Mi 22.04.2020
Die Coronavirus-Pandemie hat Hunderttausende infiziert und Tausenden das Leben gekostet. Die meisten wissenschaftlichen und medizinischen Expert*innen warnen davor, dass sich die Situation noch weiter verschlimmern und weltweit Millionen Menschen sterben könnten. Diese Krise hat sowohl die völlige Unfähigkeit des kapitalistischen Systems gezeigt, mit einer Gesundheitskrise dieses Ausmaßes umzugehen, als auch den heroischen Einsatz von medizinischem Personal, Wissenschaftler*innen, Lehrer*innen, Feuerwehrleuten und vielen anderen, oft freiwilligen Helfer*innen, die ihr eigenes Leben riskieren und lange arbeiten, um das Virus einzudämmen und zu bekämpfen.
Sie müssen dies in einer Situation permanenter Not tun, die durch einen Mangel an Tests, sanitärer Ausrüstung, Krankenhausbetten und Personal noch verschlimmert wird. Dies ist zu einem großen Teil eine Folge der neoliberalen Offensive, die in den letzten Jahrzehnten gegen das öffentliche Gesundheitswesen und andere öffentliche Dienste geführt wurde. Dazu gehörte die allmähliche Einführung neoliberaler Managementprinzipien einschließlich der „lean production“ ("schlanke Produktion" -alles ist auf das Nötigste reduzieren) sowie die völlige Privatisierung der früher öffentlichen Gesundheits- und Sozialsysteme.
Italien zum Beispiel hatte 1975 10,6 Krankenhausbetten pro 1.000 Menschen gegenüber 2,6 heute. Im Jahr 2011 gab es 6,9 Pfleger*innen und Hebammen pro 1.000 Menschen gegenüber 5,8 im Jahr 2017. In Frankreich gingen die Krankenhausbetten pro 1.000 Menschen von 11,1 im Jahr 1981 auf 6,5 im Jahr 2013 zurück.
Während einige westliche Medienkommentator*innen und Politiker*innen sich mit der Hoffnung trösten, dass der Beginn des Sommers den Ausbruch mildern werde, vergessen sie oft, dass ihr Sommer der Winter auf der Südhalbkugel ist! Die enormen Ungleichheiten, die schlechten Sanitär- und Gesundheitseinrichtungen und die hohe Bevölkerungsdichte, die in vielen Teilen der neokolonialen Welt existieren, können zu einem neuen Teufelskreis menschlichen Leids in noch größerem Ausmaß führen, sollte das Virus dort Fuß fassen.
Mit großer Verspätung, nach einer Periode der Leugnung und sogar Vertuschung, haben sich Regierungen, internationale Institutionen und Politiker*innen dem Kampf "angeschlossen". In vielen von dem Virus betroffenen Ländern sind Schulen, Bars und Restaurants geschlossen. Sport und kulturelle Aktivitäten sind verboten. Massenversammlungen werden verboten.
Frankreich hat eine teilweise Ausgangssperre verhängt. Bars und Restaurants wurden geschlossen. Eine Demonstration von Hunderten von Gelbwesten, von denen einige Schutzmasken trugen, wurde am Samstag von der Polizei in Paris aufgelöst. Sie wurde von den Behörden im Zusammenhang mit der Epidemie als unverantwortlich angeprangert. Nichtsdestotrotz bestand Macron jedoch darauf, dass am nächsten Tag Kommunalwahlen abgehalten würden.
Italien ist völlig abgeriegelt, aber wie in fast allen anderen Ländern operieren die meisten Unternehmen weiterhin ungestraft, was die anderen beschlossenen Maßnahmen sinnlos macht und die Unterwürfigkeit der Regierungen gegenüber den Bossen veranschaulicht. Dies ist der Hintergrund einer neuen Welle von wilden Streiks und Arbeitsniederlegungen, die international gegen den rücksichtslosen Versuch der Kapitalist*innenklasse ausgebrochen ist, ihre Gewinnmargen in völliger Missachtung von Menschenleben und der Gesundheit der Arbeiter zu erhalten. Streiks wurden von Industriearbeiter*innen in ganz Italien, Postangestellten in Großbritannien, Busfahrer*innen in Frankreich und Belgien, Autofahrern in Kanada usw. organisiert. In der Zwischenzeit, während die Europäische Kommission von den Ereignissen überholt wird, liegen die viel gepriesene "Bewegungsfreiheit" der EU wie auch der Binnenmarkt in Trümmern.
Epidemien und Pandemien als zunehmendes Merkmal des globalen Kapitalismus
Epidemien und Pandemien sind keine Ausnahmeerscheinungen, die Geschichte ist mit ihnen übersät. Schätzungen zufolge wurde die europäische Bevölkerung durch die Justinianische Pest halbiert (550 - 700 n. Chr.). Seuchen sind nicht Teil unserer Kultur, sondern durch sie verursacht. Der Schwarze Tod breitete sich Mitte des 14. Jahrhunderts in Europa aus, begünstigt durch die Zunahme des Handels entlang der Seidenstraße, bevor er 30% der europäischen Bevölkerung dezimierte. Infizierte Menschen mussten vierzig Tage lang im Haus bleiben, und ein Bündel Stroh wurde an die Fassade ihres Hauses gehängt, damit die Menschen sehen konnten, dass die Bewohner infiziert waren. Schiffe, die aus infizierten Häfen in Venedig ankamen, mussten 40 Tage vor der Landung vor Anker liegen. Die Spanische Grippe (1918-1920) infizierte schätzungsweise 500 Millionen Menschen auf der ganzen Welt und forderte 50-100 Millionen Todesopfer. Laut der im vergangenen Jahr veröffentlichten Studie der Weltbank würde eine ähnliche Epidemie heute zu einem Einbruch des weltweiten BIP um etwa 5% führen, eine Rezession, die viel tiefer wäre als die von 2009 (-2%).
Seit diesen historischen Beispielen haben bislang beispielloser Straßenbau, Abholzung, Landrodung und landwirtschaftliche Entwicklung sowie weltweiter Reiseverkehr und Handel die Menschheit noch anfälliger für Krankheitserreger wie das Coronavirus gemacht. Studien haben gezeigt, dass sich solche neu auftretenden Krankheiten im letzten halben Jahrhundert vervierfacht haben, was weitgehend auf die Störung des Ökosystems durch menschliche Aktivitäten zurückzuführen ist. Zwischen 2011 und 2018 zählte die Weltgesundheitsorganisation nicht weniger als 1.483 Epidemien in 172 Ländern. In der jüngeren Vergangenheit machten HIV (die AIDS verursacht) und die Ebola-Epidemie Schlagzeilen, an denen Hunderttausende starben, vor allem in Afrika südlich der Sahara.
Wegen seiner Ähnlichkeit mit Covid-19 wird viel über den Ausbruch des SARS-Virus (Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom) auch in Südchina zwischen November 2002 und Juli 2003 berichtet, der 8.098 Infektionen verursachte und 774 Todesfälle in 17 Ländern nach sich zog. Diese Epidemie hatte jedoch, genau wie HIV und Ebola, nur sehr begrenzte Auswirkungen auf die Weltwirtschaft (-0,1%).
Diesmal wird es anders sein
Während der SARS-Epidemie war China, das 4 % der Weltwirtschaft ausmachte, noch nicht das wirtschaftliche Schwergewicht, das es heute ist (17 % des weltweiten BIP). Seit der Krise von 2008 hat China das weltweite Wachstum maßgeblich vorangetrieben und ist zu einem wichtigen Lieferanten und Käufer für alle Kontinente geworden. China absorbiert 14% der Exporte der EU, 6% weniger als vor 20 Jahren, und liefert 20% der Importe der EU, doppelt so viel wie vor 20 Jahren. Beispielsweise ist die deutsche Automobilindustrie stark vom chinesischen Markt abhängig: jedes vierte BMW-Auto wird dort verkauft und ein Drittel des jährlichen Gewinns von VW wird in China realisiert. Chinas asiatische Nachbarn und viele globale Rohstoffproduzenten (wie z.B. Brasilien) sind stark vom chinesischen Produktionsrhythmus abhängig. Außerdem besuchen jährlich etwa 8 Millionen chinesische Touristen Europa, und viele weitere besuchen wichtige Touristenziele in Asien, darunter auch Japan.
