Do 04.07.2019
Am Samstag, den 22. Juni gingen in Kassel etwa 1.200 Menschen auf die Straße gegen Rechtsterrorismus und für das Verbot von Combat 18.
Die SAV Kassel unterstützte gemeinsam mit etwa 60 anderen Organisationen den Demo-Aufruf. Die Demonstration forderte die restlose Aufklärung des Mordes an Walter Lübcke. Am 27. Juni riefen die Stadt und das Land Hessen zu einer weiteren Kundgebung auf, an der sich 10.000 Menschen beteiligten. Der Regierungspräsident für Nordhessen war am 2. Juni in seinem Garten aus nächster Nähe erschossen worden. Polizeiliche Ermittlungen wollten zunächst nicht von einem rechtsterroristischen Motiv ausgehen, obwohl es im Internet eine Welle rechter Hetze auf den CDU Politiker gab, die den Mord begrüßte. Kurze Zeit später wurde jedoch Stephan Ernst, Mitglied von Combat 18 und Neonazi, der in der Vergangenheit schon mehrfach Anschläge und Angriffe sowohl auf Migrant*innen als auch Gewerkschafter*innen verübte, festgenommen. Dieser hat die Tat inzwischen vor dem Amtsgericht Kassel gestanden, das führte auch zum Fund weiterer Mordwaffen und der Festnahme von Mittätern. Bei der Erneuerung des Haftbefehls durch die Übernahme des Falls durch den Bundesgerichtshof hatte Ernst jedoch sein Geständnis widerrufen. Parallelen und Zusammenhänge zu den NSU Morden werden vermutet. Wie können wir eine Aufklärung des NSU Komplex und dem Mord an Lübcke erreichen? Wie organisieren wir antirassistischen Widerstand von unten?
Drei riesige Fragezeichen
Die Ermordung des CDU Politikers aus nächster Nähe wirft mindestens folgende drei Fragen auf.
1. Wieso stand er auf der Liste des NSU?
Laut dem Spiegel und anderen Medien stand Walter Lübcke auf der Liste der 10.000 Namen, die der NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) bis 2011 zusammengetragen hatte. In den Medien wird das Motiv der Ermordung von Walter Lübcke jedoch vor allem mit dem Vorfall von 2015 in Zusammenhang gebracht. Im Zuge der Migrationsbewegung kamen tausende Geflüchtete nach Nordhessen und wurden zum Teil zunächst in Zelten nahe des Caldener Flughafens untergebracht. In dem Zusammenhang war Lübcke verantwortlich für die Verteilung von Geflüchteten in der Region. Am 14. Oktober 2015 sprach er bei einer Anwohner*innenversammlung in Lohfelden nahe Kassel und informierte über eine neue Erstaufnahmeunterkunft. In dieser Zeit war „Kagida“ (in Anlehnung an Pegida) in Kassel zwar gerade abgeflaut, dennoch mischten sich Anhänger der rechten Bewegung unter die Versammlung und störten diese. In dem Zusammenhang soll Lübcke gesagt haben: „Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“ Diese Aussage wurde gefilmt und geisterte monatelang, teilweise verzerrt, vor allem durch rechtsradikale Kanäle, versehen mit Mordfantasien und Hassbotschaften.
2. Wieso tauchte das Video kurz vor seinem Mord wieder auf?
Laut Recherchen von T-online war das Video, mit dieser Aussage von 2015 im Februar 2019 erneut auf rechten Blogs geteilt worden und löste einen neuen Shitstorm im Internet gegen Lübcke aus, der schon 2015 zeitweise Polizeischutz beantragen musste. Möglicherweise steht das Video in Verbindung mit dem Mord. Es ist auch wahrscheinlich, dass Stephan Ernst bei dieser Versammlung 2015 selbst anwesend war und Lübcke zu dieser Aussage provozierte. Teilten er und seine Anhänger*innen das Video, in Vorbereitung auf den bevorstehenden Mord? Hätte der Verfassungsschutz schon vorher wissen können, dass ein Anschlag auf Lübcke geplant wurde?
