Do 29.08.2013
Eine Definition von Armut kann abhängig von Ort und Zeit völlig anders ausfallen und ist überdies vom sozialen, politischen und kulturellen Blickwinkel abhängig. Oftmals wird mittels Begriffen wie „absolut“, „relativ“ und „gefühlt“ eine grobe Unterscheidung getroffen. Wikipedia fasst Armut als „primär mangelnde Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Kleidung, Nahrung, Wohnung, Gesundheit“ zusammen. Grundlegender formuliert ist es die materielle Verhinderung an der umfangreichen Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Mehr Informationen dazu auf www.armutskonferenz.at unter "Armutskonzepte".
Mitunter sind die Auswirkungen von Armut erst auf den zweiten oder dritten Blick erkennbar. Wem sieht man beim Spazierengehen schon an, dass er oder sie die Kreditraten fürs dringend benötigte Fahrzeug nicht mehr zahlen kann? Zu den allgemein anerkannten Bewertungs-Kriterien für Armut zählt z.B. die Möglichkeit, ein unerwartetes Ereignis (etwa Defekt von Haushaltsgeräten) bis zu ca. 950 € jederzeit ohne Verschuldung begleichen zu können. Wer diesen Punkt nicht erfüllt, muss noch lange nicht hungern oder seine Wohnung verloren haben. Die materielle Basis ist im Wesentlichen das verfügbare Einkommen. Doch oft müssen mehrere Menschen mit einem gegebenen Einkommen auskommen (Stichwort: AlleinerzieherInnen).
Armut ist selbst in reichen Ländern allgegenwärtig. In der EU gibt es erst seit 2003 Armutserhebungen (EU-SILC). Als Armutsgefährdungsschwelle werden 60 % des statistischen Medians des Pro-Kopf-Haushaltseinkommens herangezogen. Das Problem dieser Methode: durch die Koppelung an diesen Einkommens-Median wird die tatsächliche Armut zunehmend verschleiert, da sich die Schwellwerte aufgrund der Tendenz sinkender Löhne im Verhältnis zu den Preisen immer mehr von dem entfernen, was Menschen eigentlich zum (guten) Leben brauchen. Die Werte werden zwar der allgemeinen Inflation angepasst. Doch jene Warengruppen, die für armutsgefährdete Menschen zentral sind (Energie und Lebensmittel) steigen im Gegensatz zum offiziell festgelegten Warenkorb überdurchschnittlich stark. Für eine alleinstehende Person liegt die SILC-Schwelle derzeit bei 1.066 € (netto 12 x pro Jahr). Bei einer Familie mit zwei Kindern sind es schon 2.238 € netto. Diese Zahlen markieren die offizielle EU-Bewertung für Österreich. Die angeblich zur „Bekämpfung der Armut“ eingeführte Mindestsicherung beträgt jedoch für eine Einzelperson nur 793 €.
Weit mehr als eine Million Menschen in Österreich sind arm oder akut armutsgefährdet. Davon ist ein bedeutender Teil „arm trotz Arbeit“, im Englischen „working poor“ genannt. Über 500.000 leben in „working poor“-Haushalten. Über diese Tatsachen ist der SPÖ-Sozialminister Hundstorfer skandalöserweise … erfreut (!), da die working-poor-Rate im EU-Vergleich im unteren Viertel liegt. Das bedeutet jedoch nur, dass es in anderen Teilen Europas noch schlimmer steht. Ach ja, ein wichtiger Hinweis zur Entwicklung der Statistik über die letzten zehn Jahre: Die Zahl der offiziell berechneten working poor sinkt deshalb, da durch die kapitalistische Krise viele den Job verloren haben und somit nun unter den „gewöhnlichen“ Armen gelistet werden und nicht mehr als "working poor". Es gibt somit für uns, im Gegensatz zur SPÖVP-Regierung, keinen Grund zur Entwarnung.
Laut Arbeitsklimaindex 2010 der Arbeiterkammer kommen 10 % der Beschäftigten mit ihrem Einkommen nicht aus. Die Mehrzahl davon arbeitet Vollzeit (über 36 Wochenstunden) sowie ganzjährig. Wenn sich die kapitalistischen Eliten weiterhin mit dem Kahlschlag bei Sozialleistungen sowie Löhnen und Gehältern durchsetzen, könnten in absehbarer Zeit mehr als 40 % der Bevölkerung an oder (weit) unter die Armutsgrenze gedrängt werden. Zusätzlich kann ein erneuter Einbruch der Krise in Rekordzeit selbst vermeintlich stabile „Mittelschichten“ aus allen Wolken holen. Ein Blick nach Griechenland genügt.