Während es seit 2008 eine teilweise Umkehrung der Globalisierung und ein Wachstum des Welthandels gegeben hat, führt die hochgradig integrierte Natur der Weltwirtschaft und der Lieferketten, bei der die Produktion von Gütern und ihren Bestandteilen in vielen Ländern und Kontinenten zersplittert ist, dazu, dass ein Produktionsstopp in einem Land leicht zu einer Verlangsamung oder Lähmung der Produktion in anderen Ländern führt. Apple besipielsweise hat eine Fabrik in Wuhan und hat bereits angekündigt, auf der Suche nach anderen Lieferanten zu sein.
Die Pharmaindustrie ist bei der Produktion eines bedeutenden Teils der Generika und Wirkstoffe stark von der chinesischen Chemieindustrie abhängig. Am 27. Februar meldete die amerikanische FDA (Food and Drug Administration) bereits den ersten Arzneimittelmangel im Zusammenhang mit dem Ausbruch und der damit verbundenen Unterbrechung in der Arzneimittelversorgungskette; weitere ähnliche Engpässe sind möglich. China ist auch ein wichtiger Bestandteil vieler anderer Wirtschaftsbereiche. Diese wechselseitige Abhängigkeit ist ein wichtiger Transmissionsriemen für wirtschaftliche Probleme auf der ganzen Welt.
Die beginnende weltweite Rezession wird wahrscheinlich für immer den Namen COVID-19 tragen. Die Wahrheit ist jedoch, dass das Virus der Auslöser der Rezession war, nicht ihre grundlegende Ursache. Das Coronavirus tauchte zu einer Zeit auf, als die Weltwirtschaft bereits am Rande des Abgrunds stand. Das weltweite Wachstum betrug 2019 lediglich 2,9 %, verglichen mit 3,4 % im Jahr 2018 und 3,6 % im Jahr 2017, was durchweg niedriger ist als vor der Weltwirtschaftskrise. Ein Hauptgrund zur Besorgnis ist das mangelnde Produktivitätswachstum. Seine Stagnation und sein Rückgang in den letzten zehn Jahren bedeuten, dass das bescheidene Wachstum der Arbeitsproduktivität hauptsächlich durch die Akkumulation von Sachkapital (Maschinen, Gebäude, Büro- oder Lagerbedarf, Fahrzeuge, Computer usw., die ein Unternehmen besitzt) und weniger durch Effizienzsteigerung oder Innovation angetrieben wird.
Die Weltwirtschaft hat die grundlegenden Schwächen, die zur Großen Rezession 2008-2009 geführt haben, nie wirklich überwunden. Das Produktivitätsniveau ging weiter zurück, geplatzte Blasen wurden durch andere, noch größere Blasen ersetzt, und obwohl die Zinssätze gesenkt und tonnenweise Geld gedruckt wurde, kamen die produktiven Investitionen in die Realwirtschaft nie in Schwung. Die Löhne wurden niedrig gehalten, die Hauspreise hoch und die Studiengebühren, Gesundheitskosten usw... stiegen weiter an. Die wenigen Vorteile, die die "Erholung" brachte, gingen überwiegend an die kapitalistische Elite und vertieften die Ungleichheit. Die riesigen Geldsummen, die durch Maßnahmen wie Quantitative Easing (QE) in den Finanzsektor der wichtigsten kapitalistischen Länder gepumpt wurden, sind überwiegend wieder in Spekulationen statt in produktive Investitionen geflossen. Im Wesentlichen bestand die Politik der kapitalistischen Schlüsselländer darin, weiter zu wursteln, indem man immer mehr Geld hineinpumpte.
Gefangen in einer Schuldenfalle
In den Jahren 2008-2009 stützten sich die Kapitalist*innen stark auf die "aufstrebenden" BRIC-Länder (Brasilien, Russland, Indien und China), die damals im Gegensatz zu heute relativ dynamisch waren. Dies galt vor allem für China, das in massive Infrastrukturprojekte investierte und riesige Mengen an Rohstoffen importierte. Heute ist China aus einer Reihe von Gründen nicht in der Lage, diese Rolle zu spielen. Abgesehen von den Auswirkungen des Coronavirus (weiter unten ausführlicher beschrieben), den zunehmenden interimperialistischen Spannungen und dem teilweisen Stillstand seines "Belt and Road"-Programms hat China auch immer noch mit den Auswirkungen seiner gigantischen, kreditfinanzierten Konjunkturbelebung zu kämpfen, die als Reaktion auf die Krise von 2008 und danach betrieben wurde.
Chinas Gesamtverschuldung wird auf mehr als 300% des BIP geschätzt, was etwa 40.000 Milliarden US-Dollar oder etwa die Hälfte des globalen BIP ausmachen könnte. Darüber hinaus hat die chinesische Zentralbank nicht unbedingt die volle Kontrolle darüber, was Technologiegiganten wie Tencent oder Alibaba mit ihrem Geld tun. Sollte sich das Wachstum verlangsamen und sollten staatliche Unternehmen, Provinz- oder Kommunalbehörden ihre Schulden nicht bedienen, könnte dies zu einer Vervielfachung der Konkurse und einer Ansteckung des Bankensektors führen. Aufgrund der eigentümlichen staatskapitalistischen Struktur Chinas könnte dies zu einer großen Systemkrise führen.
Die Schulden werden durch administrative Maßnahmen geschützt, die den Kapitalfluss ins Land und aus dem Land heraus kontrollieren. Dies hat massive Auswirkungen auf die chinesischen Investitionen und die chinesische Politik im Ausland. Um diese Schulden tragen zu können und die Wirtschaft voranzubringen, braucht China Ersparnisse von seiner Bevölkerung und Einnahmen aus seinen Exporten. Ohne Wachstum könnten die Menschen weniger Geld auf die Banken legen und würden ein noch tieferes Misstrauen gegenüber der Regierung entwickeln. Für seine Exporte können Chinas Investitionspläne im Ausland den Zugang zu lokalen ausländischen Märkten garantieren.
Darüber hinaus spielt auch Hongkong eine entscheidende Rolle. Es fungiert als Durchgangsstation für Finanztransaktionen zwischen der noch nicht vollständig geöffneten chinesischen Wirtschaft und der Weltwirtschaft. Mit Hongkong ist der gesamte Austausch mit der Finanzwelt ausserhalb relativ einfach. Ohne Hongkong und mit bedeutenden Teilen der chinesischen Wirtschaft unter immer noch unter strenger administrativer Kontrolle wäre alles schwieriger. Das bringt eine strategische Notwendigkeit für die gegenwärtige wirtschaftliche und politische Situation in China mit sich. Peking muss Hongkong unter Kontrolle halten, während es wirtschaftlich gesehen auch relativ frei und offen bleiben muss, um nicht isoliert zu werden.
China ist in seiner Schuldenkrise bei weitem nicht allein. In einem Jahrzehnt mit historisch niedrigen bzw. negativen Zinssätzen hat sich eine weltweite Rekordverschuldung angehäuft, die über 322% des globalen BIP erreicht hat! Das bedeutet, dass jegliche Fragilität des Finanzsystems das Potenzial hat, eine neue Schuldenkrise auszulösen. In den letzten zehn Jahren haben sich die Unternehmen bei der Kreditaufnahme auf Pump verschuldet. Besonders auffallend ist der enorme Anstieg der Verschuldung der nichtfinanziellen Unternehmen in den USA. Dies hat es den großen globalen Technologieunternehmen ermöglicht, ihre eigenen Aktien aufzukaufen und riesige Dividenden an die Aktionär*innen auszugeben, während sie gleichzeitig im Ausland Bargeld anhäufen, um Steuern zu vermeiden. Es hat es auch kleinen und mittleren Unternehmen in den USA, Europa und Japan, die bisher keine nennenswerten Gewinne erzielten, ermöglicht, in einem "Zombie-Zustand" zu überleben.
Ende Dezember 2019 erreichte der globale Bestand an nichtfinanziellen Unternehmensanleihen einen historischen Höchststand von 13.500 Milliarden Dollar, das Doppelte des Niveaus vom Dezember 2008, insbesondere in den USA, wo sich die Unternehmensverschuldung seit der Finanzkrise fast verdoppelt hat. Der größte Teil dieser Schulden ist mit "BBB" geratet, was bedeutet, dass sie auf ein Junk-Niveau herabgestuft würden, wenn die Wirtschaft ins Stocken gerät. Der jüngste Bericht des IWF zur globalen Finanzstabilität unterstreicht diesen Punkt mit einer Simulation, die zeigt, dass eine halb so schwere Rezession wie 2009 dazu führen würde, dass unzählige verschuldete Unternehmen nicht in der Lage wären, diese Schulden zu bedienen. Wenn der Absatz einbricht, die Lieferketten unterbrochen werden und die Rentabilität weiter sinkt, könnten diese hoch verschuldeten Unternehmen zusammenbrechen. Das würde die Kreditmärkte und die Banken treffen und möglicherweise einen weltweiten Finanzkollaps auslösen.