3. Welche Verbindungen gibt es zu Verfassungsschutz und NSU?
Als 2006 Halit Yozgat in seinem Internetcafé von einem Mitglied des NSU ermordet wurde, war der „Verfassungsschützer“ Temme anwesend. Seitdem stellt sich die Frage: Kannte Temme den Mörder von Halit Yozgat? Oder hat er sogar selbst gemordet? Aufgrund seiner widersprüchlichen Aussagen wurde Temme, der unter Kolleg*innen auch den Spitznamen „Klein-Adolf“ trägt, versetzt: in das Regierungspräsidium, dessen Chef Walter Lübcke war. Unklar ist, ob er auch in den aktuellen Mord verwickelt ist, klar ist aber, dass sowohl Andreas Temme, als auch Stephan Ernst enge Verbindungen zum NSU haben. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung ist es zynisch, dass Behörden, wie das Oberlandesgericht München 2013 davon ausgingen, der NSU sei verschwunden und sogar die Kommunikationsbeschränkungen für Beate Zschäpe aufhoben. Hinsichtlich der Tatsache, dass die Ausführung der Tat in vieler Hinsicht der Art und Weise des NSU ähnelte – direkte Hinrichtung aus nächster Nähe durch einen Kopfschuss – kann man davon ausgehen, dass es sich um eine NSU-Nachahmertat handelt, wie auch die Linke Abgeordnete des Hessischen Landtags Jeannine Wissler aussagte. Auch die Verbindung zu Andreas Temme ist gegeben, der laut Frankfurter Rundschau auch mit Stephan Ernst bekannt gewesen war. Zudem taucht Ernst in den NSU Akten des Hessischen Verfassungsschutz auf, die jedoch für 120 Jahre gesperrt sind! Aufgrund des Mordes soll die Sperrung nun jedoch auf 30 Jahre verkürzt werden. Damit kann sie trotzdem erst 2044 eingesehen werden, was angesichts der Umstände ein Skandal bleibt. Obwohl neun Migrant*innen und eine Polizistin ermordet wurden, ein Nagelbombenanschlag mit 22 Verletzten in einem von Arbeiter*innen und Migrant*innen bewohnten Viertel verübt, ein Regierungspräsident durch einen Kopfschuss getötet wurde, wollen die Behörden den NSU Komplex nicht auflösen.
Abgesehen davon scheint der Verfassungsschutz ein Hort rechter Kräfte zu sein. Allein der ehemalige Chef des Verfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen ist ein Indiz dafür, dass der Betrieb vom Kopf her stinkt. So verharmloste dieser die Hetzjagd auf Migrant*innen und Linke in Chemnitz im Sommer 2018 und wirbt aktuell für eine schwarz-blaue Regierung von AfD und CDU.
Wer war Lübcke?
Es ist rühmlich, dass Walter Lübcke sich im Oktober 2015 gegen die Anfeindungen der Pegida Anhänger stemmte. Allerdings tat er bei der Umverteilung der Geflüchteten im Raum Nordhessen auch Arbeit nach Vorschrift. In dem Zeltlager am Flughafen Calden lebten zeitweise auch hunderte Migrant*innen, die aus Mazedonien und anderen Balkanregionen vor Armut und Elend geflohen waren. Diesen als „Wirtschaftsflüchtlinge“ gebrandmarkten Menschen wurde kein Asyl zugestanden, stattdessen wurden sie direkt vom Flughafen Calden und anderen Orten wieder abgeschoben. Auch dafür war Lübcke mitverantwortlich. Die Aussage „Wir schaffen das“ von seiner Chefin Angela Merkel, war nicht mehr als ein moralischer Appell an überlastete Staatsstrukturen und Auslandsbehörden, die in den Jahren vor dem Migrationssommer 2015 dramatisch zusammengekürzt wurden, den Krankenhäusern, die völlig unterversorgt und mit einem riesigen Personalmangel zu kämpfen haben, die Schulen, die mit Ach und Krach die „Inklusion“ durchführen und nun auch noch tausende Kinder mit fehlenden Sprachkenntnissen versorgen sollen. Es war der peinliche Appell einer Bundeskanzlerin, die in den letzten Jahren daran beteiligt war, die Kommunen auszubluten, Wohnraum zu verkaufen, strukturelle Investitionen zurückzuhalten und das mit der „Schwarzen Null“ zu begründen. Dass viele Beschäftigte im öffentlichen Dienst und in den Kommunen über diese Aussagen „Wir schaffen das“ wütend waren, weil sie bereits an der Überlastungsgrenze angelangt waren und keine Perspektive bekamen, dass der öffentliche Dienst ausgebaut würde, ist nachvollziehbar. Die Antwort kann jedoch nicht „Ausländer raus“ oder das Aushöhlen des Asylrechts lauten, wobei die vom Kapitalismus am stärksten betroffenen Schichten noch mehr leiden müssen. Sondern die Antwort muss eine radikale Umverteilung, eine Überführung der größten Banken und Konzerne in Gemeineigentum unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der arbeitenden Bevölkerung und einen Bruch mit dem kapitalistischen System beinhalten, das auf Spaltung, Ausbeutung und systematischer Gewalt basiert und diese vor allem in Krisenzeiten schürt.
