Fr 16.03.2007
Die ersten beiden Tage des insgesamt acht Tage dauernden Kongresses beschäftigten sich mit „Weltbeziehungen“. Ein wichtiger Bestandteil dieser Diskussion waren der kapitalistische Konjunkturaufschwung, die Aussichten für die Weltwirtschaft und die Frage einer internationalen Rezession.
Zudem gab es eine Debatte über die Bedeutung Chinas für die globale Ökonomie, die Entwicklungen in diesem mit 1,3 Milliarden Menschen bevölkerungsreichsten Land auf dem Planeten und die Frage vom Klassencharakters des chinesischen Staates.
Eine Woche nach dem Weltkongress des CWI fand ein weiteres internationales Treffen in gänzlich antagonistischer Zusammensetzung statt: „Noch nie hat es Davoser Topökonomen und andere hier so stark und akut beschäftigt, ob nicht die Globalisierung am Ende doch gefährlich viele Verlierer produziert. Und ob es dauerhaft tragbar ist, wenn womöglich nur die Bessergestellten von den weltweiten Wirtschaftsfortschritten etwas Zählbares abbekommen und die Kluft immer größer wird“ (Financial Times Deutschland vom 26. Januar). Laut dem chinesischen Wirtschaftspolitiker Zhu Min ist die Einkommenskluft „in den USA mittlerweile wieder so groß wie 1913, als die reichsten ein Prozent der Amerikaner 45 Prozent der Einkommen hatten. In den sechziger Jahren sei die Quote auf 28 Prozent gefallen. [...] So ähnlich sagt das LarrySummers. Oder Laura Tyson. Oder Nouriel Roubini. Selbst der Chefökonom der Investmentbank Morgan Stanley, Stephen Roach, hält irgendwie sorgenvoll fest, dass der Anteil des Faktors Arbeit an den Nationaleinkommen auf historische Tiefs gefallen ist.“ An dieser Stelle weist die FTD auf folgenden Umstand hin: „Zur Erinnerung – Die Zitate kommen vom Davoser Weltwirtschaftsforum.“
Eine Woche zuvor hatte das internationale Treffen von SozialistInnen von allen Kontinenten herausgestellt, dass die dramatisch veränderte Lohnquote (also der Anteil der Löhne am Volkseinkommen) und die gewaltigen Kürzungen bei den Sozialausgaben keine „traurigen Begleiterscheinungen des Booms“ sind. Vielmehr handelt es sich dabei um die logische Erklärung für die Rekordprofite und den Umfang des gegenwärtigen Konjunkturaufschwungs.
Gefahr einer Weltwirtschaftskrise
Peter Taaffe vom Internationalen Sekretariat (IS), der das Eröffnungsreferat hielt, unterstrich, dass die Kapitalistenklassen weltweit augenblicklich uneins darüber sind, ob es zu einem baldigen, abrupten Ende des Aufschwungs kommen wird oder ob ein in historischen Maßstäben betrachtet überdurchschnittlich lang anhaltender Aufschwungszyklus zu erwarten ist.
Die TeilnehmerInnen des Kongresses waren sich darin einig, dass sich die Dauer des Wirtschaftswachstums nicht prognostizieren lässt. Eine Verlängerung des 2001/2002 begonnenen Konjunkturaufschwungs um ein, zwei oder sogar drei Jahre kann nicht ausgeschlossen werden. Das würde allerdings eine besonders tiefe internationale Krise um so wahrscheinlicher machen.
IS-Mitglied Lynn Walsh betonte im Schlusswort, dass sich die Krisenanzeichen mehren, die auf ein baldigeres Ende des Aufschwungs schließen lassen könnten. Bereits im vergangenen Jahr hat die US-Wirtschaft, die Herzkammer der Weltwirtschaft, deutlich an Kraft verloren. Neben der Abschwächung der Wachstumsraten im Verlauf des Jahres 2006 platzte auch die Immobilienblase. Zwischen 1999 und 2006 waren die Eigenheimpreise um 130 Prozent hochgeschnellt und hatten dem Konsum zusätzliche Nahrung gegeben. Der Einbruch bei den Immobilienpreisen wird aller Wahrscheinlichkeit nach einen Rückgang beim Konsum zur Folge haben. Die Rücklagen der privaten Haushalte befinden sich in den Vereinigten Staaten auf dem tiefsten Stand seit 1933. Viele ArbeiterInnenfamilien haben in den letzten Jahren über ihre Verhältnisse gelebt und sich verschuldet. Die Niederlage im Vietnam-Krieg vor dreißig Jahren hatte seinerzeit eine schwere Dollar-Krise nach sich gezogen. Es ist davon auszugehen, dass sich die in jüngster Zeit bereits eingesetzte Abschwächung des Dollars weiter fortsetzen wird. Damit verschlechtern sich die Exportaussichten für europäische und asiatische Staaten.