Welthandel und beschleunigte Deglobalisierung
Eines der markantesten Merkmale der kommenden Rezession ist die Beschleunigung der Abkehr von der Globalisierung und eine Zunahme des wirtschaftlichen und politischen Nationalismus. Dies hat sich in politischen Phänomenen auf der ganzen Welt bemerkbar gemacht, indem eine Welle des Rechtspopulismus Regierungspositionen in führenden Wirtschaftsmächten eroberte. Während eine begrenzte, aber sehr bedeutsame internationale Zusammenarbeit dazu beigetragen hat, dass die Kapitalist*innen die Weltwirtschaftskrise von 2008/9 eindämmen konnten, prägt heute das Fehlen einer solchen Zusammenarbeit und stattdessen der Anstieg globaler interimperialistischer Widersprüche, die Weltwirtschaft und drängt sie in den Abgrund. Der Welthandel ist ein wichtiger Ausdruck davon.
Nimmt man das Volumen des Welthandels im Jahr 2000 als 100, so stieg es bis 2007 auf 117 an, fiel aber 2017 wieder auf 105 zurück. Die WTO meldete im vergangenen Jahr einen Anstieg des Welthandels um 1,2%, das ist weniger als die Hälfte ihrer Prognose von 2,6% vom April 2019. Im Vergleich dazu wuchs der Welthandel von 1990 bis 2007 jedes Jahr um durchschnittlich 6,9%, was das Wachstum der Weltwirtschaft ankurbelte.
Darüber hinaus begann Trump 2018 seinen Handelskrieg, der die wachsende wechselseitige Bindung der chinesischen und der US-amerikanischen Wirtschaft als zentrale Wirtschaftsbeziehung des Weltkapitalismus beendete. Sie wich nun einer zunehmend konfliktreichen Beziehung. Selbst nach dem "Phase eins"-Abkommen, das am 15. Januar von den USA und China unterzeichnet wurde, liegen die durchschnittlichen Zölle zwischen den beiden Ländern heute bei 19,3%, verglichen mit 3% vor Beginn des Handelskrieges. Das "Phase Eins"-Abkommen stellt keine bedeutende Deeskalation dar. Es ist ein Abkommen zwischen Vertreter*innen eines in Aufruhr und Niedergang befindlichen kapitalistischen Systems . Keine der beiden Seiten wird wahrscheinlich dauerhafte Gewinne erzielen, und die Arbeiter*innen und Armen ebenso wenig.
Das Abkommen kam zustande, als beide Seiten zunehmend verzweifelt nach einer Möglichkeit suchten, den Konflikt vorübergehend zu entschärfen, da die USA in einem Wahljahr sind und das chinesische Regime mit zahlreichen internen Problemen konfrontiert ist. Aber es ist nur eine Frage der Zeit und des thematischen Auslösers, bis die Konflikte wieder aufbrechen.
Noch während die USA und China das Abkommen im Weißen Haus unterzeichneten, bereiteten die US-Regierungsstellen neue Maßnahmen gegen den chinesischen Telekommunikationsgiganten Huawei vor, der vom US-Establishment insbesondere wegen seiner dominierenden Rolle in der 5G-Technologie, der nächsten Generation drahtloser Netzwerke, ins Visier genommen wurde. Die USA verstärken auch den Druck auf die Regierungen in Großbritannien und Deutschland, Huawei aus ihrer 5G-Infrastruktur auszuschließen. Weitere Probleme in den Beziehungen zwischen den USA und China brauen sich in Bezug auf Taiwan, Hongkong und Xinjiang, die verstärkten militärischen Aktivitäten beider Seiten im Südchinesischen Meer und den wachsenden Trend zu finanziellem Protektionismus zusammen.
Eine Pause im Zollkrieg zwischen den USA und China könnte auch den Weg für neue Handelskonflikte öffnen, die die Trump-Administration gegen Europa, Japan und andere aufbringen. Zwei Mal, im Jahr 2018 und erneut im vergangenen Jahr, verhängte Trump Zölle auf Aluminium und Stahl aus der EU sowie auf andere Produkte im Wert von 7,5 Milliarden Dollar, nachdem die WTO eine Entscheidung zugunsten der USA über europäische Subventionen für den Flugzeughersteller Airbus gefällt hatte. Trump droht auch mit Zöllen gegen Italien und Großbritannien wegen Plänen, digitale Unternehmen wie Google und Facebook zu besteuern. Die französische Regierung gab den Drohungen Trumps nach einem ähnlichen Steuervorschlag nach.
Die EU und andere Handelsmächte sind zwar erleichtert, dass die USA und China offenbar vor einer weiteren Eskalation zurückschrecken, empören sich aber darüber, dass das "Phase Eins"-Abkommen auf "gelenkten Handel" hinauslaufe und gegen die Prinzipien des "Freihandels" verstoße. Dies ist ein weiterer Nagel im Sarg der WTO, die bereits durch die Entscheidung von Trump im vergangenen Jahr gelähmt wurde, die Ernennung von Richtern für das Schlichtungssystem der WTO zu blockieren. Dieses Schlichtungssystem, dem das Verdienst zugeschrieben wurde, Handelskonflikte in Schach zu halten, ist nun gescheitert. Unter Trump hat die US-Regierung den Multilateralismus zugunsten einer bilateralen Strategie zur Erzielung von Handelsabkommen auf staatlicher Basis aufgegeben. Als größte Volkswirtschaft ist dies für die USA ein Vorteil, bis neue Krisen und Schocks das Kräfteverhältnis verändern, wohingegen die weitreichendere Auswirkung für die Weltwirtschaft zunehmende Fragmentierung und Instabilität sind.
Coronavirus löst Wirtschaftsabschwung in China aus
Als das Coronavirus Anfang Dezember letzten Jahres zum ersten Mal in Wuhan auftauchte und als dann am 7. Januar der neue Stamm Covid-19 identifiziert wurde, reagierten die chinesischen Behörden zunächst mit sträflicher Missachtung. Obwohl Peking Berichte über die Situation erhielt und sogar die WHO am 31. Dezember über das Auftauchen eines neuen Coronavirus-Typs informierte, stimmte die Zentralregierung der Vertuschung durch die Regionalregierung zu und schlug erst am 20. Januar öffentlich Alarm. Drei Tage später verhängte Peking eine drakonische Quarantäne über Wuhan und die Provinz Hubei, nachdem es mehr als sechs Wochen lang untätig geblieben war. Das chinesische Regime war schon vorher in Schwierigkeiten. Während der sechsjährigen Regierungszeit von Xi sanken die ohnehin aufgeblasenen offiziellen Wachstumszahlen nach 30 Jahren mit einem durchschnittlichen Wachstum von 10% auf nunmehr 7%.
Beobachter innerhalb Chinas und international erkennen nun an, was unsere Genoss*innen von chinaworker.info schon zuvor analysierten: Nämlich, dass die Macht von Xi viel begrenzter ist, als sie dachten. Mehrere Krisen in den Beziehungen zwischen den USA und China und in der Wirtschaft sowie die Rebellion in Hongkong haben den Druck auf Xi dramatisch erhöht und den Machtkampf innerhalb der herrschenden Elite neu entfacht. Infolgedessen waren die lokalen Beamten, die alles fürchteten, was der Diktatur in Xi schaden oder sie in Verlegenheit bringen könnte, angesichts der Corona-Krise völlig gelähmt und wagten es nicht, sich ohne Anweisung Pekings zu bewegen. Nachrichten über den Ausbruch wurden unterdrückt. Online-Informationen wurden blockiert. Die Aufrechterhaltung der "Stabilität" hatte oberste Priorität. Kritische Zeit um das Virus einzudämmen ging verloren, und als es unkontrollierbar wurde, war die oberste Führung des Regimes gezwungen, selbst zu versuchen, die Krise in den Griff zu bekommen.
