Fr 14.08.2020
Am Abend des 10. August brachen die Proteste in Minsk, der Hauptstadt von Belarus, aus. Tausende Menschen errichteten Barrikaden und kämpften gegen schwer bewaffnete Polizeieinheiten. Der Straßenverkehr wurde blockiert. Die meisten Internetprovider beendeten ihre Arbeit. Das ruhige, normalerweise fast provinziell wirkende Minsk verwandelte sich in eine Arena von erbitterten Straßenkämpfen. Der Grund für die größten Ausschreitungen in der Geschichte des Landes ist die offensichtliche Fälschung der Wahlergebnisse, die am 09. August stattgefunden haben zu Gunsten des jetzigen Präsidenten Alexandr Lukaschenko endeten.
Der starke Mann Lukaschenko
Lukaschenko, der auch als letzter Diktator Europas bezeichnet wird, ist vor sechsundzwanzig Jahren als Populist und Ostalgiker an die Macht gekommen. Der ehemalige selbsternannte „prinzipientreue Kämpfer gegen die Korruption und Vertreter des kleinen Mannes“, das „Väterchen“ genannt, ist jedoch selbst rasch zu einem von mehreren bonapartistisch regierenden Autokraten im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion geworden. Die historische Aufgabe solcher Figuren war es, mit allen Mitteln den sozialen Frieden in der Zeit des Übergangs der ehemaligen Republiken in der zerfleischten Sowjetunion zu einer „neuen“ alten kapitalistischen Wirtschaftsform zu gewährleisten. Lukaschenko repräsentierte für die Bewohner der Republik einen starken Mann, der im Vergleich zu Russland oder Ukraine die Oligarchen, Kriminalität und die entgleiste Privatisierung im Schach hielt.
Kommunismus?
Jedoch ist Belarus trotz aller Behauptungen der bürgerlichen Kommentatoren keine Planwirtschaft und kein Überbleibsel der Sowjetunion. Die Mehrheit aller Beschäftigten arbeitet in der privaten Wirtschaft. Lediglich 39,7% aller Arbeiter*Innen sind in staatlich geführten Betrieben tätig. Auch wenn ein großes Teil der weißrussischen Industriewerke noch in staatlicher Hand ist, arbeiten alle diese Betriebe nach den gängigen Gesetzen des Marktes und sind keineswegs „geplant“. Zudem sind schon hunderte Großbetriebe in Aktiengesellschaften überführt und privatisiert worden, darunter die Öl Raffinerie Naftan, der Fahrzeug- und Rüstungsproduzent Minsker Auto Werk, die Minsker Traktorenwerke und viele andere. Auch deutsche Unternehmer wie Carl Zeiss, Fresenius, MAN die gewiss keine Sozialisten sind, investieren gerne in die hoch industrialisierte weißrussische Wirtschaft. Die größten ausländischen Investoren, die das Kapital nach Weißrussland exportieren sind Russland und Großbritannien – definitiv keine kommunistischen Länder. Auch die sechs weißrussischen Milliardäre sowie zehntausend Millionäre würden sehr überrascht sein, wenn sie entdeckt hätten, dass sie noch im „Sozialismus“ leben.
Der Meister der Balance
Jahrzehnte lang ist es Präsidenten Lukaschenko gelungen eine Balance zwischen den größten Imperialistenblocks NATO, China und Russland zu halten, ohne in eine endgültige Abhängigkeit von einer dieser Mächte zu rutschen. Lukaschenko ist trotz offizieller Bündnisverträge mit Russland genauso wenig ein Mann Putins, wie von Merkel. Lukaschenko unterstützte keine der imperialistischen Annexionen Russlands. Um die Einflusskräfte auszugleichen, schloss er Milliardenverträge mit China. Genauso ist es ihm, dank profitablen Verträgen mit Russland, gelungen die Tore nach Osten für die weißrussische Industrie und Landwirtschaft offen zu halten und im Gegenzug günstige Rohstoffe für die lokale Industrie zu bekommen. Dadurch konnte ein hoher Lebensstandard ermöglicht werden. Die vollen Kassen gaben dem Präsident Lukaschenko die Möglichkeit die Stimmen der Rentner, der Arbeiter*innen der großen öffentlichen Betriebe, sowie Landwirtschaftsarbeiter*innen zu bekommen. Die neuen Reichen wurden durch den Druck des Staatsapparats unter Kontrolle gehalten. Lukaschenko „schwebte“ über den Klassen und genoss in der Tat das Vertrauen der Millionen.
Allerdings sind die „fetten Jahre“ seit langem vorbei. Eine Reihe von kapitalistischen Krisen in letzten zwölf Jahren bewirkte eine Schwächung des wichtigsten Absatzmarkts Weißrusslands, der Russischen Föderation, und zur langjährigen Stagnierung der Wirtschaft. Vor allem die Jugendlichen und die Beschäftigten der großen Industriebetriebe wurden zu den ersten Opfern der Kapitalismusturbulenzen. Die Arbeiter*innen leiden durch fehlende Auftragszahlen. Die Jugendlichen landen auf der Arbeitslosenbank. Die schrumpfende Wirtschaft, der korrupte Staatsapparat und Vetternwirtschaft haben für die meisten Jugendlichen faktisch alle Möglichkeiten für einen sozialen Aufstieg blockiert. Auch das Kleinbürgertum, der untere Mittelstand, waren von der Krise stark betroffen. Außerdem äußerte auch die kleine Schicht der Millionäre immer mehr Unzufriedenheit über die stagnierende Privatisierung und die starke Kontrolle des Staates. Plötzlich wurde es leer um den Bonaparte. Die immer wieder aufflammenden Protestaktionen wurden von dem herrschenden Regime brutal zerschlagen, Aktivist*Innen gnadenlos verfolgt, ins Gefängnis geworfen oder in die Emigration gezwungen.
