Mo 29.06.2020
Ab dem 1. Juli droht die neue israelische Koalitionsregierung, unterstützt von der US-Trump-Regierung, mit einer offiziellen Annexion von bis zu 30% des besetzten Westjordanlandes an den Staat Israel.
Selbst eine Annexion in kleinerem Maßstab würde einen immensen Schlag gegen die demokratischen und nationalen Ambitionen von Millionen Palästinenser*innen markieren; insbesondere gegen die Idee eines palästinensischen Staates, der neben Israel existiert. Dies ist ein bedeutender Wendepunkt im israelisch-palästinensischen Konflikt.
Darüber hinaus würden Schritte in diese Richtung, die Teil eines Konzepts im Geiste der Apartheid sind, auch die Hoffnungen von Millionen israelisch-jüdischer Arbeiter*innen und Armen auf Frieden und Sicherheit weiter schmälern.
Diese Bedrohung hat bereits zu Protesten und scharfer Opposition auf beiden Seiten der nationalen Spaltung und international geführt. Dazu gehören Tausende von Palästinenser*innen im Westjordanland und Tausende von Jüd*innen und Palästinenser*innen in Israel, die gegen den Plan protestiert haben.
Gleichzeitig hat sie unweigerlich auch eine Dynamik der Eskalation nationaler Spannungen ausgelöst. Das israelische Militär hat sich Berichten zufolge auf eine "Kriegssituation" vorbereitet.
Führende Funktionäre der beiden dominierenden palästinensischen Fraktionen, Hamas und Fatah, haben davor gewarnt, dass jede israelische Annexion im Westjordanland zu einem neuen allgemeinen Aufstand, einer Intifada, führen würde. Saleh al-Arouri, stellvertretender Leiter des politischen Büros der Hamas, der rechts-islamistischen Bewegung, die die lokale Führungsgruppe im Gazastreifen ist und unter brutaler israelisch-ägyptischer Blockade steht, warnte im Fernsehsender Al-Resalah TV mit Sitz im Gazastreifen: "Wir können nicht ausschließen, dass im Gefolge der israelischen Aggression die Konfrontation einen Punkt erreicht, der zu einer militärischen Eskalation führen könnte".
Die Antwort der Palästinensischen Autonomiebehörde
Der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Mahmoud Abbas, erklärte am 19. Mai die Beendigung aller schriftlichen Vereinbarungen mit Israel und den USA. Dies ist ein populärer Schritt. Ähnliche Ankündigungen sind in den letzten Jahren mehrmals gemacht worden, aber zuvor hatten sie keine praktischen Konsequenzen. Die vollständige Umsetzung dieser Idee würde die Auflösung oder den Zusammenbruch der Palästinensischen Autonomiebehörde selbst bedeuten, womit Abbas im Anschluss an ein Annexionsszenario droht. Die Fatah-Führung der Palästinensischen Autonomiebehörde und die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) werden jedoch wahrscheinlich nicht so weit gehen, wenn sie nicht durch Massendruck gezwungen werden, da dies die Interessen der PA-Elite gefährden und das Scheitern ihrer eigenen nationalen Befreiungsstrategie unterstreichen würde. Dennoch sind diesmal bedeutende Schritte unternommen worden, um die Koordinierung der Sicherheitsmaßnahmen mit dem israelischen Militär auszusetzen.
Darüber hinaus hat die Regierung der Palästinensischen Autonomiebehörde in einem problematischen Schritt beschlossen, die monatlichen Löhne und Gehälter der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes nicht zu zahlen, und verlangt, dass der Besatzungsstaat sie direkt zahlt, was in diesem Stadium offensichtlich nicht geschehen wird. Dies geschieht, während die Wirtschaft der PA in eine tiefe Rezession abrutscht, die durch die Umsetzung von Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie beschleunigt wird. Die Weltbank rechnet für dieses Jahr mit einem Einbruch des BIP der PA um 7,6-11%, wobei sich die offizielle Armutsquote in den Enklaven der PA von 14% auf 30% mehr als verdoppeln wird. In Gaza ist diese Zahl von 53% auf 64% sprunghaft angestiegen.
So entwickelt sich die Wut über den Annexionsplan vor dem Hintergrund der massenhaften Frustration angesichts akuter Wirtschaftskrise und Pandemie. Bei der ersten großen Kundgebung der PA am 22. Juni in Jericho wurden im Rahmen sozialer Distanzierungsmaßnahmen einige Tausende mobilisiert. Weitere Kundgebungen sind geplant. Aber wenn eine Annexion erklärt wird, kann auch massiv Wut ausbrechen und außerhalb der Kontrolle der PA-Beamten eskalieren. Die verzweifelte Lage der Palästinensischen Autonomiebehörde spiegelt sich in Abbas' kürzlich abgegebenem Angebot wider, unverzüglich in Verhandlungen mit der neuen israelischen Regierung einzutreten, wenn diese im Gegenzug die Annexionsdrohung aussetzt.
Parallel dazu hofft die Palästinensische Autonomiebehörde weiterhin, vom israelischen Regime durch eine Klage gegen Israel vor dem Internationalen Strafgerichtshof wegen Kriegsverbrechen einen politischen Preis zu fordern. Dies wurde von Premierminister Benjamin Netanjahu bei der ersten Sitzung der neuen Regierung als "strategische Bedrohung für den Staat Israel" bezeichnet. Wenn eine umfassende Untersuchung eingeleitet wird, kann sie internationale Haftbefehle für hochrangige israelische Staats- und Militärbeamte bedeuten. Dies würde dem israelischen Regime erhebliche diplomatische Schwierigkeiten bereiten und wahrscheinlich mehr internationale Aufmerksamkeit und Widerstand gegen die israelische Besetzung auf sich ziehen.
Das Töten in Ost-Jerusalem und die israelische öffentliche Meinung
Angesichts der drohenden Annexion sind die Angriffe israelischer Truppen und kolonialer Siedler*innen auf Palästinenser*innen im Westjordanland und in Ostjerusalem allgemein eskaliert.
Die Ermordung von Eyad al-Hallaq, einem 32-jährigen Palästinenser mit Autismus, am 30. Mai im besetzten Ostjerusalem durch israelische "Grenzpolizei"-Soldaten war ein anschauliches Beispiel für die Brutalität der israelischen Besatzung in einem Gebiet, das bereits unmittelbar nach dem Besatzungskrieg von 1967 offiziell von Israel annektiert worden war.