Drei Tage später wurde die Stadt Wuhan (mit 11 Millionen Einwohnern) abgeriegelt und jegliche Ausreise verboten. In den folgenden drei Tagen wurde diese Quarantäne auf weitere 20 Städte ausgedehnt, wovon rund 60 Millionen Menschen betroffen waren. Züge, Flugzeuge, Fähren und Busse wurden gesperrt und Bahnhöfe und Mautstraßen von der bewaffneten Polizei blockiert. Die unter Quarantäne gestellten Städte erinnerten an Kriegsschauplätze. Die Bevölkerung hatte mit schweren Notlagen, akutem Mangel an medizinischer Versorgung und langen Schlangen für einen Arztbesuch in einem unterfinanzierten und überlasteten Krankenhaussystem zu kämpfen.
Zig Millionen Arbeiter*innen verblieben ohne Lohn, da Fabriken und Büros geschlossen wurden. Der Neujahrsferien wurden in den meisten Teilen des Landes um zehn Tage verlängert, in einigen Regionen sogar noch länger. Die Lehrer*innen blieben unbezahlt, da die Schulen bis auf weiteres geschlossen bleiben mussten. Millionen von Wanderarbeiter*innen aus den Binnenprovinzen waren den neuen Quarantänevorschriften und Reisebeschränkungen unterworfen, die sich über das ganze Land ausbreiteten. Der größte Teil Chinas kam zum Erliegen.
Peking ging dann in den Schadensbegrenzungs-Modus, indem man versuchte, das Image des "Kaisers" Xi zu schützen und alle Schuld auf die Regierung und die Polizei in Wuhan abzuwälzen. Die KPCh setzte ihr ganzes Arsenal an "stabilitätserhaltenden" Maßnahmen ein: Sie startete eine massiven Propaganda- und PR-Offensive und proklamierte den "Volkskrieg" gegen die Epidemie. Der Bau von zwei neuen Krankenhäusern in Wuhan in Rekordtempo mit zusätzlichen 13.000 Betten zielte darauf ab, die Autorität des Regimes zu stärken, war aber in Wirklichkeit weit unter dem Bedarf, da Schätzungen zufolge bis zu 190.000 Infizierte in Wuhan leben. Außerdem wurden diese Krankenhäuser von Wanderarbeiter*innen ohne Arbeitsvertrag, ohne Krankenversicherung und ohne Zugang zu medizinischer Behandlung unter schrecklichen und unsicheren Arbeitsbedingungen gebaut.
In der Financial Times argumentierte Jamil Anderlini: "Wenn das Virus nicht schnell eingedämmt werden kann, könnte das Chinas Tschernobyl-Moment werden, in dem die Lügen und Absurditäten der Autokratie für alle sichtbar offengelegt werden".
Was die wirtschaftlichen Maßnahmen betrifft, so kündigte Peking 12 Milliarden US-Dollar an Notfallfinanzierung zur Bekämpfung der Epidemie an. In derselben Woche pumpte man jedoch 174 Milliarden US-Dollar in den Bankensektor und den Aktienmarkt, um einen Zusammenbruch der Märkte zu verhindern. Neben der Furcht vor einem Zusammenbruch der Märkte zeigt dies auch, dass das chinesische Regime, genau wie die westlichen kapitalistischen Mächte, eine klare Klassenbindung zum Großkapital hat und Profite über das menschliche Leben stellt.
Trotz der Propaganda, dass man im Hinblick auf die Corona-Krise "aus dem Gröbsten heraus" sei, ist China weit von einer Rückkehr zur Normalität entfernt. Bis Anfang März lag die offizielle Rate der wieder aufgesperrten Unterhnehmen in China bei etwa 60% für kleine und mittlere Unternehmen und deutlich höher für größere Unternehmen. Die Wiedereröffnung eines Unternehmens bedeutet jedoch nicht, dass es mit der gleichen Kapazität arbeitet, wie es normalerweise der Fall wäre. Darüber hinaus ist die leichtfertige Provokation eines neuen Ausbruchs in China durchaus eine Möglichkeit in dieser SItuation, da das profithungrige Regime darauf drängt, die Räder der Wirtschaft wieder in Gang zu bringen.
Dan Wang von der "Economist Intelligence Unit" geht davon aus, dass in diesem Jahr in Chinas Städten 9 Millionen Menschen aufgrund der Auswirkungen des Virus ihren Arbeitsplatz verlieren werden. Nach Angaben des chinesischen Statistikamtes (National Bureau of Statistics) ist die Industrieproduktion Chinas in den ersten beiden Monaten dieses Jahres um 13,5% und der Dienstleistungssektor um 13% geschrumpft. Diese Kombination lässt vermuten, dass Chinas BIP um 13% schrumpfte. Das 1. Quartal dieses Jahres wird das erste Quartal mit negativem Wachstum seit 1976 sein. Diese Zahlen liegen weit unter den Erwartungen der Analyst*innen, wobei viele China-Expert*innen ihre Überraschung darüber zum Ausdruck brachten, dass Regierungsbeamte überhaupt bereit sind, solch verheerende Zahlen zu melden.
Der tatsächliche Schaden könnte jedoch noch größer sein, da die Lockdowns größtenteils erst am 23. Januar begannen. Weitere Zahlen scheinen dies zu bestätigen. Während des Ausbruchs des Virus im Januar und Februar sollen etwa 5 Millionen Menschen in China ihren Arbeitsplatz verloren haben. Die städtische Arbeitslosenquote ist im Februar auf 6,2% gestiegen. Diese offiziellen Zahlen sind nur ein grober Indikator, da sie nur die städtische Beschäftigung berücksichtigen. Der größte Teil der Industriearbeiter*innen in China sind die 300 Millionen Wanderarbeiter*innen aus den ländlichen Gebieten, die ohne Vertrag arbeiten und diskriminiert werden. Es wird geschätzt, dass 30-40% von ihnen immer noch arbeitslos sind und dass dies noch für einen längeren Zeitraum so bleiben wird.
Die Einzelhandelsumsätze stürzten im Januar und Februar um 20,5% gegenüber dem Vorjahr ab, und die Investitionen in Anlagevermögen sanken um 24,5%, nachdem sie bei der vorigen Erhebung der Daten noch um 5,4% gestiegen waren. Diese am 16. März veröffentlichten Daten zeigen, wie stark das Virus das Wachstum in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt erschüttert hat.
Der Machtkampf innerhalb der KPCh und der herrschenden Elite wird mit ziemlicher Sicherheit wieder aufflammen, angefacht durch die wachsenden Meinungsverschiedenheiten über die Amtsführung von Xi, aber letztlich auch durch die neue Wut und Radikalisierung, die an der Basis der Gesellschaft um sich greift. Die Pandemie hat das Versagen des Regimes aufgedeckt und massiven wirtschaftlichen Schaden angerichtet. Dies könnte eine neue Stufe der Krise mit potenziell revolutionären Auswirkungen auslösen. Die Aufgabe der Marxist*innen, insbesondere der Unterstützer*innen der ISA in China, besteht darin, den bewusstesten Teilen der Arbeiter*innenklasse und der Jugend zu helfen, sich politisch darauf vorzubereiten. Die humanitäre, wirtschaftliche und politische Krise Chinas erfordert den Aufbau einer sozialistischen und wahrhaft demokratischen Alternative der Arbeiter*innenklasse zum autoritären Kapitalismus der KPCh.
Aktienmärkte schwanken von Optimismus zu offener Panik
Bis Ende Februar blieb die "wirtschaftliche Welt " überraschend optimistisch. Zu dieser Zeit wütete die Epidemie vor allem in der Provinz Hubei, die 4,5% des chinesischen BIP ausmacht. Da sie im Allgemeinen die Stärke der Xi Jinping-Diktatur sowie ihre Fähigkeit, scheinbar endlose Ressourcen zu mobilisieren und ihre Kontrolle über die Bevölkerung überschätzten, dachten sie wahrscheinlich, dass das Regime in der Lage sein würde, mit dieser Situation fertig zu werden. Sogar nach der Abriegelung der Provinz Hubei und anderen Maßnahmen (oder vielleicht sogar wegen ihnen) dachten sie, dass Covid-19 die Weltwirtschaft nicht zum Entgleisen bringen würde.
Noch am 2. März schrieb die OECD in ihrem Bericht "Coronavirus: the world economy at risk" (Coronavirus: die Weltwirtschaft in Gefahr): "Ausgehend von der Annahme, dass der Höhepunkt der Epidemie in China im ersten Quartal 2020 erreicht wird und die Ausbrüche in anderen Ländern sich als mild und eingedämmt erweisen, könnte das globale Wachstum in diesem Jahr um etwa 0,5% gegenüber dem erwarteten Wachstum in der Wirtschaftsprognose vom November 2019 sinken". Außerdem "wurden die Aussichten für China deutlich revidiert, wobei das Wachstum in diesem Jahr unter 5% fällt, bevor es sich 2021 auf über 6% erholt".