Der Rückgang des Ölpreises ist sicherlich nicht allein mit den in diesem Winter bisher überdurchschnittlich warmen Temperaturen zu erklären, sondern könnte auch ein weiteres Indiz für eine Abschwächung der globalen Nachfrage sein. Dazu kommt die Absenkung einer Reihe wichtiger Rohstoffpreise (seit Mai 2006 um 20 Prozent).
Krisenpotenziale
Es sind aber nicht nur die Anzeichen für ein allmählich nahendes Ende des derzeitigen Konjunkturaufschwungs, welche einem weitsichtigeren Teil der bürgerlichen Ökonomen Sorgenfalten auf die Stirn treiben, sondern auch die darüber hinaus existierenden bedrohlichen Krisenpotenziale in der Weltwirtschaft. Tätigkeiten auf den internationalen Finanzmärkten, vor allem spekulative Unternehmungen, haben erheblich an Gewicht gewonnen – da ein „Überschuss“ an Kapital besteht, der aufgrund des Niedergangs des Kapitalismus nicht produktiv angelegt werden kann. Die Hedge Fonds haben ein Volumen von nunmehr astronomisch hohen eine Billion US-Dollar. Fusionen und Übernahmen grassieren allerorten. Immobilienblasen haben nicht nur in den USA, sondern auch in Großbritannien, Spanien und anderen Ländern den Konsum auf extrem fragiler Basis angeheizt.
Der Wert von Krediten, Anleihen und Wertpapieren beläuft sich heute auf die Summe von 140 Billionen US-Dollar (beinahe das Dreifache des globalen jährlichen Sozialprodukts). Schreibt man die gegenwärtigen Entwicklungen fort, wären es im Jahr 2010 200 Billionen Dollar. Ein Finanzkrach ist jederzeit vorstellbar. Sollte ein solcher von größerem Umfang sein, oder eine Kettenreaktion auslösen, ließe sich eine international erfolgreiche Rettungsaktion nicht ohne weiteres bewerkstelligen.
Neben den möglichen finanzpolitischen Krisenherden bleibt das Leistungsbilanzdefizit der USA – in der vergangenen Phase Grundlage für die Länge des internationalen Aufschwungs – die zentrale Achillesferse. Die USA schulden dem Rest der Welt heute schon 2,7 Billionen Dollar. Eine Größenordnung, die nicht längerfristig zu halten ist.
Kein „Rettungsanker“ in Sicht
Sollte eine Wirtschafts- und, oder Finanzkrise ausgehend von den USA ihren Lauf nehmen, sollten die Wogen hochgehen, der Tanker Weltwirtschaft ins Trudeln geraten und Schiffbruch drohen, dann gäbe es keinen Rettungsanker, um dieses Szenario zu vereiteln. Die EU-Wirtschaft dümpelt selber mit niedrigen Wachstumsraten vor sich hin. Frankreichs Wirtschaft stagnierte im dritten Quartal 2006 sogar. Italien ist von einem Staatsdefizit von 108 Prozent des Bruttosozialprodukts gebeutelt. Aber auch Deutschlands wirtschaftliche Steigerung von gut 2,5 Prozent im letzten Jahr ist eine Schwalbe, die noch lange keinen Frühling macht (mit der Exportabhängigkeit und den Belastungen für die KonsumentInnen wäre die deutsche Wirtschaft nicht in der Lage, bei einer US-Rezession der Weltwirtschaft entscheidend zur Hilfe eilen zu können).
Russland hat sich inzwischen zwar zur zehntgrößten Wirtschaftsnation gemausert. Allerdings beruht das Wachstum einseitig auf der Nachfrage nach Öl und Gas. Damit scheidet Russland als möglicher „Jungbrunnen“ ebenfalls aus.
