Di 01.02.2005
Nach den Präsidentschaftswahlen in der Ukraine gab es eine Massenbewegung gegen die Wahlfälschungen, die zur Aufhebung der Wahl von Viktor Janukowitsch führte. In einer Wahlwiederholung gewann der Gegenkandidat Viktor Juschtschenko. Über diese Bewegung und die beiden Kandidaten sprach Vorwärts mit Vitaly Atanasov, Journalist und Aktivist von Robitnichy Sprotiv - CWI, der ukrainischen Schwesterorganisation der SLP.
Vorwärts: In den österreichischen Medien wurde Juschtschenko als der Kandidat dargestellt, der die Ukraine demokratisieren würde, während Janukowitsch der Vertreter der korrupten Elite wäre. Wie siehst Du das?
Janukowitsch repräsentiert die Interessen der Oligarchen, die sich an der Privatisierung der Industrien vor allem im Osten des Landes und an den Wirtschaftsbeziehungen zu Russland stark bereichern konnten. Juschtschenko fand seine Mehrheit im Westen. Seine Kampagne wurde von Schichten des Kapitals finanziert, die noch nicht so stark profitieren konnten und die jetzt auch zum Zug kommen wollen. Seine Massenbasis konnte er auf Grundlage der unrealistischen Träume vieler Ukrainer über den Lebensstandard im Westen aufbauen, die sich seit der Perestroika nicht erfüllten.
Beide Kandidaten haben sich die ethnischen Trennlinien zu Nutze gemacht. Leider hat diese Propaganda ihre Wirkung nicht verfehlt. Verschiedene Kapitalfraktionen könnten künftig diese Spaltung verstärkt populistisch gegen die Interessen der ArbeiterInnen missbrauchen.
Vorwärts: Die Massendemonstrationen in Kiew - wie begannen sie und welchen Charakter hatten sie?
Die Demonstrationen waren grundsätzlich nur gegen die Wahlfälschungen, auch wenn sie letztendlich die Basis für Juschtschenko bildeten. Bereits die erste Demonstration wurde die bis dahin größte in Kiew. Hunderttausende kamen in der Folge nach Kiew, um ihrem Ärger über die nicht eingelösten Versprechen der Herrschenden Luft zu machen. Leider setzte die Mehrheit Hoffnungen in Juschtschenko, auch ArbeiterInnen, vor allem aus dem Westen des Landes, aus Kiew eher Selbständige, Angestellte und Intellektuelle. Trotzdem gab es viele, die einfach nur gegen die Korruption protestieren wollten. Es gab hier keinen unabhängigen ArbeiterInnen-Standpunkt. Die offiziellen Gewerkschaften, die oft mehr die Interessen der Arbeitgeber als der ArbeitnehmerInnen vertreten, was historisch bedingt ist, schlugen sich auf die Seite des im jeweiligen Landesteil stärkeren Kandidaten. Juschtschenko wird die Hoffnungen der ArbeiterInnen enttäuschen. Trotzdem hat diese Bewegung für die Ukraine einen enormen Fortschritt bedeutet. Sie hat hunderttausende UkrainerInnen die Erfahrung machen lassen, dass sie etwas verändern können.
Vorwärts: Worin besteht das Programm von Juschtschenko?
Juschtschenko wird genauso schnell weiterprivatisieren wie Janukowitsch. In wichtigen Fragen wie bei der geplanten Reform des Arbeitsrechts haben sie den selben Standpunkt. Das derzeitige Gesetz, noch aus der Sowjetunion stammend, gewährt den ArbeiterInnen ausgedehnte Rechte. Sie sollen jetzt radikal eingeschränkt werden. Ein Beispiel: Gewerkschaftsmitglieder können derzeit nur mit Zustimmung der Gewerkschaft gekündigt werden. Beide Präsidentschaftskandidaten unterstützen eine Änderung mit der nicht nur das gestrichen werden soll, sondern die auch dem Arbeitgeber erlaubt, seinen DienstnehmerInnen das Kündigen zu verbieten - das grenzt an Leibeigenschaft. Gegen diese Reform haben wir von RS-CWI eine Kampagne aufgebaut, bei der uns auch einige wenige unabhängige Gewerkschaften unterstützen.
Vorwärts: Wie hat RS-CWI sich zur Bewegung verhalten?
Wir haben die Massenbewegung gegen die Wahlfälschungen unterstützt und mit eigenem Material erklärt, dass weder Juschtschenko noch Janukowitsch für eine Politik im Sinne der ArbeiterInnen stehen. Wir rechnen in den nächsten Jahren mit wichtigen, selbständigeren Bewegungen der ArbeiterInnenklasse, die auf dieser Erfahrung aufbauend ihre Rechte verteidigen werden. Daraus könnte dann die Grundlage für eine neue ArbeiterInnenpartei in der Ukraine entstehen.