden Anschein einer Abkehr von fossilen Brennstoffen zugunsten einer rasanten Erschließung von Erdöl-, Erdgas- und sogar Kohleressourcen aufgegeben haben. Dies zeigt, wie der Kalte Krieg alle anderen Krisen verschärft.
Krieg und Politik
Zu Beginn des Krieges gab es in den westlichen Ländern eine Welle der Sympathie für das ukrainische Volk. Dies wurde von den westlichen Regierungen genutzt, um eine militaristische Agenda zu unterstützen, zu der auch die Erhöhung der Militärausgaben und - im Falle Schwedens und Finnlands - der Beitritt zur NATO gehörten.
In vielen anderen Teilen der Welt, darunter im Nahen Osten, in Afrika südlich der Sahara und in weiten Teilen Lateinamerikas, war die Unterstützung für die NATO-Agenda jedoch weitaus geringer, da man den Behauptungen Bidens, es handele sich um einen Kampf zwischen "Demokratie und Autokratie", völlig zu Recht misstraute.
Vielen ist nicht entgangen, wie heuchlerisch es ist, dass Biden Putin als Diktator anprangert und sich gleichzeitig bei der saudischen Monarchie einschmeichelt, um sie dazu zu bringen, ihre Öllieferungen zu erhöhen. Biden besucht Saudi-Arabien im Juli und hat jegliche Kritik an der brutalen Rolle des Landes im Jemen, einer noch schlimmeren humanitären Katastrophe als die Ukraine, fallen gelassen. Das Gerede von der "Führungsrolle" der USA im Kampf für die Demokratie klingt auch ziemlich hohl, nachdem die reaktionäre Mehrheit des Obersten Gerichtshofs der USA die 50 Jahre alte Entscheidung „Roe v Wade“, die das Recht auf Abtreibung garantierte, aufgehoben hat. Dies zeigt, dass sich die US-Gesellschaft in Bezug auf die grundlegenden Menschenrechte rückwärts bewegt.
Wir wiesen darauf hin, dass in dem Maße, in dem die Folgen des Krieges, insbesondere die Auswirkungen auf die Wirtschaft, immer schlimmer werden, die Unterstützung der Bevölkerung für eine militärische Eskalation, selbst in den imperialistischen Kernländern, tendenziell schwinden würde. Mitte Mai zeigte sich sogar die Biden-treue New York Times besorgt und warnte in einem offiziellen Leitartikel vor der Gefahr eines "totalen Krieges mit Russland", dass "die US-Unterstützung für den Krieg nicht garantiert ist" und dass "die Inflation für die amerikanischen Wähler*innen ein viel größeres Problem darstellt als die Ukraine". Bidens sinkende Umfragewerte bestätigen diese Punkte voll und ganz. Unglaublich, dass er zu diesem Zeitpunkt seiner Präsidentschaft weniger beliebt ist als Trump.
Die erste Runde der französischen Präsidentschaftswahlen im Juni war auch ein Warnzeichen für die NATO. Die Mehrheit der Wähler unterstützte entweder Kandidat*innen der extremen Rechten oder der linken Sozialdemokratie. Während Macron seine Zeit damit verbrachte, sich als "europäischer Staatsmann" zu präsentieren, der versucht, eine Lösung für den Krieg im Rahmen des westlichen Imperialismus zu finden, konzentrierten sich die französischen Wähler*innen auf die Lebenshaltungskosten und erteilten der bürgerlichen "Mitte" eine scharfe Abfuhr.
Der Krieg vertieft alle Aspekte der Krise des Kapitalismus. Während die Menschen in der Ukraine leiden, stehen beide imperialistischen Lager vor ernsten Problemen. Oberflächlich betrachtet scheint Putin jede Opposition niedergeschlagen zu haben, aber nur um den Preis einer weiteren Aushöhlung des Fundamentes des Regimes. Russlands Verbündeter China befindet sich in einer enormen wirtschaftlichen und sozialen Krise. Und während die USA und die NATO mit ihrer aggressiven und anfänglich einheitlichen Reaktion scheinbar Stärke bewiesen, haben sich im Laufe der Monate die Komplikationen in ihrer Position gehäuft.
Es ist unvermeidlich, dass der zwischenimperialistische Konflikt, der sich aus den tieferen Widersprüchen des Kapitalismus ergibt, zu einer Verschärfung der inneren Krisen in den imperialistischen Staaten selbst führen wird. Die Hauptleidtragenden werden jedoch die Massen der neokolonialen Welt sein, die mit einer drastischen Zunahme der Ernährungsunsicherheit und brutalen Sparmaßnahmen konfrontiert sind, da die Regime versuchen, ihre Schulden zu begleichen. Während die Menschen buchstäblich verhungern, werden die Imperialist*innen versuchen, sich gegenseitig die Schuld an der Katastrophe zu geben. Die Wahrheit ist jedoch: Schuld ist das gesamte System des imperialistischen Kapitalismus und muss deshalb gestürzt werden, um weitere und noch schlimmere Katastrophen zu verhindern.