Die kleinen aber wichtigen Proteste nach dieser Tötung betrafen Palästinenser*innen und Israelis und waren inspiriert von der BLM-Rebellion in den USA, wobei einige den Slogan "Palestinian Lives Matter" (Palästinensische Leben zählen) verwendeten. Israelisch-jüdische Aktivist*innen äthiopischer Herkunft zogen einen Vergleich zwischen diesem Fall und der rassistischen Polizeibrutalität, unter der israelisch-äthiopische Jüd*innen zu leiden haben. Sie lösten eine Reihe von stürmischen Protesten aus, zuletzt im Juli 2019. Als Reaktion auf die Ermordung von al-Hallaq vergoß das israelische Establishment, darunter auch Netanjahu, einige Krokodilstränen und erkannte das Potential einer stärkeren Reaktion.
Doch trotz Netanjahus Besorgnis über eine mögliche Untersuchung in Den Haag ist klar, dass jeder Annexionsschritt in der nächsten Zeit scharfen Widerstand gegen die israelische Besatzung und das israelische Regime im Allgemeinen auslösen wird.
Die israelische öffentliche Meinung selbst ist in dieser Frage polarisiert. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage ergab, dass lediglich 4% den Annexionsplan als wichtigste Aufgabe der neuen israelischen Regierung betrachten, während 68% die Wirtschaftskrise mit über 20% Arbeitslosigkeit benannten. An zweiter Stelle stand der Kampf gegen die Covid19-Pandemie. Was die Unterstützung für einen Annexionsschritt selbst betrifft, so variieren die Zahlen in den Umfragen, beeinflusst durch die Art und Weise, wie die Frage formuliert wird. Es besteht offenbar Verwirrung. Die Unterstützung für einen konkreten Schritt von Netanyahu entspricht im Allgemeinen der Anhängerschaft von Netanjahus Block und der extremen Rechten, und selbst das ist widersprüchlich. In einigen Umfragen liegt die Unterstützung für eine sofortige Annexion nur bei etwa 25%.
Die begrenzte Unterstützung durch die Bevölkerung in der israelischen Gesellschaft spiegelt auch die schwache Basis für die demagogischen 'Sicherheits-Argumente' wider, mit denen die Unterstützung für eine Annexion mobilisiert werden soll. Der ehemalige israelische Premierminister Ehud Olmert, der vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen wurde, sagte auf der in London ansässigen saudi-arabischen Nachrichtenwebsite Elaph, es sei "Unsinn", zu behaupten, Israel brauche das Jordantal aus Sicherheitsgründen, und dass "die Annexion zu einer Katastrophe führen wird".
Die israelische herrschende Klasse, besorgt über längerfristige strategische Bedenken, ist in dieser Frage offen gespalten. Die Führer*innen der beiden politischen Blöcke, die diese außerordentliche "Rotationsregierung" mit einem Premierminister und einem stellvertretenden Premierminister bilden, die im nächsten Jahr die Plätze tauschen sollen, debattieren noch darüber, ob und mit welchen konkreten Schritten sie vorankommen sollen. Bisher gab es in den Sitzungen der israelischen Regierung noch keine offizielle Diskussion über die tatsächlichen Einzelheiten einer Karte, die Haushaltskosten, die möglichen Auswirkungen usw.. Es kann sehr wohl sein, dass eine fehlende Einigung in dieser Frage letztendlich eine weitere Wahl auslösen wird, die vierte innerhalb eines Jahres.
Dennoch ist die Bedrohung real. Die Koalitionsvereinbarungen erlauben es Premierminister Netanjahu, die Frage entweder auf Regierungs- oder auf Parlamentsebene zu entscheiden. In beiden Fällen würde er eine Mehrheit erhalten. Er hat bisher behauptet, er sei entschlossen, einen Annexionsschritt durchzuführen, der in Phasen umgesetzt werden soll, ganz offensichtlich in dem Versuch, die Opposition einzuschränken.
Trumps "Friedensplan"
Die Annexions-Initiative soll Trumps imperialistischen "Friedensplan", den sogenannten "Deal des Jahrhunderts", aufgreifen, der im Januar im Weißen Haus zusammen mit Netanjahu und drei pro-US-Botschaftern der arabischen Golfstaaten eingeführt wurde, wobei die Veranstaltung von palästinensischen Beamten boykottiert wurde. Er setzte die Logik von Trumps Serie extrem provokanter Schritte zur Unterstützung der israelischen Besatzung, Enteignung und Unterdrückung der Palästinenser*innen in den Fragen Jerusalem, israelische Siedlungen und palästinensische Flüchtlinge sowie die Kürzung der Finanzhilfe für die Palästinenser*innen im Westjordanland und im Gazastreifen fort.
Der Plan bietet den USA Unterstützung für eine Annexion von etwa 30% des Westjordanlandes durch den israelischen Staat, ohne das Recht auf eine palästinensische Hauptstadt in Jerusalem, zusammen mit anderen Provokationen. Diese Position ist nicht einmal mit dem Vorwand von Verhandlungen und politischen Vereinbarungen zwischen Israel und den Palästinenser*innen verbunden.