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Epizentrum dessen, was verspätet als Pandemie erkannt wurde, bereits nach Europa verlagert. In der letzten Februarwoche führte dies dazu, dass die europäischen Aktienmärkte im Durchschnitt zwischen 12 und 15% einbüßten und verschiedene US-Börsen die stärksten Einbrüche seit 2008 verzeichneten. Am 28. Februar meldeten die Aktienmärkte weltweit die größten Verluste in einer einzigen Woche seit der Finanzkrise von 2008. Dies führte dazu, dass die Finanzminister*innen und Zentralbankchef*innen der G7-Länder eine gemeinsame Erklärung veröffentlichten, um die Märkte zu beruhigen. Darin verpflichteten sie sich, alle erforderlichen Mittel einzusetzen, um den sozioökonomischen Auswirkungen des Ausbruchs zu begegnen. In den folgenden Tagen senkten eine Reihe von Zentralbanken, darunter Malaysia, Australien, Indonesien, Mexiko und anderen Länder entweder ihre Zinssätze oder ergriffen andere Konjunkturmaßnahmen. Aber die größte Überraschung kam von der US-FED. Sie senkte ihren Zinssatz um 50 Punkte. Als Reaktion darauf fielen alle US-Märkte im Gegensatz zu den europäischen und asiatisch-pazifischen Märkten, die meist kurzzeitig gestiegen waren. Die Rendite 10-jähriger und 30-jähriger US-Treasury Securities (Geldmarktpapiere und Anleihen des US-amerikanischen Staates) fiel auf Rekordtiefs.
Ölpreiskrise kommt ins Spiel
Man sagt, dass ein Unglück selten allein kommt. Der Rückgang der Reisetätigkeit und die geringere Ölnachfrage in China infolge der Coronavirus-Lockdowns führten zu einem Rückgang des Ölpreises. Dies veranlasste das Ölproduzentenkartell OPEC, über eine mögliche Produktionskürzung zu diskutieren, um dem entgegenzuwirken. Es gab Pläne, die Ölproduktion um 1,5 Millionen Barrel pro Tag auf das niedrigste Förderniveau seit dem Irak-Krieg zu senken. Bei einem Treffen in Wien am 5. März 2020 gelang es der OPEC und Russland jedoch nicht, eine Einigung zu erzielen.
In einen erbitterten Wirtschaftskrieg um reduzierte Absatzmöglichkeiten verwickelt, kündigten Saudi-Arabien und Russland dann am 7. März konkurrierende Erhöhungen der Ölförderung an, was die Preise um weitere 25% Prozent sinken ließ. Am 8. März kündigte Saudi-Arabien unerwartet an, dass es die Rohölproduktion weiter steigern und mit einem Preisnachlass (von 6-8 Dollar pro Barrel) an Kunden in Asien, den USA und Europa verkaufen würde. Die Förderung von Rohöl in Saudi-Arabien ist viel billiger (18 $ pro Barrel) als in Russland (42 $), ganz zu schweigen von der Schieferölproduktion in den USA. Wenn Saudi-Arabien den Markt weiterhin überschwemmt, könnte es viele russische, amerikanische und andere Ölförderer aus dem Geschäft drängen.
Der russisch- saudi-arabische Ölpreiskrieg, verbunden mit einer wachsenden Coronavirus-Panik, löste das aus, was am als "Schwarzer" oder "Crash"- Montag bekannt wurde. Dabei fiel der Dow Jones an einem einzigen Tag so stark wie nie zuvor und viele andere Aktienmärkte brachen weltweit alle Arten von "Bärenmarkt-rekorden" (d.h. wenn die Aktienkurse nach einem früheren Höchststand um mindestens 20% fallen). Es folgte eine weitere Lawine von Ankündigungen von Interventionen der Zentralbanken und Regierungen.
In den USA schlug Trump eine 0%ige Lohnsummensteuer als Konjunkturimpuls vor. Am 11. März kündigte er dann ein vorübergehendes 30-tägiges Reiseverbot für die 26 Mitgliedsstaaten des Schengen-Raums in Europa an. Der folgende Tag wurde zum "Schwarzen Donnerstag", mit einem noch größeren prozentualen Rückgang der US-Börsen innerhalb eines Tages. Und auch am nächsten Tag richteten die internationalen Märkte Verwüstungen an. Der Dow Jones verzeichnete die schnellste Bewegung in einen Bärenmarkt in seiner 124-jährigen Geschichte. Zwischen dem 17. Februar und dem 13. März verlor der S&P 500 der Wall Street 27% seines Wertes, der FTSE 100 in London 30% und der Dax in Frankfurt 33%.
Auf dem Weg in eine tiefe Rezession
Die Aktienmärkte sind keineswegs ein korrektes Abbild der genauen Wirtschaftslage. Sie zeigen jedoch auf verzerrte Weise die Richtung an, in die sich die Wirtschaft bewegt. Ab Ende Februar begannen Ökonom*innen und Kommentator*innen damit, die Möglichkeit einer Rezession offen anzusprechen. Ihre Hauptfrage war jedoch, welche Form sie annehmen und wie tief sie sein würde. Würde es sich um eine V-förmige Rezession handeln, die mit einem steilen Absturz als Folge der während des Höhepunktes des Virus eingeführten Restriktionen beginnt, bald ihren Tiefpunkt erreicht und einer raschen Wende Platz macht?
Oder wären erste Anzeichen einer Erholung verfrüht und würden sie zu einem zweiten Einbruch, einer W-förmigen Rezession führen? Gewöhnlich riefen die Ökonom*innen mit dieser Frage die Behörden dazu auf, Hilfe zu leisten, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen, und zwar in Form von Steuererleichterungen, billigen Krediten oder finanzieller Unterstützung, um Entlassungen zu verhindern. Andernfalls könnten diese Unternehmen pleite gehen oder anfangen, Mitarbeiter zu entlassen, was die Möglichkeit einer Erholung untergraben würde. Die Folge wäre eine längere U-förmige Rezession oder sogar eine L-förmige Rezession, die kurz- bis mittelfristig keine Möglichkeit einer Erholung bietet.
Die Möglichkeiten, ein solches Szenario zu vermeiden, werden von Tag zu Tag geringer. Am 13. März gab JP Morgan bekannt, dass sich die eigene Einschätzung des Coronavirus-Ausbruchs "in den letzten Wochen dramatisch weiterentwickelt" hätte. Der plötzliche Stopp der wirtschaftlichen Aktivität durch Quarantäne, Absage von Veranstaltungen und Social Distancing, sowie das wochenlange Chaos auf den Finanzmärkten hätten den Schluss nahegelegt, dass die USA und die europäischen Volkswirtschaften bis Juli von einer tiefen Rezession betroffen sein werden.
JP Morgan schätzt, dass das BIP der USA im ersten Quartal um 2% und im zweiten Quartal um 3% schrumpfen wird, während die Eurozone um 1,8% bzw. 3,3% schrumpft. Das wäre katastrophal. Während der Weltwirtschaftskrise 2008-2009 betrug der Rückgang der Produktion in den USA etwa 4,5%. Jetzt wird er für China und Italien zunächst auf etwa 6,5% geschätzt und könnte bis zu 10% steigen. Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise baute die US-Wirtschaft 800.000 Arbeitsplätze pro Monat ab, und die Arbeitslosenquote erreichte einen Höchststand von 10%. Dieses Mal wird es noch viel schlimmer kommen. In China sind bereits Millionen von Menschen arbeitslos geworden, und viele weitere werden weltweit folgen. Die herrschenden Klassen haben schreckliche Angst vor dem Zorn, den dies hervorrufen könnte. Er könnte die Aufstände und Klassenkämpfe, die in der zweiten Hälfte des Jahres 2019 auf allen Kontinenten stattfanden, wiederbeleben und ausweiten.
Eine Reihe anderer Institutionen wie Goldman Sachs sowie Ökonom*innen korrigieren ebenfalls ihre Einschätzungen, und keine davon sieht viel optimistischer aus. Kenneth Rogoff von der Harvard-Universität sagte: "Eine globale Rezession scheint mit einer Wahrscheinlichkeit von über 90% zu diesem Zeitpunkt bereits eine gemachte Sache zu sein." Olivier Blanchard vom Peterson Institute sagte, es stehe für ihn "außer Frage, dass das globale Wirtschaftswachstum im ersten Halbjahr 2020 negativ sein wird". Die zweite Jahreshälfte werde davon abhängen, wann der Höhepunkt der Ansteckung erreicht sei, sagte er und fügte hinzu, dass dieser Zeitraum nach seiner "eigenen Einschätzung" wahrscheinlich ebenfalls negatives Wachstum aufweisen werde.
