Di 30.04.2019
Wer die Revolution zugunsten der Reform ablehnt, wird am Ende ohne beides dastehen.
Als Anfang 2015 die „Koalition der radikalen Linken“ („Syriza“) in Griechenland an die Macht kam und Tsipras Premierminister wurde, kannte das Entsetzen bürgerlicher Medien und Regierungen keine Grenzen. Denn die neue Regierung hatte angekündigt, das Kürzungsdiktat zu beenden, unter dem die Bevölkerung seit Ausbruch der Eurokrise litt. Das Kapital und seine Schreiberlinge reagierten mit wütender Hetze in bester Kalter Kriegs-Tradition und mit unverblümter Erpressung. Vier Jahre später ist alles anders: Die Financial Times berichtet voll Lob über die Wandlung des „Lenins der Ägäis“ zum „Darling des EU-Establishments“. Syriza hat das Kürzungsdiktat nicht nur nicht beendet: Nachdem Tsipras das eindeutige „Nein“ bei einem Referendum zur Frage eines neuen, von der EU diktierten, Kürzungsprogramms ignoriert hatte, setzte seine Regierung die brutalsten Kürzungsmaßnahmen seit Ende der Militärdiktatur um – schlimmere, als die der sozialdemokratischen und konservativen Vorgängerregierungen.
Wie konnte das passieren? Waren Tsipras und Syriza von Anfang an böswillige Verschwörer, die sich ein linkes Mäntelchen umwarfen, um ihre eigentlich neoliberalen Pläne effektiver umzusetzen? Nein. Der Grund für die Kapitulation Syrizas liegt in den unlösbaren Widersprüchen ihrer politischen Perspektiven. Denn entgegen den Befürchtungen des europäischen Kapitals wollte Syriza den Kapitalismus nicht abschaffen. Das Thessaloniki-Programm der Partei sah im Wesentlichen die Rücknahme von Kürzungen, ein Programm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, progressive Besteuerung und einige demokratische Reformen vor. Alles Maßnahmen, die in der „guten, alten Zeit“ des Nachkriegsaufschwungs auch von bürgerlichen Regierungen umgesetzt wurden. Doch seit Ende des Nachkriegsaufschwungs und besonders seit Ausbruch der Krise 2007/8 hat sich der wirtschaftliche Spielraum für solche Maßnahmen radikal verkleinert. Gleichzeitig hat sich das politische Kräfteverhältnis massiv verschoben. Der Verrat der Führungen der großen Organisationen der Arbeiter*innenklasse hat die Arbeiter*innenbewegung in eine Krise gestürzt – zugunsten der bürgerlichen Kräfte, die ihr System als alternativlos präsentieren konnten. Vor diesem Hintergrund war es in Griechenland unmöglich, auch nur beschränkte Reformen durchzuführen, ohne an die politischen und wirtschaftlichen Grenzen des Kapitalismus zu stoßen. An diesen Grenzen gibt es nur mehr die Alternativen: Bruch mit dem Kapitalismus oder Unterwerfung unter sein Diktat. Syriza zog, gegen den Willen der Massen, letzteres vor. Andros Payiatsos, Marxist und Aktivist der griechischen Schwesterorganisation der SLP, Xekinima, sieht darin „eine entscheidende Lektion in Bezug auf die Rolle des Reformismus in der aktuellen globalen Epoche“. Nämlich, „dass der Versuch einer linken Partei, in der Regierung die Krise des Kapitalismus zu managen und innerhalb des Systems Lösungen für die ökonomischen und sozialen Probleme zu finden, zum Scheitern verurteilt ist“.