In territorialer Hinsicht bietet dieser zynische und fast schon possenhafte Plan den Palästinenser*innen hypothetisch die nationale "Kontrolle" über 15% des historischen Palästina an, und zwar unter Bedingungen, die nie eintreten sollen und in einer Form schlimmer als ein Bantustan ("Heimatgebiet" für Schwarze in Südafrika während der Apartheid), mit einem unterworfenen und zerstückelten Marionettenstaat. Mit Netanjahus eigenen Worten:
"Der Prozess würde weitergehen, wenn sie tatsächlich etwa zehn harte Bedingungen erfüllen würden, zu denen die israelische Souveränität im Jordantal, die Beibehaltung der Einheit Jerusalems [ausschließlich unter israelischer Kontrolle], der Nichteinzug auch nur eines einzigen [palästinensischen] Flüchtlings, die Nicht-Wurzelung von Siedlungen und die israelische Souveränität in weiten Teilen von Judäa und Samaria [Westjordanland] und mehr gehören. Sie müssen anerkennen, dass wir der sicherheitspolitische [militärische] Herrscher in dem gesamten Gebiet sind. Wenn sie mit all dem einverstanden sind, dann hätten sie eine eigene Entität, die Trump als Staat definiert. Wie ich einem US-Staatsmann sagte: "Sie können es nennen, wie Sie wollen". In der Essenz von Trumps Plan gibt es Elemente, von denen wir nur träumen konnten". - Israel HaYom, 28. Mai
Die wichtigste offizielle Organisation der israelischen Kolonialsiedler*innen, der Yesha-Rat, hat sich wegen des Verweises auf einen sogenannten palästinensischen Staat und des symbolischen Antrags auf ein vierjähriges Einfrieren des israelischen Siedlungsbaus außerhalb des annektierten Gebiets gegen den Trump-Plan ausgesprochen. Aber letztlich streben sie eine möglichst weitgehende Annexion an. Einer der Führer*innen der Siedlerbewegung erklärte, dass "die Umsetzung der Souveränität [Annexion] wichtig ist, um die Vorstellung zu zerstören, dass es hier eine Besetzung gibt".
Im Allgemeinen erkennen die reaktionärsten Elemente in der israelischen herrschenden Klasse und der israelischen Gesellschaft insgesamt ein schmales "historisches" Zeitfenster für die volle rechtliche Sanktionierung, die Normalisierung und weitere Legitimierung des Landraubs von den Palästinenser*innen im Westjordanland und einen Schlag gegen die Idee eines palästinensischen Staates. Über ihre möglichen Hoffnungen hinaus, dass die Pandemie die Aufmerksamkeit und den Widerstand gegen den Plan bremsen wird, erkennen sie, dass Trump die Präsidentschaftswahlen im November verlieren könnte; besonders jetzt, angesichts der Wirtschaftskrise, der Pandemie und der rebellischen Massenbewegung in den USA. Der Druck auf seine Regierung wird um so stärker, sich von einer ausdrücklichen Unterstützung zurückzuziehen, je länger sie warten.
Es wird bereits berichtet, dass Trumps Vermittler, sein Schwiegersohn Jared Kushner, als Vorbedingung fordert, dass die beiden Blöcke in der israelischen Regierung zu einer Einigung in dieser Frage kommen, was keineswegs sicher ist. Beide Blöcke unterstützen den Trump-Plan, wie auch Teile der pro-kapitalistischen Opposition. Jedoch unterscheiden sie sich konkret in Bezug auf eine "einseitige" Annexion.
Die Spaltung in der israelischen herrschenden Klasse hinsichtlich der Idee einer sofortigen Annexion gründet auf den Ängsten, die sie sowohl vor den unmittelbaren als auch den längerfristigen strategischen Auswirkungen auf allen Ebenen haben, nicht zuletzt vor einem möglichen palästinensischen Aufstand und einer Vertiefung der wirtschaftlichen Rezession in Israel. Jede Art von offiziellen Annexionsschritten in diesem Zeitraum wird ein Spiel mit dem Feuer sein.
Internationale Beziehungen
Aus der Sicht der internationalen Beziehungen und der geostrategischen Allianzen des israelischen Kapitalismus kann mehr erwartet werden als die üblichen hohlen diplomatischen Verurteilungen. In dieser explosiven Periode der globalisierten kapitalistischen Krise kann sich die Massensolidarität gegen die Unterdrückung von Palästinenser*innen in einigen Ländern zu energischeren Aktionen der Bevölkerung und der Arbeiter*innenklasse entwickeln und erheblichen Druck auf kapitalistische Regierungen ausüben. Initiativen für internationale Solidarität, einschließlich verschiedener Protest-Boykott-Kampagnen, wie z.B. "Boykott, Investitionsabzug und Sanktionen" (BDS), werden wahrscheinlich wieder aufflammen.
Eine neu erzwungene Grenze wird keine nennenswerte internationale Anerkennung erfahren und könnte unter Druck sogar von einer künftigen US-Regierung wieder aufgehoben werden. Joe Biden hat sich bereits ausdrücklich gegen eine Annexion ausgesprochen. Dies ist die Mainstream-Haltung der herrschenden Klasse bezüglich internationaler Beziehungen und des Geheimdienst-Apparats in den USA. Sie sind besorgt darüber, dass jede Destabilisierung die Interessen des US-Imperialismus in der Region beeinträchtigen könnte, und auch über die innenpolitische öffentliche Meinung, die der israelischen Besatzung zunehmend kritisch gegenübersteht. Politische Strateg*innen der israelischen herrschenden Klasse warnen seit einigen Jahren davor, dass die Unterstützung für das Land von Seiten der USA in einem noch nie dagewesenen Ausmaß an Rückhalt verliert. Dies hat insbesondere die Basis der Demokratischen Partei getroffen, die historisch gesehen eher "pro-israelisch" war. Dies könnte für das israelische Regime unter künftigen demokratischen Regierungen zu einem ernsthaften Problem werden.
Auch der Druck aus Europa wird zunehmen. Der deutsche Außenminister stattete Israel seinen ersten Besuch nach der Abriegelung ab, um davor zu warnen, dass seine Regierung die Annexion ablehnt. Andere europäische Regierungen könnten den symbolischen Schritt wiederholen, den die schwedische Regierung 2014 nach dem schrecklichen Gaza-Krieg in jenem Jahr unternommen hat, um einen palästinensischen Staat offiziell anzuerkennen. Einige könnten auf eine Verschärfung der Sanktionen gegen die israelischen Siedlungen im Westjordanland drängen, und je nach Verlauf der Ereignisse möglicherweise sogar bis zu einem gewissen Grad gegen Israel selbst. Da die EU jedoch der größte Handelspartner des israelischen Kapitalismus ist und eine ganze Reihe weiterer Interessen auf dem Spiel stehen, könnten andere EU-Mitgliedstaaten größere Sanktionen vereiteln, insbesondere angesichts einer Zeit wachsender Krise und Spaltung in der EU selbst. Eine klares Beispiel bezüglich der Ohnmacht der europäischen kapitalistischen Reaktion wurde am 18. Juni gegeben, als das Europäische Parlament mit großer Mehrheit das "Open-Skies"-Abkommen mit Israel ratifizierte.
