Fr 01.07.2011
Anna sitzt vor dem Computer. Fieberhaft arbeitet sie am Entwurf für ein Flugblatt für ihre lokale Asamblea in Barcelona. Asambleas sind Nachbarschaftskomitees, die nun in ganz Spanien aus dem Boden schießen. Wir diskutieren eifrig über den Inhalt. Verstehen die Leute, wenn wir schreiben, die PolitikerInnen handeln nur im Interesse „des Kapitals“? Sollen wir nicht lieber „der Banken und Großkonzerne“ schreiben? Morgen muss das Flugblatt fertig sein, es gibt eine „Cassolada“, ein Topfschlagen, mit dem die Nachbarschaft ihren Protest gegen die kommunalen Kürzungen ausdrückt. An der Schule neben dem Wohnblock, in dem ich bei einem Genossen von Socialismo Revolucionario (CWI in Spanien) wohne, hängen selbst gemachte Transparente: „Bei der Bildung sparen heißt bei der Zukunft sparen“
Die „Bewegung des 15. Mai“ („15-M“) hat die spanische Politik schwer erschüttert. Eine lang aufgestaute Wut über Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und das Versagen der korrupten politischen Eliten hat sich entladen. In allen größeren Städten Spaniens sind zentrale Plätze besetzt und Camps aufgebaut, Zigtausende beteiligen sich an den Demonstrationen. Die „Indignados“ (Empörte), wie sich DemonstrantInnen nennen, stellen sofort Forderungen nach Verstaatlichung der Banken und Nichtzahlung der Schulden auf. Auf Barcelonas Straßen findet sich ein Grafitti: „Viva la fucking revolution“, überall ist eine „Diesmal aber wirklich!“-Stimmung zu spüren. Hier ist eine Generation aufgestanden, deren Großeltern den BürgerInnenkrieg gegen den Faschismus verloren haben, und deren Eltern beim Übergang zur „Demokratie“ belogen und betrogen wurden. „Das sind dieselben, die damals mit Franco paktiert haben. Das sind die Nachfolger von denen, die meine Großeltern ermordet haben“, sagt Anna. Ihre Großeltern gaben im spanischen Bürgerkrieg im Kampf gegen Franco ihr Leben. Ich erzähle ihr von meinen Urgroßeltern, die im österreichischen Bürgerkrieg auf Seite der ArbeiterInnen gekämpft haben und von den vielen, die nach der Niederlage nach Spanien gingen, um dort den Faschismus zu stoppen. „Tja, leider haben wir dann auch verloren“, sagt sie traurig. Vor zwei Monaten hat sie sich noch als unpolitisch bezeichnet, erklärt mir ihr Lebensgefährte grinsend.
Anna ist arbeitslos, wie so viele andere hier auch. Der Besitzer des kleinen Lebensmittelladens nebenan erkennt sofort, dass ich nicht von hier bin. Er fragt mich sofort: „Bist du wegen Jobs hier? Hier gibt es keine Jobs. Ich bin ausgebildeter IT-Techniker. Aber hier findet niemand einen Job. Deswegen mache ich das hier.“ 15-M hat vielen dieser Leute eine Perspektive gegeben. Menschen, die sonst in der Lethargie der Langzeitarbeitslosigkeit zu versinken drohen, sprühen plötzlich vor Kreativität. Anna und ich basteln uns Schilder für die nächste große Demo, wir benützen alten Karton und Filzstift. Die Bewegung wird wegen ihrer Masse an selbstgemachten Schildern auch „Kartonrevolution“ genannt.
Am 19. Juni sind in Barcelona ungefähr 300.000 Menschen auf der Straße, die Flugblätter und Zeitungen von Socialismo Revolucionario werden uns förmlich aus der Hand gerissen. Alle sind da, Familien mit kleinen Kindern, StudentInnen, Arbeitslose, ArbeiterInnen. 15-M ist längst in weiten Teilen der Gesellschaft angekommen. „Ihr habt recht, ein Generalstreik ist der einzig richtige nächste Schritt“, sagt ein älterer Arbeiter zu mir beim Kauf einer Zeitung.
Ich verlasse Barcelona und mache mich auf den Weg nach Sevilla. Ein letztes Mal besuche ich das Camp auf der Plaza Catalunya. Als Antwort auf die Medienhetze, die die Bewegung als gewalttätig darstellen will, hängen dort die Bilder der entlarvten Polizeiprovokateure („Achtung, gefährliche Gewaltverbrecher! Wenn ihr einen seht, meldet euch bei der Sicherheitskomission!“) und Transparente, die sagen: „Gewalt sind 5 Millionen Arbeitslose. Gewalt sind tägliche Delogierungen, wenn genug Wohnraum für alle da ist. Gewalt ist, Sozialleistungen zu streichen, um Profite zu sichern.“ In Sevilla angekommen, traue ich meinen Augen nicht: Neben den üblichen Parolen, die in ganz Spanien an die Häuserwände gesprayt sind, steht hier an der Außenwand einer Bankfiliale: „¡No nos mires, unete!“ (Hör auf, uns anzustarren, reih dich ein!“), einer der beliebtesten Demosprüche von 15-M. Aber nicht gesprayt, sondern hübsch gedruckt. Die Bank wirbt um neue Kunden und missbraucht dabei eine Botschaft der Bewegung. Ich frage mich, ob die Glaswand die nächste Demo heil überstehen wird. Die Indignados in Sevilla treffen die letzten Vorbereitungen für den „Marcha Popular Indignada“, einen Sternmarsch aus allen größeren Städten Spaniens auf Madrid, der dort in einer Großdemo endet. Socialismo Revolucionario Sevilla organisiert eine Veranstaltung mit mir an der Universität, um über die Lehren der UniBrennt-Bewegung zu diskutieren. Alle TeilnehmerInnen sind sich einig: Vor dem Hintergrund der globalen Entwicklungen, der Krise und des wachsenden Widerstandes ist diese Bewegung eine große Chance, dem Kapitalismus einen schweren Schlag zu versetzen. Und diesmal gewinnen wir, aber wirklich.