Was sich in Griechenland innerhalb eines halben Jahres in verdichteter Form abgespielt hat, entfaltete sich in Venezuela ähnlicher über die letzten 15 Jahre. Chavez verschaffte sich dank des stärkeren Zugriffs auf die verstaatlichte Erdölindustrie wirtschaftlichen Spielraum für weitreichende soziale Reformen: Armut und Analphabetismus wurden effektiv bekämpft und sogar Formen von demokratischer Mitbestimmung in der Wirtschaft wurden erprobt. Doch das kapitalistische Wirtschaftssystem blieb bestehen – die gesamte Nahrungsmittelindustrie ist in den Händen von ein paar Familien. Diese setzen ihre Macht ein und erzeugen künstliche Nahrungsmittelengpässe, um die linke Regierung unter Druck zu setzen. Die Wirtschaft blieb vom Ölpreis und damit den Launen des internationalen Marktes abhängig. Ebenso blieb der bürgerliche Staat und seine Institutionen bestehen. Chavez versuchte, ihn für linke Politik nutzbar zu machen, indem er „seine“ Leute an die richtigen Positionen setzte. Doch damit schuf er nur die Grundlage für eine bürokratische und korrupte Freunderlwirtschaft in den staatlichen Apparaten, deren Auswüchse unter Maduro groteske Ausmaße annahmen. Aufgrund der besonderen Situation gelang es in Venezuela länger, auf dem schmalen Grat zwischen Revolution und Zusammenbruch zu wandeln. Doch dieser Grat kommt an sein Ende und der Aufprall droht umso härter zu werden.
Denn die Widersprüche eines reformistischen Regimes lassen sich nur um den Preis der Aufgabe seiner fortschrittlichen Elemente im Zaum halten. So beschloss Syriza Anti-Streik-Gesetze. Chavez und Maduro setzten Gewalt gegen Demos und Fabrikbesetzungen ein, die genau das forderten, was die Regierung versprach. In Bolivien wurde Morales mit seiner Partei „Bewegung für den Sozialismus“ erster indigener Präsident des Landes und setzte viele Verbesserungen für indigene Schichten um – doch auch er blieb auf der Basis des Kapitalismus. Die Folge: Seit 2011 versucht Morales, eine Autobahn durch das indigene TIPNIS-Gebiet zu bauen, die Konzernen wie dem brasilianischen Ölmulti Petrobas profitable Geschäfte ermöglicht. Den indigenen Widerstand lässt er mithilfe bewaffneter Trupps niederschlagen. Am weitesten fortgeschritten ist dieser Prozess wohl in Nicaragua, wo Ortega heute eine Karikatur der linken sandinistischen Bewegung anführt. Seit mehr als einem Jahr befindet sich seine Regierung quasi im Bürger*innenkrieg gegen die Jugend des Landes, die gegen Armut und Perspektivlosigkeit rebelliert.
Das Versagen des Reformismus ist umso fataler, als seine Niederlage nicht einfach zum Ausgangszustand zurückführt. Mangels linker Alternative kann die gerechtfertigte Wut über diese Politik zu Rekrutierungsfeldern für rechte und rechtsextreme Kräfte werden. In allen genannten Ländern mischen sich solche Kräfte in die Bewegungen gegen die scheiternden reformistischen Regierungen und bieten sich als Alternativen dar. So entstehen konterrevolutionäre Dynamiken, die nicht nur errungene Fortschritte rückgängig machen, sondern darüber hinaus grundlegende soziale und demokratische Errungenschaften zerstören können. Das erschütterndste Beispiel dafür ist die Machtübernahme Bolsonaros in Brasilien. Sein Aufstieg ist ohne den Frust über die jahrelange Korruption der einst gefeierten „Arbeiterpartei“ PT nicht erklärbar.
In „normalen“ Perioden scheint der Reformismus den Massen als vernünftiger Weg, weil er die Grundlagen des Systems, das er reformieren will, nicht in Frage stellt. Doch die Konfrontation, die er mit den Auswüchsen des Systems eingeht, macht es nötig, genau diese Grundlagen in Frage zu stellen. In diesen Perioden fällt der Reformismus notwendigerweise hinter das Bewusstsein der Massen zurück: Denn nicht mehr die revolutionäre Umwälzung scheint utopisch, sondern die weitere Reform des Bestehenden. Marxist*innen können den Erfolg eines Bruches mit dem Kapitalismus nicht garantieren. Dieser ist von vielen Faktoren abhängig, nicht zuletzt der Existenz einer revolutionären Partei, in welcher sich die fortgeschrittensten Schichten der Arbeiter*innenklasse zusammenschließen - und ob es gelingt, den Unmut zu einer internationalen revolutionären Welle zusammenzufügen. Garantieren können wir nur, dass der reformistische Weg, auch wenn er weniger konfrontativ erscheint, auf jeden Fall in die schmerzhafte, schlimmstenfalls blutige Niederlage führt.