Di 23.08.2016
Bei der Sommerschulung des „Committee for a Workers´ International“ (CWI, dessen Sektion in Österreich die SLP ist), die in diesem Jahr im belgischen Leuven stattfand, ermöglichte uns die Genossin Maria Clara von „Liberdade, Socialismo e Revolução“ (LSR; Schwesterorganisation der SLP in Brasilien) einen lebhaften Einblick in die bedeutsamen Wendungen, die die Ereignisse im Land genommen haben. Den bisherigen Höhepunkt fanden die Entwicklungen im kürzlich durchgeführten parlamentarischen Putsch der traditionell rechten Parteien, der sich gegen Präsidentin Dilma Rousseff von der „Arbeiterpartei“ (PT) richtete.
Die diesem „Coup“ zugrunde liegenden ökonomischen Bedingungen wurden dabei ausgiebig beleuchtet. Die PT ist in der Zeit der Diktatur gegründet worden, die bis 1985 andauerte. Trotz ihrer fundamental-reformistischen Politik hat sich diese Partei in der ArbeiterInnenklasse ein starkes Ansehen erworben, was 2002 zur Wahl von Lula Da Silva zum Präsidenten des Landes geführt hatte. Zur Enttäuschung vieler, die zu den AnhängerInnen der PT zählten, haben Lula und seine Nachfolgerin Rousseff die Herrschaft des Kapitals jedoch nie in Gefahr gebracht. Begleitet wurde diese Situation allerdings eine Zeit lang auch von einem Wirtschaftsboom, der auf die Rohstoffexporte nach China zurückzuführen war.
Doch der Wirtschaftsabschwung in China hatte einen katastrophalen Effekt auf den Lebensstandard in Brasilien. Das Bruttoinlandsprodukt des lateinamerikanischen Staates ist im vergangenen Jahr um drei Prozent zurückgegangen. Mit dem Rückgang der Industrieproduktion um 25 Prozent innerhalb der letzten drei Jahre ist die Erwerbslosigkeit um drei Millionen zusätzliche Erwerbslose auf insgesamt elf Millionen angestiegen. Ein Viertel der Beschäftigten verdient weniger als den gesetzlichen Mindestlohn, der bei 240 Euro pro Monat liegt.
Doch auch das reicht der kapitalistischen Klasse noch nicht. Sie ist entschlossen, die Kürzungen auszuweiten, um auf Kosten der ArbeiterInnenklasse und der verarmten Schichten die Profitabilität wieder herzustellen. Die HauptvertreterInnen des Kapitals und die traditionellen konservativen Parteien haben entschieden, dass sie von der Regierung Rousseff keine derartige Ausweitung der Kürzungsmaßnahmen erwarten können.
Wendepunkt 2013
2013 stand für einen Wendepunkt. Damals – vor der noch anstehenden Fußball-WM im eigenen Land – explodierte eine wütende Bewegung. Die Menschen aus der ArbeiterInnenklasse hatten mit ansehen müssen, wie umfangreiche Mittel zu Gunsten des Turniers in die Infrastruktur gepumpt wurden und parallel dazu dem System der öffentlichen Daseinsvorsorge das Wasser abgegraben wurde.
Bei den Wahlen von 2014 hatte Rousseff es noch vermocht, an der Macht bleiben zu können. Dies geschah nicht, weil die Massen gemeint hätten, dadurch eine gute Regierung zu erhalten, sondern vielmehr weil eine Regierung der traditionellen Rechten (wozu auch Kräfte zählen, die Verbindungen zur alten Diktatur haben) noch schlimmer gewesen wäre.
Als dann Korruptionsskandale aufgedeckt wurden, in die die PT verwickelt ist und bei denen alles danach aussah, als sei diese Partei genauso korrupt wie der Rest, wurde ihre Position weiter geschwächt. Die „Operation Autowäsche“ führte zur Inhaftierung derart vieler Konzernvorstände und ParteivertreterInnen, dass ein Minister meinte, die Untersuchungen sollten eingestellt werden, weil einfach alle Abgeordneten mit drin hängen würden.
Kabinett Temer
Angesichts einer stärker werdenden Protestbewegung, die sich diesmal eher aus der Mittelschicht rekrutierte, wurde von PolitikerInnen, die genauso korrupt sind wie die PT, ein Amtsenthebungsverfahren im Parlament durchgesetzt, das zur zeitweiligen Suspendierung von Rousseff führte und dazu, dass sie durch Temer ersetzt wurde. Letzterer hatte in den 13 Jahren zuvor als Juniorpartner ebenfalls der Regierung angehört.
Dass sein neues Kabinett ausschließlich aus weißen Männern besteht, steht sinnbildlich für die reaktionäre Wende, die diese Regierung vollziehen will. Die Ministerien für ethnische Gleichheit, Frauen und Kultur sind abgeschafft worden, wobei die Proteste von KünstlerInnen und MusikerInnen, die in Form von direkten Aktionen zum Ausdruck kamen, dafür gesorgt haben, dass letzteres wieder eingeführt wurde.