Aber auch China, ganz zu schweigen von Indien, könnten (trotz ihrer seit Jahren um bis zu zehnprozentigen Wachstumsraten) im Fall einer US-Rezession eine Weltwirtschaftskrise nicht aufhalten. China hat zwar mittlerweile Frankreich und Großbritannien auf die Plätze fünf und sechs der führenden Industrieländer verwiesen und rapide an Einfluss auf den Weltmärkten gewonnen. Dennoch beträgt der Anteil Chinas am Weltsozialprodukt gerade vier Prozent. China hat selber Überkapazitäten aufgebaut (so im Immobiliensektor) und spekulative Blasen entstehen lassen. Früher oder später wird das Ausmaß an faulen Krediten spürbar werden. Während die Binnennachfrage für 70 Prozent der US-Wirtschaft verantwortlich ist, sind es in China nur ein Drittel. Kein Wunder angesichts der Superausbeutung der ArbeiterInnenklasse.
Klassencharakter des chinesischen Staates
Das Dokument zu „Weltbeziehungen“ einschließlich der Abschnitte zu Weltwirtschaft und China wurde von den Delegierten des Weltkongresses einstimmig angenommen. Obgleich auch bezüglich Analyse und Perspektiven für China Übereinstimmung vorherrschte, gab es dennoch eine Diskussion über den Klassencharakter des chinesischen Staates.
Es bestand auf dem Weltkongress des CWI Konsens darüber, dass der chinesischen Ökonomie auf nationaler Ebene längst nicht mehr eine geplante Wirtschaft zu Grunde liegt. Die Einführung des Kapitalismus ist in vollem Gang. Mit Methoden wie zu Zeiten des Manchester- Kapitalismus: Häufig eine Sieben-Tage-Woche für FabrikArbeiterInnen, vor allem für TextilArbeiterinnen (die in Shenzen oder Guangdong nicht selten in Wohnheimen mit Mehrbettzimmern neben dem Werk hausen müssen; mit brutalen Mitteln daran gehindert werden, während der Arbeit einzuschlafen). Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht Bergarbeiter mangels Sicherheitsvorkehrungen irgendwo im Land verschüttet werden. Segun Sango von der nigerianischen Sektion konstatierte, dass es große Teile der ArbeiterInnen in Nigeria, vor die Wahl gestellt, vorziehen würden, von den Imperialisten Nordamerikas oder Europas und nicht von China ausgebeutet zu werden, da die Arbeitsbedingungen unter chinesischen Vorzeichen für sie noch brutaler erscheinen.
Es brodelt aber auch in China: 2005 gab es offiziell 87.000 Proteste (Streiks sind eigentlich verboten). Spontane Erhebungen sind jederzeit möglich.
In China stellen sich Aufgaben der sozialen und der politischen Revolution: Zum einen der Kampf für die Rücküberführung der privatisierten Wirtschaft in staatliche Hände und die Wiederherstellung einer Planwirtschaft. Zum anderen der Kampf für demokratische ArbeiterInnenkontrolle und -verwaltung in den Staatsbetrieben.
Die schwedischen GenossInnen vertraten auf dem Weltkongress die Position, dass China als eindeutig kapitalistischer Staat betrachtet werden muss. Sie argumentierten, dass auch die verschiedenen Staaten der ehemaligen Sowjetunion Unterschiede und Eigenarten aufweisen, dass China ebenfalls ein Staat ist, der genauso aus einem stalinistischen System hervorging und heute besondere Merkmale aufweist. Per-Ake Westerlund betonte, dass China extrem eng mit der kapitalistischen Weltwirtschaft verflochten ist (ob die WTO-Mitgliedschaft seit 2001 oder die gegenseitige Abhängigkeit zwischen den USA und China). Für Laurence Coates und andere schwedische GenossInnen sind staatskapitalistische Maßnahmen (wie Friedrich Engels Eingriffe des kapitalistischen Staates in die Wirtschaft bezeichnete) in der kommenden Zeit – konfrontiert mit einer Weltwirtschaftskrise – gut möglich beziehungsweise sogar wahrscheinlich. Aber auch in Thailand, so Laurence, habe man gerade erst erlebt, wie ein kapitalistisches Regime zu Kapitalverkehrskontrollen greift.
Auch Andros Payiatsos aus Griechenland warf die Frage auf, ob für den Klassencharakter eines Staates nicht maßgeblich ist, welche Interessen er verfolgt. Und dass die chinesische Bürokratie sich doch dafür entschieden hat, eine kapitalistische Marktwirtschaft aufzubauen.
