Di 01.10.2002
Das vergangene Jahrzehnt hätte für Brasilien, die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas, den Weg aus der Korruption und dem wirtschaftlichen und sozialen Verfall ebnen sollen. Tatsächlich steckt das Land heute in einer ähnlich schweren Krise wie Argentinien. Viele Hoffnungen ruhen auf dem linken Präsidentschaftskandidaten Lula von der ArbeiterInnenpartei (PT).
Die PT ist im Industrieviertel von Sao Paulo (ABC genannt) im Zuge der Klassenkämpfe gegen die Militärdiktatur in der zweiten Hälfte der 1970er entstanden. Sie ist bis heute die bedeutendste linke Oppositionspartei auf dem Kontinent. Bei den Kommunalwahlen 1988 schaffte die PT den Einzug ins Rathaus von Sao Paolo und verursachte damit eine schwere Niederlage für die brasilianische Kapitalistenklasse. Lula, Gründer dieser Sammelpartei, die ein Zusammenschluss von ungefähr 10 Bewegungen ist, war 1989 bei den Stichwahlen zur Präsidentschaft Collor nur knapp unterlegen. Zwei weitere Male - 1994 und 1998 - musste sich Lula knapp geschlagen geben; in diesem Jahr könnte der Führer der PT tatsächlich gewählt werden. Lula ist allerdings während der letzten Jahre weit nach rechts gegangen. In der PT haben sich zunehmend die reformistischen Kräfte durchgesetzt. Eine Fundamentalopposition zur jetzigen Staatsführung unter Cardoso wurde in der Führung mehrheitlich abgelehnt. Stattdessen bot Lula die PT den Kapitalisten sogar als verlässlichen Juniorpartner an; diese lehnten allerdings einstweilen noch ab. Die PT ging trotzdem aus den Kommunalwahlen im Oktober 2000 als Hauptgewinnerin hervor. Das von ihr in der Provinz Rio Grande do Sul (Hauptstadt Porto Alegre) eingeführte "partizipative Budget", das 30% der Steuereinnahmen für Bildung vorsieht, ist den Herrschenden ein Dorn im Auge und führte aber auch zu internen Spannungen in der Partei.
Lula reiste vor einigen Monaten nach Washington D.C., um an den Währungsfonds zu appellieren, ein Brasilien unter einer PT-geführten Regierung nicht zu boykottieren und doch bitte sofort Kredite für das Land zu Verfügung zu stellen. Die Währungskrise ist groß, ebenso die Staatsverschuldung. Doch die Erfahrungen aus Argentinien und Uruguay sollten Lehre genug sein. Es ist klar, dass die Kredite von Weltbank und IWF bloß vergeben werden, um das Land in Geiselhaft zu nehmen und die Unterdrückung und Armut zu vergrößern. Einen Ausweg aus dem Teufelskreis der Krise oder gar aus dem Kapitalismus bieten diese Institutionen nicht. Im Gegenteil: Sie verschärfen die Abhängigkeit und spitzen dadurch die Widersprüche in der Gesellschaft weiter zu.
Klassenkämpferische Alternative
Von seiner Vergangenheit als Gewerkschafter und Sozialist hat sich Lula bereits vor einiger Zeit verabschiedet. Mit jedem verpassten Regierungseintritt wurde das Programm der PT weiter nach rechts "korrigiert". Eine Partei der ArbeiterInnen und der Jugend - für dieses Ziel kämpft die brasilianische Schwesterorganisation der SLP, Revolutionärer Sozialismus (SR). Die 1964 gegründete Landlosenbewegung MST (Movimento sem terra) - die größte soziale Bewegung Lateinamerikas - beispielsweise wurde von der PT maßgeblich mitaufgebaut. Der PT-nahe Gewerkschaftsdachverband CUT spielt in der MST eine zentrale Rolle. Dennoch hat sich die Solidarität der PT-Führung auf Worte beschränkt. Solidarität aufzubauen würde bedeuten, die Bewegung auf dem Land mit der Bewegung der ArbeiterInnen und der Jugend in der Stadt zu verbinden versuchen und dort die eigene Führung auszubauen.
So hat SR die Initiative zur Gründung der MSE (Movimento sem educacao) unter der Jugend ergriffen, die nun Teil von International Socialist Resistance ist. Außerdem stellt SR selbst KandidatInnen für die PT auf, die sich von den meisten anderen KandidatInnen durch ein klares sozialistisches und klassenkämpferisches Programm und Profil unterscheiden.
Sollte der Rechtsruck in der PT sich fortsetzen, ist sogar eine bedeutende linke Abspaltung nicht auszuschließen. Die Gefahr für die Kapitalisten geht nicht von der PT aus. Was sie fürchten, sind die ArbeiterInnen, die ihren Forderungen durch Massenmobilisierungen Nachdruck verleihen könnten. Schaffen die fortgeschrittensten Schichten es nicht, in diesem Kampf eine neue Führung aufzubauen, könnte die Bewegung auf halbem Wege stehen bleiben, wie es momentan in Argentinien der Fall ist.
Lula hat in Umfragen um die 40%. Auch der frühere Gesundheitsminister José Serra (Sozialdemokrat) und der frühere Finanzminister Ciro Gomes haben eine gewisse Unterstützung, was für einen klaren Linkstrend spricht. Nichtsdestotrotz hat Lula Angst vor der Androhung ausländischer Kapitalisten, wegen der Währungskrise und Lulas geplanter Wirtschaftsmaßnahmen Kapital abzuziehen, weshalb er auf eine Allianz mit der Bourgeoisie baut. So bestätigte Lula am 19. Juni, dass die PT-Führung den Multimilliardär José Alencar von der PL (Liberale Partei) zu seinem Vizepräsidenten bestimmen würde!
Die Präsidentschafts-, Parlaments- und Gouverneurswahlen am 6. Oktober sind eine große Herausforderung für die radikale Linke. Wirklich interessant wird es aber danach ...