Der IWF definiert eine globale Rezession als einen Zeitpunkt, an dem das globale Wachstum, normalerweise etwa 3,5 bis 4% pro Jahr, unter 2,5% fällt. Nicht alle IWF-Alumni halten diese Definition unter den gegenwärtigen Umständen für sinnvoll, aber alle haben erklärt, dass die Bedingungen für eine globale Rezession unabhängig von der genauen Definition erfüllt sind. Im Jahr 2009 ging das weltweite BIP um 0,1% zurück. Derzeit geht das OECD-Szenario für den Fall, dass sich die Pandemie außerhalb Chinas ausbreitet, von einem Wachstum von 1,5% aus, das jedoch bald nach unten revidiert werden muss, möglicherweise weit unter das Niveau von 2009.
Gita Gopinath, Chefökonomin des IWF, sagte, dass dies, obwohl es schwer vorherzusagen sei, nicht wie eine normale Rezession aussehe. Sie verwies auf Daten aus China, die einen viel stärkeren Rückgang der Dienstleistungen zeigen, als ein normaler Abschwung vorhersagen würde. Sie sagte auch: "Dies könnte nur ein vorübergehender Schock sein, wenn es eine aggressive politische Reaktion darauf gibt, die verhindern kann, dass es sich zu einer größeren Finanzkrise ausweitet." In vielerlei Hinsicht bekam sie tatsächlich die aggressive Politik, die sie sich wünschte...
Am 3. März führte die FED angesichts der "sich entwickelnden Risiken für die Wirtschaftsaktivität" durch das Coronavirus eine Zinssenkung um 0,5% durch. Am 12. März kündigte sie dann ihre Pläne an, das Quantitative Easing um 1,5 Billionen Dollar auszuweiten, um Geld in das Bankensystem zu pumpen. Dann, am 15. März, senkte die Fed ihren Zinssatz erneut um einen vollen Prozentpunkt auf ein Zielniveau von 0 bis 0,25%, begleitet von einer weiteren Geldspritze in Höhe von 700 Milliarden Dollar. Am 16. März stürzten die Aktienmärkte jedoch erneut ab, der Dow Jones stürzte um fast 3.000 Punkte bzw. über 12% und verzeichnete damit den größten Tagesverlust in der Geschichte. Die finanzielle Panzerfaust der FED zielte darauf ab, einen drohenden Finanzcrash abzufedern. Aber im Bezug auf die erhoffte "Lockerung" (Easing) der Märkte hatte sie den gegenteiligen Effekt und verschärfte die Krise.
Was hätte getan werden sollen, allerdings in viel größerem Umfang, als die Kapitalist*innen bereit sind, es zu tun, wird von Chris Zaccarelli, Chief Investment Officer der Independent Advisor Alliance, angesprochen: "Erst wenn eine glaubwürdige und konkrete Finanz- und Gesundheitspolitik verfolgt wird, um die wirtschaftlichen und gesundheitspolitischen Risiken einzudämmen, dann werden werden wir beginnen, eine Stabilisierung am Aktienmarkt zu sehen". Das bestätigte sich, als die heftig kritisierte Trump-Administration schließlich eine Reihe begrenzter Maßnahmen zur Verbesserung des Zugangs zu Tests ankündigte. Ebenso, als Trump die Coronavirus-Pandemie zu einem "Nationalen Notfall im Bereich der öffentlichen Gesundheit "erklärte und 50 Milliarden Dollar an Staatsausgaben für Pandemiebekämpfungsmaßnahmen freigab, oder als Nancy Pelosi ankündigte, dass das US-Repräsentantenhaus ein weiteres Gesetz verabschieden würde, welches die Ausweitung von Krankenstandsregelungen beinhalten würde. Trump gab seinen anfänglichen Widerstand gegen das Gesetz auf und unterstützte es. Diese Maßnahmen waren der Hintergrund der kurzen Phasen, in denen die Aktienmärkte ihre Abwärtsspirale unterbrachen.
Das liegt nicht daran, dass die Märkte oder das Establishment plötzlich Mitleid mit den Familien der Arbeiter*innenklasse empfänden. Einige Zyniker*innen sehen sogar Chancen in der Coronavirus-Pandemie, wie z.B. die "Leerverkaufsspekulant*innen", die mit Wetten auf fallende Aktienkurse an der Börse Gewinne gemacht haben. Andere rechnen damit, dass der Tod vieler alter, unproduktiver Menschen die Produktivität steigern wird, weil die jungen und produktiven Menschen in größerer Zahl überleben werden.
Die Maßnahmen sind zum Teil darauf zurückzuführen, dass das Virus auch ihre eigene Gesundheit und ihren eigenen Wohlstand bedroht, vor allem aber darauf, dass sie sich vor den sozialen Erschütterungen fürchten, die es auslösen könnte, wenn man sie als zu unnachgiebig und gierig betrachtet. Sogar die OECD plädiert nun für eine zusätzliche staatliche Unterstützung der Gesundheitssysteme, einschließlich ausreichender Mittel, um eine angemessene Personalausstattung und Testeinrichtungen zu gewährleisten. Sie schlägt auch befristete Hilfsleistungen wie Geldüberweisungen oder Arbeitslosenversicherung für Arbeiter*innen vor, die im unbezahlten Urlaub sind, sowie die Garantie, die virusbedingten Behandlungskosten für alle zu übernehmen, wenn nötig auch rückwirkend. Aus den gleichen Gründen gestatten einige Banken ihren Kund*innen, Hypotheken aufzuschieben, und sogar rechte Regierungen ergreifen Sondermaßnahmen wie die Gewährung von Sonderurlaub im Krankheitsfall oder die Zulassung "technischer Arbeitslosigkeit" mit teilweiser Entschädigung für entgangene Löhne.
Vertreter*innen der herrschenden Klassen argumentieren, dass wir uns in einer " kriegsähnlichen" Situation befinden und dass dies außergewöhnliche Maßnahmen erfordere, die unsere Freiheiten zunehmend einschränken. Sie führen die Art von wirtschaftlichen Maßnahmen ein, die sie noch vor Wochen ohne weiteres abgelehnt hätten. Sie ziehen sogar das Instrument der Verstaatlichung in Betracht. Sie ist inzwischen zum Dauerthema geworden. Sogar der rechte französische Premierminister Édouard Philippe kündigte Verstaatlichungen an. Auffallend ist, dass er diesen Vorschlag nicht nur gemacht hat, um Unternehmen vor dem Bankrott zu retten, sondern auch als Drohung an diejenigen Unternehmen, die sich nicht an die Hygienebestimmungen halten.
Natürlich verbinden die herrschenden Klassen jegliche Maßnahmen mit einem Appell zum nationalen Schulterschluss, welchem leider viele Gewerkschaftsführer*innen, darunter auch Linke, nur allzu leicht Folge geleistet haben. Die Vorstellung, es handele sich um einen äußeren Feind, eine feindliche "Invasion", die wir alle durch die nationale Einheit stoppen müssten, wird zwar Auswirkungen auf breite Schichten der Gesellschaft haben, doch bereits jetzt durchschaut eine wachsende Zahl von Arbeiter*innen und Jugendlichen diese Heuchelei. Dies gilt insbesondere für die Arbeiter*innen in der Industrie, welche die Social Distancing als notwendig und verantwortungsvoll akzeptieren würden, sich aber fragen, warum sie weiter arbeiten müssen - und das ohne angemessenen Schutz.
Diese " kriegsähnliche" Situation wird ein Wendepunkt sein. Die herrschenden Klassen werden versuchen, dieser Krise jede Möglichkeit zu entreißen, demokratische Rechte abzuschaffen. Die Arbeiter*innen und Armen hingegen werden durch einige der durchgeführten Maßnahmen gelernt haben, dass neoliberale Wirtschaftskonzepte umgestoßen werden können.