Regionaler Kontext
Auf regionaler Ebene wird selbst eine "verkleinerter" israelische Annexion den Prozess untergraben, der in den letzten Jahren zu einer wachsenden Allianz zwischen den wichtigsten pro-amerikanischen arabisch-sunnitischen Regimes und Israel gegen den Iran geführt hat. Unter anderem Saudi-Arabien, Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar unterstützen Trumps Plan und haben bereits eingegriffen, um die Palästinensische Autonomiebehörde unter Druck zu setzen, vor Trump zu kapitulieren und eine ganze Reihe von Verhandlungen über den Plan zu akzeptieren. Die sich entwickelnde kapitalistische Krise, die mit den Komplikationen der Pandemie verbunden ist, fließt jedoch in die revolutionären Umbrüche ein, wie wir im vergangenen Jahr in einer Reihe von Ländern gesehen haben. Dies hat schwerwiegende Auswirkungen auf das strategische Kalkül der reaktionären arabischen Regimes.
Jeder israelische Annexionsschritt könnte unter den palästinensischen und arabischen Massen einen riesigen Aufstand auslösen, was weitere radikalisierende Auswirkungen hätte, da er unmittelbar nach einer Welle revolutionärer Bewegungen in Algerien, Sudan, Irak und Libanon und einem wachsenden Klassenkampf in Jordanien erfolgen würde.
Während die sudanesische Regierung, die sich auf eine teilweise Normalisierung der Beziehungen zu Israel zubewegt hat und infolgedessen im eigenen Land einem weitreichenden Aufschrei der Bevölkerung ausgesetzt war, versucht hat, dem Thema auszuweichen, ist es kein Zufall, dass Jordanien, Algerien und der Irak zu den einzigen arabischen Staaten gehören, die eine offene Ablehnung des Trump-Plans zum Ausdruck gebracht haben. Ein weiterer Punkt, der für einige der sunnitisch-arabischen herrschenden Klassen Anlass zur Sorge gibt, ist die Möglichkeit, dass das iranische Regime und seine Verbündeten in der gesamten Region ein Annexionsszenario ausnutzen könnten, um unter dem falschen Vorwand der 'Solidarität mit den Palästinenser*innen' die Unterstützung der Bevölkerung zu mobilisieren und gegen Verbündete der USA und Israels letztlich militärisch zurückzuschlagen.
So spielen einige der arabischen Regimes in dieser Frage ein doppeltes Spiel, wie eine Dringlichkeitssitzung der Außenminister der Arabischen Liga in Kairo auf Ersuchen der Palästinensischen Autonomiebehörde am 1. Februar gezeigt hat. Dieses Treffen brachte den US-Präsidenten in Verlegenheit, indem es seinen Plan einstimmig ablehnte, leere Rhetorik über "die zentrale Bedeutung der palästinensischen Sache für die gesamte arabische Nation" wiederholte und ein Bekenntnis zu der von der Arabischen Liga 2002 unter saudi-arabischer Führung durchgeführten arabischen Friedensinitiative der Arabischen Liga bekräftigte, die den israelischen Rückzug aus den besetzten Gebieten von 1967 als Gegenleistung für die vollständige Normalisierung der Beziehungen fordert. Bei einem späteren Treffen Ende April wurde bekräftigt, dass die israelische Annexion "ein Kriegsverbrechen" sei.
Der Botschafter der Vereinigten Arabischen Emirate in den USA, Yousef Al Otaiba, der bei der Vorstellung des "Friedensplans" im Januar zusammen mit Trump im Weißen Haus stand, schrieb fünf Monate später den ersten Artikel eines VAE-Beamten in hebräischer Sprache in einer israelischen Zeitung, mit einem direkten Appell an die Israelis mit einer leisen Warnung, dass der gegenwärtige Prozess der wachsenden formellen israelisch-arabischen Verbindungen umgekehrt werden könnte.
Andere Elemente unter den pro-amerikanisch-arabischen Regimes könnten sich in dem Versuch, die Solidaritäts-Gefühle der Massen gegen die Unterdrückung der Palästinenser*innen auszunutzen und die Wut der herrschenden Eliten abzulenken, zu schärferen Verurteilungen hinwenden und möglicherweise sogar zu einer anti-israelischen nationalistischen Rhetorik zurückkehren.
Der jordanische König Abdullah hat zwar ein unpopuläres Friedensabkommen mit Israel aufrechterhalten, und das in einem Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung palästinensischer Herkunft ist. Jedoch hat er vor dem Hintergrund sozialer Unruhen eine Zeit lang das falsche Bild einer militanteren Haltung gegenüber Israel vermittelt. Im Januar sah sich das jordanische Parlament nach Protesten der Bevölkerung gezwungen, ein Abkommen über den Import von Erdgas aus Israel aufzuheben. Zwei historische israelische Landwirtschaftsenklaven in Jordanien, die zuvor als gepachtet definiert worden waren, wurden in den letzten Monaten aufgelöst, um die volle jordanische Kontrolle zurückzuerlangen. Nun hat der König davor gewarnt, dass Jordanien als Reaktion auf eine israelische Annexion harte Vergeltungsmaßnahmen ergreifen werde. Ebenso hat er nicht geleugnet, dass dies letztendlich die Aussetzung des Friedensabkommens beinhalten könnte. Der jordanische Außenminister Ayman a-Safadi unterstrich, dass "die Annexion nicht ohne Vergeltungsmaßnahmen erfolgen wird. Ihre Umsetzung wird den Konflikt entfesseln und die Allianz zwischen den beiden Ländern unmöglich machen".
Trumps Unterstützung für israelische nationalistische Reaktion
Der Aufstieg Trumps zur Macht vor fast vier Jahren fiel mit der Dominanz konterrevolutionärer Tendenzen im Nahen Osten zusammen. Dies trug dazu bei, die vorherige israelische Koalitionsregierung zu unterstützen, die eine der rechtsgerichtetsten in der Geschichte Israels war. Die Trump-Regierung hat das Vertrauen der ultra-zionistischen Anhänger*innen der Kolonialsiedlungen und desjenigen Flügels der israelischen herrschenden Klasse, der Formen eines expansionistischen "Groß-Israel"-Programms unterstützt, enorm gestärkt. Der Siedlungsbau wurde beschleunigt. Im Jahr 2017 verabschiedete das Zentralkomitee der regierenden Likud-Partei eine Resolution, in der die Regierung aufgefordert wurde, die "Souveränität" über das Westjordanland "umzusetzen".