Die Zeit des sozialen Friedens ist seit 2014 endgültig vorbei. Und wie gewöhnlich für bonapartistische Staaten trägt der Bonaparte Lukaschenko in den Augen der Bevölkerung höchst persönlich die Verantwortung für das Scheitern der Wirtschaft. Die mangelhafte Bekämpfung der Covid-19 Pandemie und der schlechte Zustand des Gesundheitssystems führte zu einem weiteren massiven Absturz der Popularität des Väterchens. Auf Basis vieler Umfragen hatte er keine Chance gehabt die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen.
Allerdings war die alte „prowestliche“ liberale Opposition demoralisiert und nicht bereit Lukaschenko die Stirn zu bieten. Sie haben lediglich zum Boykott der Wahlen aufgerufen. Die neuen Figuren, wie der Bankmanager Babariko, ein ehemaliger Mitkämpfer von Lukaschenko, und der hochrangige Staatsbeamte Zepkalo, traten offen gegen Lukaschenko auf, was deutlich auf die Spaltung und Desorientierung der herrschenden Klasse vor dem Hintergrund einer massiven Wirtschaftskrise hinwies. Zur populärsten Figur wurde der berühmte Videoblogger Tichanowski, der weder superreich noch ein Berufspolitiker war. Die Belarus*innen waren bereit jeden zu wählen, der nicht mit dem korrupten Regime verbunden war.
Für Lukaschenko und seinen Anhängern ist es politisch sehr eng geworden. So eng, dass er die meisten seiner Wahlopponenten bereits verhaftet lies. Im Falle einer Niederlage landet er unausweichlich im Gefängnis. Deswegen mobilisierte er alle Kräfte des bürgerlichen Staates, um die Proteste im Keim zu ersticken. Vergeblich. Trotz massiver Einschüchterung und Arrest seines Gegenkandidaten Tichanowski fand bereits am 30.07 in Minsk die größte politische Demonstration in der Geschichte Weißrusslands mit 63 000 Teilnehmer*Innen statt. Der erschrockene Lukaschenko bedrohte die Massen mit der Armee, Polizei und hat sogar angedeutet, dass die Geschichte ihm ein eventuelles Blutbad in Namen des sozialen Friedens vergeben wird. Jedoch kehrten die Wähler ihm den Rücken – die Ehefrau des verhafteten Bloggers, Tichanowskaja, bekam nach allen Umfragen mehr Stimmen als das korrupte Väterchen Lukaschenko.
Als das staatliche Fernsehen am Sonntag den Sieg von Lukaschenko verkündete, entflammten in allen großen Städten der Republik spontane Proteste. Zehntausende Menschen versuchten unter dem Motto „Hau ab“ die Stadträte und wichtigsten Straßen zu blockieren. Tausende wütende Jugendlichen traten in direkte Auseinandersetzungen mit den Polizeihundertschaften. Innerhalb von zwei Tagen versuchten Demonstrant*innen acht Mal Polizeiblockaden mit Autos zu durchbrechen. Dutzende wurde durch Gas- und Blendgranaten sowie Gummigeschosse verletzt. In den ersten 48 Stunden der Proteste wurden 5000 Menschen verhaftet.
Die Proteste, die eine gewisse Ähnlichkeit zu Mai-Aufstand in der Ukraine haben, unterscheiden sich jedoch wesentlich durch das direkte Auftreten der Arbeiter*innenklasse und die Passivität der Oligarchen. Bereits am zweiten Tag der Proteste traten die Arbeiter*innen des Minsker Metallwerk in den Streik. Dem Werk folgten bereits zehn Großbetriebe (u.a. das Minsker Elektrotechnikwerk, der Minsker Straßenverkehrbetrieb, das Minsker Traktorenwerk). Die Proteste nehmen den Charakter eines politischen Streiks an.
Der Aufstand in Belarus befindet sich gerade in der Entwicklung. Die Arbeiter*Innenklasse lernt gerade sich zu organisieren, mit Streiks die politischen Reformen durchzusetzen und den gehassten Diktator zu verjagen. Die herrschende Macht bleibt immer mehr sozial isoliert, was zur Verbitterung und Kompromisslosigkeit der Kämpfe führt. Unsere Genoss*innen im Nachbarland Russland unterstützen solidarisch die Kämpfer*Innen in Belarus mit Materialien in beiden Sprachen und Protesten bei der weißrussischen Botschaft in Moskau. Wir appellieren an die linken Organisationen in Belarus mit der Notwendigkeit des Aufbaus unabhängiger Organisationen der Arbeiter*Innenklasse und Jugendlichen und der Entwicklung eines eigenen politischen Programms. Der Weg zur Befreiung ist die politische Demokratie und eine sozialistische Wirtschaft, eine Wirtschaft die sich nicht in den Händen von ein paar Milliardären oder selbsternannte Nationsvätern befindet, sondern den 99 %, der arbeitenden Bevölkerung dient.