Sozialist*innen begrüßen zwar alle Maßnahmen, die die Macht der Profiteur*innen einschränken und die öffentlichen Dienste und den Lebensstandard fördern. Aber wir erklären, dass solche Maßnahmen auf der Grundlage des profitorientierten kapitalistischen Systems nicht ausreichen werden, um dem Ernst der Lage gerecht zu werden. Nur wenn das Profitsystem durch demokratische sozialistische Planung und demokratisches öffentliches Eigentum als Motor einer umgestalteten Wirtschaft ersetzt wird, können die Ressourcen der Welt wirksam mobilisiert werden, um die Bedürfnisse der Menschheit zu befriedigen. Während kapitalistische Regierungen sich dem "Sozialismus für die Reichen" zuwenden mögen - einer Politik, die faktisch den öffentlichen Sektor plündert, um die Profite einer Minderheit zu schützen -, sind sie unfähig, den Umfang der öffentlichen Investitionen, Koordination und Planung zu realisieren, den die Situation erfordert.
Europa im Auge des Sturms
Die Europäische Kommission revidierte ihre Wachstumsprognosen für 2020 von 1,4% im Februar auf -1% in der zweiten Märzwoche und dann auf -2% bis -2,5% Mitte März. Die italienische Wirtschaft stagniert seit Wochen und ihre industriellen Kernregionen sogar noch länger. Das alles kommt nach Jahren sehr schleppenden Wachstums, nach denen Italien immer noch weit hinter dem Niveau von vor 2008 zurückliegt. Italien hatte bereits die drittgrößte relative Staatsverschuldung der Welt (135% des BIP), eng verwoben mit seinem brüchigen Bankensystem. Der Wert italienischer Bankaktien hat sich seit Mitte Februar halbiert. Eine Kreditklemme scheint so gut wie sicher, und das Gespenst eines "Doom Loop" zwischen Staat und Banken droht. Ein "Doom Loop" ist das Dilemma, vor dem ein Staat steht, wenn er inländische Banken in Konkurs gehen lässt, obwohl diese Banken gleichzeitig die größten Schuldtitel-Käufer dieses Staats sind. Ohne Finanzhäuser, die die Schuldtitel eines Landes kaufen können, gerät der Staat zusammen mit seinen Banken in die Insolvenz.
Italiens Wirtschaft ist groß genug, um eine weltweite Krise auszulösen, wenn sie schlecht verwaltet wird. Laut Ashoka Mody, der ehemaligen stellvertretenden Direktorin des IWF in Europa, ist eine sofortige "Firewall" in Höhe von 500 bis 700 Milliarden Euro erforderlich, um das Risiko einer internationalen Kettenreaktion der Finanzmärkte zu vermeiden. Während die EZB, die Europäische Kommission und die EU-Mitgliedsstaaten die Tiefe der kommenden Krise zu erkennen scheinen, ist es noch ein weiter Weg, bis sie in der Lage und willens sind, eine solche Intervention zu finanzieren. Dem IWF hingegen fehlen schlicht und einfach die notwendigen Ressourcen für eine derart massive Operation.
Vor dem Hintergrund der bereits erwähnten globalen Tendenz zu politischem und wirtschaftlichem Nationalismus, die in den letzten Jahren in Europa zu beobachten war, sollten die politischen Hindernisse nicht unterschätzt werden, die einer Umsetzung von "Rettungspaketen" im Wege stehen, wie sie 2010 für krisengeschüttelte periphere Mitgliedsstaaten zur Verfügung gestellt wurden.
Die europäischen Länder, insbesondere in der Eurozone, verzeichnen seit einigen Jahren ein schwaches Wachstum, das sich seit dem letzten Jahr noch einmal stark verringert hat. Ihre Lokomotive, die deutsche Wirtschaft, verlangsamte sich im vergangenen Jahr auf 0,6% Wachstum. Der industrielle Sektor befindet sich seit der zweiten Hälfte des Jahres 2018 in einer Rezession. Er ist von der Verlangsamung des Welthandels stark betroffen. Im Jahr 2019 schrumpfte die deutsche Industrie um 5,3%, wobei der Automobilbau um 25% einbrach. Während sich Deutschland am unteren Ende des Wachstums der Eurozone befindet, betrug jedoch auch das Wachstum der gesamten Region im Jahr 2019 lediglich 1,2% und sollte Prognosen zufolge bereits vor der Pandemie auf 0,8% zurückgehen.
Jetzt wird es noch viel schlimmer werden. Hinzu kommt, dass es bis Ende des Jahres immer noch zu einem No-Deal Brexit kommen könnte. Auch wenn dies derzeit bei weitem nicht die Hauptsorge ist, hätte es doch erhebliche negative Auswirkungen auf das Wachstum und würde zu weiterer Instabilität führen. Im Moment steht allerdings die Coronavirus-Pandemie im Zentrum der Aufmerksamkeit. Jeder Mitgliedsstaat ergreift seine eigenen Initiativen, Grenzen werden wieder hochgezogen, die Reisefreiheit wird eingeschränkt und der Binnenmarkt unter großen Druck gesetzt. Ein Land nach dem anderen verkündet seine eigene Version von Lockdowns und Aussperrungen.
Die EZB kann nicht umhin, ihre Ohnmacht anzuerkennen. Angesichts der wirtschaftlichen Auswirkungen von Covid-19 gibt sie zu, dass der Schlüssel zu dieser Situation bei den Nationalstaaten und den europäischen Budgetgremien liegt. Der Zinssatz der EZB liegt bereits seit vier Jahren bei Null. Der Zinssatz, zu dem Geschäftsbanken Geld bei der EZB anlegen können, ist bereits negativ (-0,5%). Ihn weiter zu senken, hätte nur marginale Auswirkungen. Um eine Einschränkung der Kreditvergabe an Unternehmen und Haushalte zu vermeiden, können die EZB und die nationalen Zentralbanken die Geschäftsbanken nur mit ausreichender Liquidität ausstatten. Zu diesem Zweck wird die EZB ihre langfristigen Kredite an die Geschäftsbanken erhöhen, und zwar zu einem negativen Zinssatz von 0,75%. Mit anderen Worten, die Geschäftsbanken werden subventioniert. Die EZB wird auch das Quantitative Easing um 120 Milliarden Euro ausweiten.
Doch auch dies wird nicht ausreichen, um Investor*innen zu beruhigen. Ebenso wenig werden die Geschäftsbanken, selbst wenn sie durch negative Zinssätze subventioniert werden, bereit sein, Geld an Unternehmen zu verleihen, die durch den Zusammenbruch ihrer Verkäufe derart geschwächt sind. Die EZB appelliert daher an die Nationalstaaten, privaten Unternehmen bei der Kreditaufnahme öffentliche Garantien anzubieten. Sie ruft die Nationalstaaten zu ambitionierten und koordinierten budgetären Maßnahmen auf. Forscher*innen des Bruegel-Instituts skizzierten die wichtigsten Maßnahmen, die ergriffen werden sollten: umfangreiche zusätzliche Mittel für die nationalen Gesundheitssysteme, verschiedene Maßnahmen zur Unterstützung von Haushalten, freien Berufen, Unternehmen und lokalen Gemeinden sowie makroökonomische Maßnahmen in Höhe von 2,5% des BIP, die durch erhöhte Haushaltsdefizite finanziert werden sollen. Pierre Wunch, Gouverneur der belgischen Nationalbank, erklärte: "Heute sind wir mit einem großen Schock konfrontiert, der vorübergehender Natur sein sollte. Wir müssen alle möglichen Spielräume durch gezielte und vorübergehende Maßnahmen nutzen, um Pleiten von Unternehmen und den Verlust von Arbeitsplätzen so weit wie möglich zu begrenzen. Wir sollten dies offen und ohne Zögern tun".
Der europäische Wirtschaftskommissar Gentiloni, betonte, dass die Maßnahmen der Kommission den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit bieten, Hunderte Milliarden Euro für den Kampf gegen das Coronavirus zu verwenden. Das wird mehr als notwendig sein. Die europäischen Budgetvorschriften werden gelockert, einschließlich der hochheiligen Maastricht-Normen, und alle Ausnahmeregeln des Stabilitätspakts werden vollständig angewendet. Dies, so Gentiloni, sei notwendig, um dem Finanzmarkt das Vertrauen zu geben, dass die EU-Länder diesmal alles tun werden, um eine tiefe Rezession zu vermeiden. Bundesfinanzminister Scholz sagte den deutschen Unternehmen eine unbegrenzte Unterstützung zu, welche offenbar bis zu 500 Milliarden Euro betragen könnte. Auch Frankreich, Schweden, Spanien, Dänemark und andere europäische Länder kündigten erhebliche Stützungsmaßnahmen an.