Die ArbeitgeberInnen verlangen wesentliche Verschlechterungen von dieser Regierung wie zum Beispiel eine Reform des Arbeitsschutzgesetzes, um Menschen leichter entlassen zu können. Auch die Anhebung des Renteneintrittsalters wird wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen. Fakt ist, dass sich – obwohl sich die Protestwelle, die den Hintergrund für den Sturz von Rousseff bildete, gegen die Regierung gerichtet und in erster Linie aus der Mittelschicht rekrutiert hat – daraus kein genereller Rechtsschwenk der brasilianischen Gesellschaft ableiten lässt. Die Leute wehren sich auch gegen die arbeitnehmerInnenfeindliche Politik, die die ArbeitgeberInnen wollen.
Die Opposition, der sich diese neue Regierung gegenüber sieht, hat eine breite gesellschaftliche Dimension. Die Regierung Temer will sich die Rechte der LGBTQ-Community genauso vornehmen wie die Möglichkeit einschränken, an Abtreibungspillen zu kommen. Diese Faktoren wie auch der jüngste Fall einer Gruppenvergewaltigung eines minderjährigen Mädchens, der kein strafrechtliches Urteil nach sich gezogen hat, haben zu einer Revolte unter Frauen geführt.
Proteste weiten sich aus
Ein über vier Monate dauernder Streik im Bildungssektor ist zeitlich zusammengefallen mit einer Protestbewegung von SchülerInnen, die zur Besetzung von Schulgebäuden übergegangen sind. Allein in Sao Paulo waren zweihundert Schulen betroffen, was die geplanten Schulschließungen vorerst gestoppt hat. Ähnliche Kämpfe sind auch bei bei Volkswagen und General Motors ausgebrochen. Dort wehren sich die KollegInnen gegen Betriebsauslagerungen. Die unterschiedlichen Kämpfe sind bisher vereinzelt geblieben, und die Regierung verspürt – auch wenn sie immer nervöser wird – noch nicht den Druck, der nötig ist, um die Angriffe zurück zu nehmen. Aus Angst vor dem Aufkommen einer erneuten Protestbewegung, wie sie die Regierung Rousseff während der Fußball-WM erleben musste, hat die nationale Regierung Ausnahmegesetze verabschiedet, um in den Wochen, in der die Olympischen Spiele ausgetragen werden, hart gegen Proteste durchgreifen zu können.
Inmitten all dieser Entwicklungen musste LSR zu einer korrekten Position gegen diesen institutionalisierten Putsch kommen. Gleichzeitig durften wir dabei weder Rousseff noch die PT aus der Verantwortung nehmen. Schließlich haben auch sie umgesetzt, was die ArbeitgeberInnen wollten.
Im Gegensatz dazu hat eine andere bekannte Organisation der revolutionären Linken, die PSTU, eine nicht tragfähige Position eingenommen, bei der sie die alte mit der neuen Regierung im Wesentlichen gleichsetzt. Damit entfernt sie sich von der Opposition gegen Temer. Die PSTU ist sogar so weit gegangen zu sagen, dass die Absetzung von Rousseff ein Sieg für die ArbeiterInnenklasse sei. Dabei war ganz offenkundig, dass Rousseffs Ende nicht auf außerparlamentarische Kämpfe zurückzuführen ist. Diese falsche Position war ein wichtiger Faktor, der zu einer größeren Spaltung innerhalb der PSTU geführt hat.
Möglichkeiten für P-SOL
Die LSR steht in Opposition zum Putsch und beteiligt sich am Banner „Volk ohne Angst“ gemeinsam mit einer Reihe anderer linker und ArbeitnehmerInnenorganisationen. Die „Partei für Sozialismus und Freiheit“ (P-SOL), in der die LSR mitarbeitet, schneidet in den Umfragen besser ab. Sie wird als Kraft gesehen, die mit der allgemein korrupten Politik in Brasilien nichts zu tun hat. P-SOL könnte bei den überall im Land anstehenden Kommunalwahlen in wichtigen Städten große Zugewinne einzufahren.
Der Fall Rousseff fällt zusammen mit einem allgemeinen Trend, der bei reformistischen und ehemals reformistischen linken Kräften zu beobachten ist. Ehemals linke PräsidentInnen lateinamerikanischer Länder werden – wie in Argentinien – wieder aus dem Amt gewählt. Das könnte demnächst auch in Venezuela passieren, wo eine schwerwiegende gesellschaftliche Krise herrscht. Die grundlegende Lehre daraus ist, dass es nicht viel Wert hat, ein politisches Amt zu erringen, wenn eine Regierung, die sich selbst als links bezeichnet, nicht dazu bereit ist, den Kapitalismus als System anzugreifen und für sozialistischen Wandel zu kämpfen.