Es dauerte jedoch nicht lange, bis Netanjahus Korruptionsskandale und verschiedene Aspekte der reaktionären Regierungspolitik die politische Polarisierung in der israelischen Gesellschaft schürten, Gegenbewegungen auslösten und einen kapitalistischen Oppositionsblock aus ehemaligen Generälen und Netanjahus Rivalen mit unterschiedlichem Hintergrund herauskristallisierten.
Dieser breite Anti-Netanjahu-Block konzentrierte sich auf die Fragen der Korruption und Netanjahus rechtspopulistische Angriffe auf staatliche Institutionen. Für einen großen Teil dieses Blocks ging es bei dieser Kampfansage gegen Netanjahus Herrschaft jedoch um viel mehr. Sie kam nach Jahren des lautstarken Widerstands ehemaliger Generäle und hochrangiger Beamter des Sicherheitsapparats, die sich gegen das ihrer Ansicht nach rücksichtslose abenteuerliche Verhalten Netanjahus in geostrategischen und nationalen Fragen ausgesprochen haben. Diese Elemente neigen auch dazu, Trump als einen unzuverlässigen Verbündeten für die längerfristigen Interessen des israelischen Regimes zu betrachten.
Die Blau-Weiß-Allianz wurde für Netanjahu zur größten Herausforderung bei den Wahlen. Doch ihr Versagen, Teile seiner Basis wirklich anzusprechen, führte bis zur Einsetzung der neuen Regierung zu einer beispiellosen politischen Krise, da kein Block in der Lage war, selbst nach drei Parlamentswahlen eine Mehrheitsregierung einzusetzen.
Selbst bei den letzten Wahlen im März gelang es Netanyahu nicht, eine Mehrheit zu erreichen. Doch während dieser Wahlkampagnen versuchte er, den Nationalismus aufzupeitschen, indem er sich mit all den Geschenken brüstete, die er von der Trump-Administration erhalten hat, darunter die Anerkennung Jerusalems als einzige israelische Hauptstadt, die Anerkennung der Annexion der Golanhöhen und das Versprechen, Israel bei der "Umsetzung der Souveränität " im Westjordanland zu unterstützen. Während des Wahlkampfs im September 2019 kommentierte Naftali Bennet, der Führer der religiösen Siedlerpartei "Rechts", "vor acht Jahren habe ich dasselbe gesagt, und man nannte mich einen Verrückten". Damals, während der US-Administration Obama, war Netanjahu selbst gezwungen, einige Lippenbekenntnisse zur Idee eines "palästinensischen Staates" abzugeben, und 2009 setzte er einen kurzen teilweisen Baustopp für Siedlungen durch. Dann gab es weniger Rückenwind, um die Annexionsbestrebungen der hartgesottenen rechten Siedler-Bewegung voranzutreiben.
Der Blau-Weiß-Block, der Anfang des Jahres den Weg für die Bildung einer gemeinsamen Regierung mit Netanjahu ebnete, enthält nicht nur Annexions-Anhänger*innen, sondern hat auch mit dem Gedanken gespielt, dass er für die Unterstützung der Annexion eintreten könnte, solange die vage Bedingung der US-amerikanischen und internationalen Vereinbarung erfüllt ist. Bis jetzt ist nicht klar, ob die blau-weißen Regierungschefs so handeln werden, dass sie jede Art von Annexionsplan behindern. Die Überbleibsel der Arbeitspartei in der Regierung haben sich symbolisch gegen die Annexion ausgesprochen, aber das ist unbedeutend.
Am 9. Juni wurde durch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs das israelische Gesetz zur Regulierung von Siedlungen von 2017 aufgehoben, das die Enteignung von palästinensischem Land in Privatbesitz im Westjordanland für israelische Siedlungen rechtlich sanktioniert hatte. Als Beispiel für die Dynamik in der Regierungskoalition forderten blau-weiße Vertreter*innen die Einhaltung des Urteils, während Stimmen aus Netanjahus Block forderten, es per Gesetz zu umgehen. Doch die Unterstützung von Blau-Weiß ist in den Meinungsumfragen zusammengebrochen, und sie haben von einer Neuwahl weitaus mehr zu befürchten als Netanjahu, dem es trotz seines Korruptionsprozesses gelungen ist, in den Umfragen in die Höhe zu schießen, nachdem er seine wichtigste parlamentarische Opposition erfolgreich in Stücke gerissen hat.
Strategisches Dilemma der israelischen herrschenden Klasse
Obwohl die israelischen Regierungen seit 1967 die kolonialen Siedlungen in immer größerem Umfang als eine Form der schleichenden Annexion gefördert und vor Ort ethnisch-demographische Fakten geschaffen haben, haben sie alle von einer offiziellen Annexion abgesehen. Der Hauptgrund dafür war das demographische Gleichgewicht. Anders als das frühere Apartheid-Regime in Südafrika ist der israelische Kapitalismus weit weniger von der Arbeiter*innenklasse der unterdrückten Nation abhängig, die aus zionistischer Sicht in dem einen oder anderen Ausmaß letztlich eine "demographische Bedrohung" für einen mehrheitlich jüdischen "jüdischen Staat" darstellt. Der Zionismus, einschließlich des heutigen israelischen Staates, hat sich immer auf eine Politik der "Judaisierung" gestützt und danach gestrebt, die Kontrolle über ein Territorium durch die Herstellung des national-ethnischen demographischen Gleichgewichts zu garantieren. Nach dem imperialistischen UN-Teilungsplan von 1947 wurde diese Logik in der palästinensischen Nakba, der Katastrophe während des Krieges von 1948, auf brutalste Weise angewandt, als Hunderttausende Palästinenser*innen zu Flüchtlingen wurden und Hunderte Gemeinden von der Landkarte ausradiert wurden.