Alltagsrassismus und rechte Angriffe bekämpfen!
Die Ermordung von Walter Lübcke wird momentan auch in der internationalen Presse breit diskutiert. Sie gilt als Zäsur, da es seit 1945 keine vergleichbaren Fälle mehr gab. Das ist jedoch nicht völlig korrekt. Zwar gab es bisher keine Angriffe auf Politiker*innen mit Todesfolge, doch sowohl in Köln als auch in Altena wurden 2015 und 2017 je die Oberbürgermeisterin Henriette Reker und der Bürgermeister Andreas Hollstein Opfer rechtsextremer Messerangriffe, die beide nur knapp überlebten. Beide erhielten nach der Ermordung von Lübcke auch E-Mails mit gleichem Inhalt. In denen stand, dass sie und eine Liste weiterer Politiker*innen bald hingerichtet würden im Zuge einer „Phase bevorstehender Säuberungen“. Darüber hinaus gab und gibt es unzählige Todesdrohungen und Anschläge auf Politiker*innen der LINKE, auf LINKE Regionalbüros, Wohnhäuser, Fahrtzeuge und linke Aktivist*innen.
Von 1949 bis 1990 gab es gar keine Erfassung rechtsradikaler Morde in West- oder Ostdeutschland. Die Statistiken, die seit 1990 geführt werden, schwanken zwischen 169 und 188 Morden, wobei es auch eine Reihe von tödlichen Anschlägen auf Obdachlose und Menschen in Polizeigewahrsam gab, die bisher nie aufgeklärt wurden, doch höchstwahrscheinlich dazugehören. Derweil werden aktuell 467 Neonazis per Haftbefehl gesucht – und offensichtlich seit Jahren nicht gefunden.
Wesentlich weniger wird thematisiert, dass der staatlich und medial befeuerte Alltagsrassismus zunimmt. Das Asylgesetz ist erneut geschliffen worden, Orte wie das jüdische Restaurant ‘Schalom’ im Chemnitz werden immer wieder angegriffen, deren Besitzer mit Drohanrufen eingeschüchtert. Auch Angriffe im öffentlichen Nahverkehr gegenüber Menschen mit anderen Hautfarben, sexueller Orientierung, Kopftuch, Kippa oder linken Symbolen nehmen zu. Gewerkschaften und auch die Partei die LINKE muss dieser Stimmung entschlossen entgegentreten. Demonstrationen sind ein guter Anfang, reichen jedoch allein nicht aus. Wichtig ist die klare Verbindung von Fluchtursachen mit Kapitalismus, der Kampf für Umverteilung, den Bau von sozialem Wohnraum für alle, für die Errichtung von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst, die Organisation von Veranstaltungen und der Aufbau von antirassistischen Strukturen in jedem Betrieb und jedem Kiez.
Der Täter, die rechte Szene und der Verfassungsschutz
Spätestens seit dem Auffliegen des NSU 2011 wurde die Forderung laut, den Verfassungsschutz aufzulösen. Denn entweder wussten die Behörden nichts vom NSU und waren unfähig dieses über viele Jahre mordende Netzwerk aufzudecken. Oder sie wussten vom NSU und haben die Morde jahrelang nicht verhindern können oder wollen. Allein die merkwürdige Verbindung von Andreas Temme, der als V-Mann-Führer in die Ermordung von Halit Yozgat verwickelt ist und auch den Mörder von Lübcke sehr wahrscheinlich kannte – deutet eher auf letzteres hin.
Die Gelder, die mit der Auflösung des VS frei werden würden, könnten für Jobs im öffentlichen Dienst, wie Pflege, soziale Arbeit, sozialen Wohnraum für alle etc. und vor allem für professionelle Recherchearbeit, wie sie vor allem linke Antifanetzwerke betreiben, ausgegeben werden. Auch in dem aktuellen Fall um Walter Lübcke zeigt sich der ganze Unwille und die Unfähigkeit des Verfassungsschutzes: Laut des aktuellen Präsidenten Thomas Haldenwang war Lübckes Mörder zuletzt 2009 als Neonazi in Erscheinung getreten und deshalb nicht mehr beobachtet worden. Fähigere Nachforschungen von Exif haben jedoch ergeben, dass Stephan E. sogar noch im März 2019 an einem Treffen mit Mitgliedern von „Combat 18“ und der „Brigade 8“ teilnahm. Wir brauchen den VS offensichtlich nicht.
Erhöhte Gefährdungslage?