Demgegenüber brachten das Internationale Sekretariat und Delegierte mehrerer Sektionen in ihren Beiträgen die Meinung zum Ausdruck, dass China sich zwar im Übergang zum Kapitalismus befindet und dieser Prozess sehr weit fortgeschritten ist, dass es sich aber nichts desto trotz um einen Prozess handelt, der noch nicht vollständig abgeschlossen ist und mit Widersprüchlichkeiten behaftet ist.
Auch wenn die Wirtschaft kapitalistisch dominiert ist (wobei Clare Doyle vom IS mehrere Ausgaben der Financial Times zitierte, die den Staatsanteil der Wirtschaft mal mit 30, mal mit 50, mal mit 70 Prozent angaben) stellte Lynn Walsh heraus, dass in China einige Besonderheiten zu registrieren sind. Staatsbanken haben noch bedeutenden Einfluss auf private Unternehmen. Vermögende Aktienbesitzer haben in vielen Fällen keine dem Westen vergleichbare Möglichkeiten, auf Aktiengesellschaften einzuwirken. Grund und Boden gehören noch dem Staat und müssen gepachtet werden. Dementsprechnd, so Lynn, haben sich kapitalistische Normen noch nicht vollständig etabliert.
China hat Merkmale wie einzelne „hybride“ Regime zwischen 1945 und 1990 – mit umgekehrten Vorzeichen. Damals gab es Länder wie Algerien oder Libyen, die unter dem Einfluss des Stalinismus große Teile der Wirtschaft verstaatlicht hatten, sich aber über einen längeren Zeitraum, zumindest einige Jahre oder sogar über einen Jahrzehnt hinweg, im Übergang zwischen Kapitalismus und Stalinismus befanden. In diesem Zusammenhang wurde auch bilanziert, dass das CWI in den 70er Jahren in einigen Fällen vorschnell die Schlussfolgerung gezogen hatte, solche Staaten als deformierte ArbeiterInnenstaaten zu bezeichnen, in denen der qualitative Wechsel zu einer entwickelten nicht-kapitalistischen Gesellschaftsform schon abgeschlossen gewesen sei.
Das IS führte an, dass die Herrschenden in China aufgrund der politischen Erschütterungen und des Einbruchs der Wirtschaft in großen Teilen der ehemaligen Sowjetunion als Folge einer überstürzten Einführung des Kapitalismus die Schlussfolgerung gezogen hätten, ähnliche Entwicklungen in China zu vermeiden. Darum ist die Spitze der KP (mit ihren 70 Millionen Mitgliedern) bemüht, den Prozess der kapitalistischen Restauration von oben zu kontrollieren. So gibt es zum Beispiel eine Personalunion von KP-Generalsekretär und Staatspräsidenten. Um die täglichen Regierungsgeschäfte kümmert sich der Staatsrat, der von der KP-Spitze ernannt wird (der Nationale Volkskongress muss dem zustimmen). Die Behörde Nationale Kommission für Entwicklung und Reform spricht bei Großprojekten, oft unter ausländischer Beteiligung, in der Regel das letzte Wort.
Keiner der Weltkongress-Delegierten hielt eine Rückkehr Chinas zu einem stalinistischen Staat für eine Option. Allerdings wurde es seitens des IS und anderer GenossInnen für möglich gehalten, dass die staatskapitalistischen Maßnahmen in einer Weltwirtschaftskrise in China weiter gehen könnten als in anderen kapitalistischen Industrieländern und China eine größere Re-Zentralisierung kennzeichnen könnte.
Die Frage von China soll innerhalb des CWI weiter vertieft werden. Vor allem aber gilt es – darin waren sich die Kongress-TeilnehmerInnen einig -, Perspektiven für den Klassenkampf in diesem zentralen Land zu diskutieren und alle Anstrengungen zu unternehmen, dass revolutionär-sozialistische Ideen in China und international verstärkt Unterstützung finden. Angesichts der dramatischen kommenden Entwicklungen auf ökonomischer, politischer und sozialer Ebene weltweit ist hierbei keine Zeit zu verlieren.
Aron Amm ist Mitglied der SAV-Bundesleitung und des Internationalen Vorstands des Komitees für eine ArbeiterInneninternationale.