Im Krieg von 1967 wurden mehr Palästinenser*innen zu Flüchtlingen. Bald nach diesem Krieg begann sich in Regierung und herrschender Klasse eine Debatte über die Zukunft der neuen besetzten palästinensischen Gebiete zu entwickeln. Während die Idee eines palästinensischen Staates in irgendeinem Teil des historischen Palästina als potenzielle Bedrohung betrachtet wurde, waren sie vor allem besorgt, dass die Annexion des Gebiets, in dem sich die Masse der palästinensischen Bevölkerung befindet, die israelisch-jüdische Bevölkerung zu einer Minderheit machen und letztlich entweder zu einem bi-nationalen Staat (was das Ende der Idee eines "jüdischen Staates" und möglicherweise ein Übergang zu einem palästinensischen Nationalstaat wäre) oder zu dem Versuch führen würde, einen ausdrücklichen Apartheids-Staat zu festigen, der seine Legitimität verlieren und instabiler werden würde. Die "Bedrohung" eines bi-nationalen Staates bleibt auch heute noch ein Hauptargument, das von den prokapitalistischen zionistischen Kräften, die gegen den Annexionsplan sind, verwendet wird.
Angesichts der Geschichte der antisemitischen Unterdrückung und der Schrecken des Holocaust, aber auch angesichts der gegenwärtigen internationalen antisemitischen Reaktion und der reaktionären nationalistischen Drohungen des iranischen Ayatollah-Regimes und einiger rechtsextremer islamistischer Kräfte in der gesamten Region, die jüdische Bevölkerung zu vertreiben, ihr zu schaden oder sie zu vernichten, hat dies immer ein Echo unter den israelischen jüdischen Massen gefunden, die das Szenario fürchten, in dem sie zu einer nationalen Minderheit werden. Es überrascht nicht, dass die Idee der Annexionen im Westjordanland nach wie vor polarisiert.
Die erste Intifada 1987, der Massenaufstand der Palästinenser*innen, hat die Unhaltbarkeit der direkten militärischen Besetzung der Gebiete von 1967 nur unterstrichen. Die Masse der Palästinenser*innen schaffte es, die stärkste Militärmacht in der Region an den Verhandlungstisch zu zwingen und bewirkte einen Bewusstseinswandel unter den israelisch-jüdischen Massen hin zur Unterstützung der Idee eines palästinensischen Staates in den besetzten Gebieten von 1967. In der israelischen Bevölkerung sprang die Unterstützung von etwa 21% im Jahr 1987 auf etwa 50% und mehr innerhalb weniger Jahre (INSS-Umfragedaten). Der vom Imperialismus geförderte "Friedensprozess" der Osloer Abkommen Anfang der 1990er Jahre weckte zunächst große Hoffnungen bei den Massen auf beiden Seiten der nationalen Spaltung. Aber das Zugeständnis, der Errichtung der Enklaven der Palästinensischen Autonomiebehörde zuzustimmen, war vom israelischen Regime beabsichtigt, um die Besatzung mit anderen Mitteln fortzusetzen. Es bestand nie die Absicht, einen palästinensischen Staat zuzugestehen, wie der ehemalige israelische Premierminister Yitzhak Rabin selbst einen Monat vor seiner Ermordung erklärte. Die Palästinensische Autonomiebehörde sollte letztlich als Unterhändler für das israelische Besatzungsregime fungieren.
Unter den Osloer Abkommen wurden die Siedlungen erweitert und die Bewegungen der Palästinenser*innen strenger kontrolliert. Das israelische Regime verweigerte substanzielle Zugeständnisse, und der Prozess implodierte unweigerlich mit einem neuen palästinensischen Aufstand, der zweiten Intifada im Jahr 2000. Leider wich die Massenbewegung bald der Dominanz der Milizen und terroristischer Angriffe gegen die Zivilbevölkerung, welche die reaktionären Kräfte in der israelischen Gesellschaft gestärkt haben und als Vorwand für schwere blutige Repression in den besetzten Gebieten dienten.
Darauf folgte ein Wechsel zu einer "unilateralen" Strategie der israelischen herrschenden Klasse, zu der die Errichtung der Trennmauer im Westjordanland und die Umsetzung des Rückzugs aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 gehörten, nachdem das dortige Siedlungsunternehmen völlig versagt hatte, gewöhnliche Israelis anzuziehen.
Nach dem Abzug gewann die Hamas die Wahlen zur Palästinensischen Autonomiebehörde, indem sie sich als weniger korrupte und angeblich "militantere" Alternative zu der von der Fatah geführten Elite der Palästinensischen Autonomiebehörde und ihrer vergeblichen direkten Zusammenarbeit mit Israel präsentierte. Die Regierungen Israels und der USA waren nicht bereit, dieses Ergebnis zu akzeptieren, und reagierten mit Sanktionen. Unter diesem Druck gipfelte die Rivalität zwischen Hamas und Fatah 2007 in einer Spaltung der Palästinensischen Autonomiebehörde, wobei sich die Hamas eine separate Regierungsbehörde in Gaza sicherte. Die destruktiven Methoden der Hamas, darunter ihre früheren Selbstmordattentate und das wahllose Abfeuern von Geschossen gegen israelische Zivilist*innen, wurden vom israelischen Regime genutzt, um Unterstützung für staatsterroristische Maßnahmen gegen die Palästinenser*innen zu mobilisieren, nicht zuletzt die Belagerung des Gazastreifens und barbarische Militäroffensiven, bei denen Tausende Palästinenser*innen aller Altersgruppen getötet wurden.
Während der Rückzug aus dem Gazastreifen einer neuen Form einer noch schlimmeren Katastrophe für die dort lebenden Palästinenser*innen wich, wurde er im Westjordanland zum weiteren Ausbau des Siedlungsbetriebs genutzt. Dies ist unter dem Netanjahu-Regime seit seiner Rückkehr an die Macht an der Spitze des Likud im Jahr 2009 ein deutliches Merkmal.
Tod der 'Zwei-Staaten-Lösung'?
De-facto hat Israel die volle direkte Kontrolle über etwa 60% des Westjordanlandes, das zum "Gebiet C" gehört. Auch in den Enklaven der Palästinensischen Autonomiebehörde, in denen sich die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung in verarmten Ghettos in belagerten Städten und Flüchtlingslagern konzentriert, kommt das israelische Militär regelmäßig zum Einsatz, um Razzien und Patrouillen durchzuführen. Doch die Ankündigung der offiziellen Annexion auch nur eines Teils des "Gebiets C" läuft darauf hinaus, eine scheinbar unumkehrbare und entscheidende Einengung des einem palästinensischen Staat vorbehaltenen Gebiets zu erklären. Sie würde die Angriffe des Staates und der Siedler*innen weiter eskalieren mit dem Ziel, die unterdrückte palästinensische Minderheit im "Gebiet C" zu entwurzeln und sie in die Enklaven der PA zu treiben. Sie würde einen Prozess in Gang setzen, der den Weg zu weiteren Annexionen und möglicherweise sogar zu einer Rückkehr der direkten militärischen Besatzung in den Enklaven der PA führen könnte.