Im Kapitalismus sind die meisten Menschen gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen; ob als ArbeiterIn, AngestellteRr oder (Schein-)SelbständigeR. Der Preis für diese Arbeitskraft ist (immer) niedriger als der Wert, welcher durch die Arbeit geschaffen wird. Um im branchenweiten und darüber hinaus globalen Konkurrenzkampf bestehen zu können, sind die Unternehmen gezwungen, das Verhältnis weiter zuungunsten der Beschäftigten zu verschieben – mit legalen und illegalen Mitteln. Das Wachstum der Produktivität spiegelt sich nicht in entsprechenden Lohnerhöhungen wider. Dass eine große Zahl von Menschen dadurch weniger Kaufkraft und Lebensqualität hat, wird aus dieser Sichtweise heraus als geringeres Übel angesehen. Unterm Strich ist das Vorhandensein von Armut und Arbeitslosigkeit für KapitalistInnen sogar vorteilhaft: Man kann Menschen lohn- und arbeitszeitmäßig leichter erpressen, wenn es anderen noch schlechter geht. Der eindeutige Beleg für diese Tendenzen ist die seit Beginn der 1980er Jahren sinkende Lohnquote (Anteil der ArbeitnehmerInnen-Einkommen am Gesamteinkommen). Gleichzeitig wächst die Sockel-Arbeitslosigkeit. Der Prozess der Prekarisierung, die „McJobs“ & „Arbeit auf Abruf“, verschlechtern die Situation aller Beschäftigten und Erwerbsarbeitslosen. Das rasche Aufeinanderfolgen von Krisen und die daraus folgende verstärkte Ausbeutung von Arbeit seit den 1980ern wurde durch Gewerkschaften und SPÖ NICHT bekämpft. Im Gegenteil führte die SPÖ die neoliberalen Angriffe mit an. Und vom ÖGB kommen nur Lippenbekenntnisse. Eine Folge all dessen sind die vielen „working poor“.
Im Zuge dieses neoliberalen Kahlschlags der letzten Jahrzehnte expandierten die Niedriglohnbereiche, v.a. Einzelhandel, Dienstleistungen (z.B. Gastronomie und Reinigung) sowie Leiharbeit, u.a. in Produktionsberufen. In diesen Sektoren ist ca. ein Drittel der Frauen tätig. Besonders betroffen sind hier auch MigrantInnen. Doch „working poor“ gibt es nicht nur im Niedriglohnsektor. Auch ist das „Phänomen“ keineswegs neu oder „aus Amerika“. Gerade in den Anfangsphasen des Kapitalismus in Europa, während der Industriellen Revolution des späten 18. und gesamten 19. Jahrhunderts, war drückende Armut unter ArbeiterInnen nicht die Ausnahme, sondern die Regel: ungesunder sowie nicht ausreichender Wohnraum, 12-14 Arbeitsstunden am Tag, Hunger, Null Urlaub, kaum kulturelle Aktivitäten, Alkoholismus. Ebenso waren die beiden Weltkriege inklusive Zwischenkriegszeit Phasen weit verbreiteten Mangels – trotz Arbeit. Lohnarbeit ist für (gutes) Leben nur dann ausreichend, wenn sich Lohnabhängige dies gemeinsam erkämpfen; wobei diese Errungenschaften im Kapitalismus nicht von Dauer sind. Oder wenn die Umstände für eine gewisse Phase „Wohlstand durch Arbeit“ ermöglichen: Die Situation von Beschäftigten im Österreich der Nachkriegszeit fußte auf zwei Besonderheiten: dem Nachkriegsaufschwung ab den 1950er Jahren sowie der Sonderrolle innerhalb der geo-politischen Lage des Kalten Krieges, welche Zugeständnisse für viele (wenn auch leider nicht alle) ArbeitnehmerInnen ermöglichte. Diese Lage hat sich seit den 1980er Jahren geändert. Auf den Punkt gebracht: die Normalität des Kapitalismus ist die Krise, nicht der sozialpartnerschaftliche Kompromiss!