Nicht erst seit dem Mord an Walter Lübcke gibt es Hinweise darauf, wie eng einige Staatsstrukturen mit rechtsradikalen Netzwerken verknüpft sind. Es wurde am Anfang in den Medien davon gesprochen, Stephan Ernst sei Einzeltäter gewesen. Doch in den letzten Tagen wurden zwei weitere Mittäter festgenommen, die die Tatwaffe verkauft bzw. vermittelt haben sollen. Einer davon ist Markus H. der sowohl Halit Yozgat kannte, der vom NSU erschossen wurde, als auch mit Ernst 2009 beim Angriff auf eine gewerkschaftliche 1. Mai Kundgebung in Dortmund dabei gewesen sein soll.
Darüber hinaus flog erst kürzlich ein Netzwerk von dreißig sogenannten „Preppern“, der Gruppe ‚Nordkreuz‘ auf, also Menschen, die von der absoluten Katastrophe ausgehen und sich mit massenhaft Konserven und Waffen versorgen, um auf den ‚Tag X‘ vorbereitet zu sein. Diese Szene ist zum Teil, vermischt mit Reichsbürgern, die immer noch an das Fortbestehen des Dritten Reichs glauben und von einer jüdischen oder US-geführten Verschwörung faseln, gleichzeitig aber auch Angst vor der ‚Überflutung‘ durch muslimische Geflüchtete und deren Kultur haben. Auf einer Liste sammelte das Netzwerk über 25.000 Namen von Linken, Muslim*innen, Gewerkschafter*innen und anderen, um deren Ermordung zu planen. Laut der Frankfurter Rundschau vom 27.06 besteht beispielsweise Nordkreuz aus Mitgliedern von „Bundeswehr und Polizei, darunter mehrere Ehemalige sowie ein aktives Mitglied des Spezialeinsatzkommandos (SEK) des Landeskriminalamts (LKA) Mecklenburg-Vorpommern“.
Seehofer und andere sprechen angesichts des Anstiegs rechtsradikaler Aktivitäten und Netzwerken derzeit von einer „erhöhten Gefährdungslage“. Dabei verschweigen oder verharmlosen sie ihre eigene Rolle als geistige Brandstifter, die Geflüchtete alle in die Ecke des Terrorismus schiebt, Obergrenzen fordert und die AfD und deren faschistische Verstrickungen und deren hohe Unterstützung von Beschäftigten bei Polizei, Militär, Verfassungsschutz und privaten Sicherheitsfirmen absolut verharmlost.
Diese Verstrickungen machen deutlich: Wir können und dürfen uns bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus nicht auf den Staatsapparat verlassen!
Für die Offenlegung dieser terroristischen Netzwerke braucht es wirklich unabhängige Institutionen: Komitees aus Vertreter*innen von Gewerkschaften, Migrant*innenverbänden und antirassistischen Initiativen müssten diese Arbeit übernehmen. Ihnen sollte auch die Überprüfung der Mitarbeiter*innen von Polizei, Versammlungsbehörde und Justiz obliegen. Zudem wäre es an ihnen, zukünftiges polizeiliches Verhalten zu beobachten und einzuschätzen.
Richter*innen sollten demokratisch gewählt und jederzeit abwählbar sein.
Zudem wird es immer dringender, dass die Organisationen der Arbeiterbewegung, allen voran die Gewerkschaften, eine aktivere Rolle einnehmen, um Schutz vor rechter Gewalt zu organisieren. Durch Gewerkschaften, Linken, Migrantenorgansationen sollten auf lokaler Ebene flächendeckend Komitees zur Vernetzung aufgebaut werden, um bei Drohungen von rechts und Aktionen rechter Gewalt Schutz zu organisieren.
Wir fordern:
Verfassungsschutz abschaffen
Für unabhängige Untersuchungsausschüsse von Migrationsorganisationen, Gewerkschaften und Opferverbänden zur Aufklärung des NSU und weiterer rechter mit dem Staat verwickelter Strukturen
Jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit von Richter*innen, Rechenschaftspflicht
In Schulen, Betrieben, Stadtteilen und Unis Komitees gemeinsam mit Gewerkschaften gegen staatlichen- und Alltagsrassismus sowie gegen rechte Gewalt organisieren
Für die Abschaffung der Schuldenbremse auf Landes- und Bundesebene – Wiedereinführung der Vermögenssteuer, Einführung einer Millionärssteuer von zehn Prozent
Für bedarfsgerechte Kommunalhaushalte, massive Investitionsprogramme in die Bereiche Bildung, Soziales, Gesundheit
Enteignung der Immobilienkonzerne und massiver Ausbau von sozialen Wohnungen und sozialer Infrastruktur
Verstaatlichung der Banken und Schlüsselindustrien unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der arbeitenden Bevölkerung
Für eine sozialistische Demokratie