Aus der Sicht der israelischen herrschenden Klasse werden die unmittelbaren destabilisierenden Folgewirkungen eines Annexions-Szenarios die Situation in Bezug auf die langfristige Kontrolle der Masse der palästinensischen Bevölkerung weiter in eine strategische Sackgasse treiben. Es würde auch die Möglichkeit einer künftigen Änderung der Strategie der palästinensischen Bewegung erhöhen, die frühere südafrikanische Forderung nach einer Wahl-Gleichheit zu übernehmen. Der israelische Staat, der jahrzehntelang selbst auf einem kleinen Teil des historischen Palästina keinerlei Form eines palästinensischen Staates zugestanden hat, würde sich einem solchen Szenario noch heftiger widersetzen, es als existenzielle Bedrohung darstellen und auf die Mobilisierung der Unterstützung der Masse israelischer Jüd*innen angewiesen sein. Die Hauptströmung der israelischen herrschenden Klasse würde es vorziehen, diesen Punkt nicht zu erreichen und stattdessen einen flexibleren Ansatz für Zugeständnisse bei ihrem Versuch anzuwenden, die Gesamtkontrolle zu stabilisieren.
Es versteht sich von selbst, dass die letzten zwei Jahrzehnte der Gräueltaten während der israelischen Besatzung und des israelisch-palästinensischen Konflikts bei den Massen auf beiden Seiten der Kluft einen verbitterten Pessimismus hinsichtlich des Potenzials für eine Lösung geschürt haben - eine Lösung, die dem Wunsch der Palästinenser*innen nach nationaler Befreiung und dem Wunsch der Massen auf beiden Seiten der Spaltung nach einem Ende des blutigen nationalen Konflikts entspricht.
Die Unterstützung für die Idee einer "Zweistaatenlösung" ist zwar nach wie vor beträchtlich, nimmt aber seit einigen Jahren sowohl bei Palästinenser*innen als auch bei Israelis, insbesondere bei der jüngeren Generation, generell ab. Ein Annexionsschritt wird diesen Trend mit ziemlicher Sicherheit wieder verstärken. So sprachen sich in einer Umfrage des PCPSR im Februar 78% der palästinensischen Korrespondent*innen im Westjordanland und im Gazastreifen dafür aus, auf den Trump-Plan mit "gewaltlosen Volksdemonstrationen" zu reagieren. Gleichzeitig sprachen sich 81% in Gaza und 53% im Westjordanland - insgesamt 64% - für die Durchführung eines bewaffneten Kampfes oder eines bewaffneten Aufstandes aus. Der Widerspruch zwischen der Unterstützung "gewaltloser Aktionen" und dem "bewaffneten Kampf" ist ein langfristiger Trend. Im Großen und Ganzen drücken beide Zahlen Hoffnungen auf die Zunahme des Widerstands in jedweder Form dar. Sie zeigen das Fehlen einer klaren politischen Führung mit einer entschlossenen Strategie und einem schlüssigen Programm zur Überwindung der Besatzung, der nationalen Unterdrückung und des sozialen Elends.
Die Unterstützung für das Konzept der "Zwei-Staaten-Lösung" war in dieser Umfrage mit 38,6% auf dem niedrigsten Stand seit dem Oslo-Abkommen, wobei 59% der Befragten dagegen waren (40,6% "dagegen", 18,5% "stark dagegen"). 61% glaubten, dass dieses Konzept aufgrund der Siedlungen nicht mehr realisierbar sei. Gleichzeitig sprachen sich 59% gegen den Verzicht auf eine "Zwei-Staaten-Lösung" und deren Ersetzung durch eine "Ein-Staaten-Position" aus, im Westjordanland waren 66,6% dagegen. Dies ist ein konstanter Trend.
In der israelischen Bevölkerung, insbesondere unter den Jüd*innen, hat die Ablehnung des Konzepts der "Zwei-Staaten-Lösung" in den letzten zehn Jahren relativ zugenommen, wenngleich die Unterstützung für das Konzept bisher in einer Mehrheit geblieben ist, trotz eines Rückgangs von etwa 69% im Jahr 2012 auf heute etwa 55% (INSS-Umfragedaten).
Es ist die eine Sache, die scheinbaren imperialistischen "Zwei-Staaten"-Pläne, die den Palästinenser*innen in der Vergangenheit diktiert wurden und die nie etwas boten, das einer echten nationalen Befreiung von der Unterdrückung durch den israelischen Staat gleichkam, zurückzuweisen. Es ist eine andere Sache, diesen Schein durch ein übermäßig abstraktes Konzept eines bi-nationalen Staates ersetzen zu wollen.
Millionen von Palästinenser*innen streben nach nationaler Befreiung und Unabhängigkeit von Israel. Es ist erwähnenswert, dass über ein halbes Jahrhundert nach der Besetzung und Annexion Ost-Jerusalems durch Israel die arme palästinensische Mehrheit dort weiterhin Kommunalwahlen boykottiert. Während einige aus praktischen Erwägungen die volle israelische Staatsbürgerschaft beantragt haben, die ohnehin nicht leicht zu erhalten ist, bleibt dies ein marginaler Trend, da die Mehrheit das, was als "Normalisierung" ihrer nationalen Unterwerfung angesehen würde, ablehnt und danach strebt, Bürger*innen eines separaten palästinensischen Staates zu werden. Parallel dazu werden Millionen von israelischen Jüd*innen heftigen Widerstand leisten und gegen die Idee eines Arrangements kämpfen, das ihrer Ansicht nach ihre nationale Selbstbestimmung nicht absichert.
Wenn sich die Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten von 1967 wieder in einem Massenkampf gegen die Besatzung bewegen, wird ihr Ziel wahrscheinlich nicht die Integration in den israelischen Staat sein, sondern seine Zurückdrängung.