Italien kündigte zusätzliche Staatsausgaben in Höhe von 25 Milliarden Euro an, um die Schuldenzahlungen für Unternehmen auszusetzen und sie bei der Bezahlung von Arbeiter*innen zu unterstützen, die aufgrund der Sperrung vorübergehend entlassen wurden. Die EU-Kommission gab außerdem weitere 37 Milliarden Euro aus ihrem Budget frei, um Unternehmen zu helfen, sowie 1 Milliarde Euro zur Unterstützung der Europäischen Investitionsbank. Die Regeln für die staatliche Unterstützung von Unternehmen werden aufgeweicht. Ebenso besteht die Möglichkeit, die Mehrwertsteuer vorübergehend zu senken und die Steuereintreibung zu verschieben. Die spanische Regierung hat sogar beschlossen, zur Bekämpfung der Pandemie Einrichtungen privater Gesundheitsdienstleister unter ihre Kontrolle zu stellen. Wie in jeder größeren Krise muss der Kapitalismus, nachdem er die so genannten Vorzüge des freien Marktes verherrlicht hat, vom Staat gerettet werden, um seine Wunden zu verbinden und einen weiteren Zusammenbruch zu verhindern.
Für viele wird klar sein, dass diese begrenzten "Kriegskonzessionen" der EZB und der Europäischen Kommission diese nicht weniger feindlich gegenüber Arbeiter*innen und Armen machen. Wenn überhaupt, dann nimmt die Feindseligkeit der Bevölkerung ihnen gegenüber weiter zu. Die italienische Bevölkerung war empört über die ursprüngliche Weigerung der französischen und deutschen Behörden, wichtige sanitäre und medizinische Hilfe für Italien über ihre Grenzen passieren zu lassen. Dies wurde vom chinesischen Regime ausgenutzt. CHina sicherte Italien zusätzliche Hilfe und medizinische Berater*innen zu (nachdem Italien bereits von China durch seine Beteiligung an der Belt and Road-Initiative als Stützpunkt in der Eurozone genutzt wurde).
Die Europäische Union, ein neoliberales, arbeiter*innenfeindliches Projekt, das unter dem "progressiven" Deckmantel der Reisefreiheit und des europäischen Gedankens präsentiert wurde, ist immer wieder auf den Prüfstein gestellt worden. Doch die anrollende tiefe Rezession wird sich als ultimative Bewährungsprobe erweisen. Sie wird eine Vielzahl von Unternehmen in den Bankrott treiben, Millionen in die Arbeitslosigkeit und in Armut stürzen, Lebensstandards verschlechtern, die Nachfrage hemmen und damit die Erholung erschweren. Die EU hat sich nie als fähig erwiesen, die nationalen Widersprüche des Kontinents tatsächlich zu überwinden. Der globale wirtschaftliche und geopolitische Kontext verstärkt die ohnehin bereits starken zentrifugalen Tendenzen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die EU diesen Test in ihrer jetzigen Form überleben wird.
Arena für kommende Kämpfe
Eine tiefe Rezession, möglicherweise sogar eine Depression, könnte sich für eine Weile lähmend auf den Klassenkampf auswirken. Die Angst, das Wenige zu verlieren, was man hat, kann die Arbeiter*innen und ihre Familien in eine "Defensivhaltung" versetzen. Darüber hinaus ist es nicht automatisch so, dass die Masse der Bevölkerung den Zusammenhang zwischen den Verbrechen des Kapitalismus und der Verbreitung des Coronavirus sofort versteht. Die herrschende Klasse wird die kommende Katastrophe als einen "höhere Gewalt" darstellen, als eine Naturkatastrophe, die niemand hätte verhindern oder vorhersehen können und die wir alle zu tragen hätten, inklusive der notwendigen "Opfer".
Sie werden auch die nationalistische und fremdenfeindliche Haltungen schüren, indem sie ein "fremdes" Virus für die Probleme verantwortlich machen und dies auf Migrant*inneen, Geflüchtete usw. projizieren. Dies kann in einem Teil der Bevölkerung für eine gewisse Zeit ein Echo finden.
Letzten Endes wird dies jedoch nicht die weltweit vorherrschende Reaktion von Arbeiter*innen, Frauen, Jugendlichen und Unterdrückten sein. Selbst auf kurze Sicht werden Massenarbeitslosigkeit und Angriffe auf den Lebensstandard den Zorn der Massen schüren. In Verbindung mit dem verbrecherischen Mißmanagement des Coronavirus durch die herrschende Klasse und ihrem Profitstreben auf Kosten der Gesundheit von Arbeiter*innen wird dies zu sozialen Explosionen im Zeitalter Covid-19 führen.
Diese Generation ist anders. Ihr fehlen zwar die Massenorganisationen sowie die politischen Erfahrungen und Perspektiven früherer Generationen, aber sie ist eine Generation, die durch extreme Lebens- und Arbeitsbedingungen ohne jegliche Sicherheit geprägt ist. Schon seit einiger Zeit hat sie das Establishment und die Ungleichheit des Systems gehasst.
Diese Generation, oder zumindest ein Teil von ihr, hat die Erfahrung der Weltwirtschaftskrise durchlaufen und eine fortwährende Politik der Liberalisierung, der Kürzungen und der Privatisierungen durchlebt, deren Scheitern nun auf dramatische Weise aufgedeckt wird. Es handelt sich auch um eine Generation mit Kampferfahrungen. Das zeigt sich etwa in der großartigen, andauernden globalen Klimarevolte. Sie zeichnet sich durch ein sich herausbildendes Verständnis dafür aus, dass das System mit den Bedürfnissen des Planeten unvereinbar ist - und durch eine weit verbreitete Offenheit für revolutionäre Ideen. Eine neue Weltwirtschaftskrise wird eine weitere Lektion für den Bankrott des kapitalistischen Systems liefern und die Saat für revolutionäre sozialistische Schlussfolgerungen säen, die von Millionen Menschen gezogen werden müssen.
Die Erfahrung dieser Krise wird auch für die Arbeiter*innenklasse nicht verloren gehen. Es ist zum Beispiel sehr unwahrscheinlich, dass die Beschäftigten im Gesundheitswesen akzeptieren werden, einfach wieder zur Normalität zurückzukehren, sobald sich die Pandemie unter Kontrolle ist. Hinzu kommt, dass sie und alle anderen "systemerhaltenden" Arbeiter*innen bei kommenden Arbeitskämpfen enorme Unterstützung aus der Bevölkerung genießen werden. Während die Isolation während der Pandemie von vielen als eine verantwortungsbewusste Haltung akzeptiert wurde, hat sie auch ein unbestreitbares Gefühl der Solidarität geschaffen, insbesondere mit denjenigen, die Krankheit und Not zum Opfer gefallen sind oder am meisten davon gefährdet sind. Diese Solidarität kann in der kommenden Zeit zu einer Waffe des Widerstands der Arbeiter*innenklasse werden - eine Zeit, die auch von dem Kampf darum geprägt sein wird, wer die Rechnung für diese Krise bezahlen wird: wieder die Arbeiter*innenklasse?
Diese Krise ist in vielerlei Hinsicht ein entscheidender Wendepunkt. Sie wird in ihrem Verlauf noch verschiedene Stadien durchlaufen, aber im Allgemeinen wird die Situation sehr offen sein. Forderungen, die bisher als unrealistisch angesehen wurden, werden als realistisch und erreichbar gesehen werden, wie z.B. eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn, die Organisierung am Arbeitsplatz und nachbarschaftliche Demokratie. Ein sozialistisches Programm, das auf der Verstaatlichung und demokratischen Planung von Schlüsselsektoren der Wirtschaft basiert, wird ein viel größeres Echo finden als in der Vergangenheit. Die Coronavirus-Krise zeigt ebenso wie die Klimakrise eindringlich die dringende Notwendigkeit einer internationalen sozialistischen Planung auf der Grundlage globaler Partnerschaft und Zusammenarbeit. Das ist im von Gier getriebenen kapitalistischen System unmöglich.
Wenn aber keine solche Alternative aufgebaut wird, wird das System wie in jeder anderen Krise der kapitalistischen Geschichte über die Leichen der Arbeiter*innenklasse und der Armen gehen, um Wege zu finden, sich zu erhalten. Der Aufbau einer internationalen revolutionären sozialistischen Kraft, die als Teil der kommenden Kämpfe wächst und sich entwickelt, die energisch eingreift und einen vereinten Kampf für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft auf internationaler Ebene vorantreibt, ist von zentraler Bedeutung, wenn die globale Arbeiter*innenklasse nicht schon wieder den Preis für eine weitere Krise zahlen soll.