Auch wenn die Annexion gefährlich ist und der Bau weiterer Siedlungen abgelehnt werden muss, so ist doch die Vorstellung, dass das Siedlungsunternehmen in dieser Phase und jede teilweise Annexion einen palästinensischen Staat "unpraktisch" machen würde, eine pessimistische Übertreibung. Unter anderem ist die Siedlungsbevölkerung im Westjordanland nach wie vor eine relativ kleine Minderheit und konzentriert sich hauptsächlich auf einige wenige "Blöcke". Die Dekolonisierung der Kolonialsiedlungen könnte letztlich in verschiedenen Formen umgesetzt werden. Abgesehen von der Überwindung und Beseitigung der eifrigen kolonialistischen Elemente und der Enteignung der Industriezonen der Siedlungen ist es zum Beispiel möglich, dass eine Vereinbarung getroffen wird, die es einem Teil der Bevölkerung der Siedlungen, insbesondere den Familien der Arbeiter*innenklasse in größeren Gemeinden, erlaubt, als nationale Minderheit mit garantierten Rechten in nicht segregierten Gemeinden innerhalb eines palästinensischen Staates zu bleiben. Es ist auch möglich, dass einige Gebiete, die heute offiziell zu Israel gehören, im Rahmen einer politischen Vereinbarung Teil eines künftigen palästinensischen Staates sein könnten.
Alle politischen Fragen, die den Kern des nationalen Konflikts ausmachen, könnten möglicherweise auf der Grundlage der Gleichheit der nationalen Rechte unter Vermeidung neuer Ungerechtigkeiten gelöst werden. Die israelische herrschende Klasse wird sich jedoch nicht nur so weit wie möglich gegen jedes substantielle Zugeständnis an die Palästinenser*innen wehren, nicht zuletzt in der heikelsten Frage der Flüchtlinge. Vielmehr ist es eine völlige Fehleinschätzung der Komplexität der Situation, wenn man annimmt, dass irgendein politisches und rechtliches Arrangement an sich ausreichen würde, um die Situation zu lösen.
Ohne die herrschende Klasse, die hinter dieser regionalen Militärmaschinerie steht, zu enteignen und ohne die Ressourcen demokratisch zu nutzen, um die Armut und die massive materielle Ungleichheit zwischen den beiden nationalen Gruppen zu beenden und eine fortschrittliche Infrastruktur aufzubauen, um einen hohen Lebensstandard für alle zu gewährleisten, gibt es keinen Weg zu einer wirklichen Lösung des Konflikts, der in der einen oder anderen Form fortbestehen wird. Eine Lösung ist nur im Rahmen einer regionalen Bewegung für den Sturz der verrotteten Oligarchien und aller Akteure der Reaktion möglich; in einem "sozialistischen Frühling"! Nur in einem solchen Rahmen ist es möglich, die Voraussetzungen für das Absterben nationaler Vorurteile und Spaltungen zu schaffen.
Unter den gegenwärtigen Umständen des Konflikts und der tiefen Spaltung weist ein Programm zweier gleichberechtigter demokratischer sozialistischer Staaten in einer freiwilligen Konföderation mit zwei Hauptstädten in Jerusalem den Weg, um dem gegenwärtigen Misstrauen entgegenzutreten und es der potentiellen Zusammenarbeit im Kampf der Arbeiter*innen und Armen auf beiden Seiten der Spaltung zu ermöglichen, die israelische herrschende Klasse wirksam zu untergraben und herauszufordern.
Die Annexion zu Fall bringen
Die Auswirkungen der sich immer noch ausbreitenden Pandemie und der Wirtschaftskrise hemmen derzeit die Herausbildung von mehr Aufmerksamkeit für das Thema und die Entstehung von Widerstand vor Ort gegen die Annexion. Hinzu kommen Spekulationen darüber, ob Netanjahu seine Drohung tatsächlich wahr machen wird oder nicht. Dies kann sich natürlich in den kommenden Wochen ändern.
Aber schon jetzt besteht die dringendste Aufgabe von Sozialisten*innen angesichts dieser Bedrohung darin, Arbeiter*innen und Jugendliche zu mobilisieren, damit sie maximalen Druck ausüben, um den Plan zum Scheitern zu bringen und die israelische Regierung wirksam zu blockieren, mit Protestaktionen in den besetzten palästinensischen Gebieten, in Israel, in der gesamten Region und weltweit.
In den besetzten Gebieten sollte der täglichen Gefahr einer tödlichen Repression mit der Errichtung demokratischer Aktions- und Verteidigungsausschüsse entgegengewirkt werden.
In Israel sollten gemeinsame Proteste von Jüd*innen und Araber*innen, Israelis und Palästinenser*innen an breitere Teile der Arbeiter*innenklasse appellieren, vor den Auswirkungen warnen und zu einem allgemeinen Kampf gegen die kapitalistische Regierung und ihre arbeiter*innenfeindliche Agenda aufrufen.
Auf internationaler Ebene sollten Gewerkschaften und die Linke Solidaritätsaktionen und Proteste vor israelischen Botschaften und mit Forderungen an die Regierungen mobilisieren, Maßnahmen wie die sofortige Anerkennung eines palästinensischen Staates, den Rückruf von Botschafter*innen aus Israel und die Erklärung, dass Netanjahu eine persona non-grata ist, mit der Verhängung strenger Sanktionen gegen die israelische Besatzung und die israelischen Siedlungen zu ergreifen. Dies sollte die Aussetzung und das Verbot aller möglichen finanziellen und militärischen öffentlichen und privaten Hilfen und Vereinbarungen umfassen, die direkt zur Unterstützung der Besatzung und der Siedlungen verwendet werden können.
Schließlich sollten pro-kapitalistische und rechts-nationalistische Elemente überall dort, wo sie von ihrem eigenen Standpunkt aus in die Bewegung gegen die Annexion eingreifen, nicht als Verbündete der palästinensischen Massen oder der arbeitenden Bevölkerung in der Region gesehen werden. Aktionen gegen die Annexion sollten mit der Aufgabe verbunden werden, Lösungen der Arbeiter*innenklasse und eine sozialistische Alternative angesichts der sich entfaltenden schweren kapitalistischen Krise voranzubringen.