Di 23.07.2013
Die aus den Protesten gegen die Zerstörung des Gezi-Parks im Istanbuler Stadtzentrum entstandene Massenbewegung wurde durch die massive staatliche Repression vorerst zurückgeschlagen. Doch das ganze Land ist durch diese radikalste politische Bewegung seit 1980 grundlegend verändert worden. Hunderttausende waren auf den Straßen, Millionen unterstützen die Proteste. Eine neue Generation wurde im Schnelldurchgang politisiert und hat einen Crashkurs über den undemokratischen Charakter des kapitalistischen Systems und die Rolle der Polizei bekommen.
Martin Powell-Davies, Mitglied des Vorstandes der britischen Lehrergewerkschaft NUT und der Socialist Party (Schwesterorganisation der SLP), war am 16. Juni, dem Tag des Angriffes auf den Gezi-Park mit einer GewerkschafterInnen-Delegation vor Ort: „Es lief ein Konzert mit einem bekannten Musiker, Hunderte Menschen inklusive vieler Familien waren in Festivallaune. Plötzlich kam die Polizei von allen Seiten mit Wasserwerfern und Tränengas.“
Die Bewegung ist nicht zerschlagen. Allerdings musste sie der Gewalt weichen und befindet sich auf dem Rückzug. Nach Informationen der türkischen Ärztekammer wurden fünf Menschen getötet und 7.478 verletzt. Zehn Menschen haben ein Auge verloren. Mehrere Tausend wurden vorübergehend festgenommen, Hunderte befanden sich Anfang Juli noch in Haft.
Die Türkei ist damit aus einer lang gezogenen Phase relativ geringer sozialer Kämpfe erwacht. Nach Umfragen einer Istanbuler Universität haben 54 Prozent der Menschen im Gezi-Park und auf dem Taksim-Platz zum ersten Mal an einer Demonstration teilgenommen. Siebzig Prozent von ihnen fühlen sich keiner politischen Partei verbunden. Neunzig Prozent der DemonstrantInnen sind zwischen 19 und 30 Jahre jung. Zafer, ein sozialistischer Aktivist, meinte im Interview mit einem Korrespondenten des CWI vor der Räumung: „Ich sage nicht, dass das schon eine Revolution ist, aber es enthält die Saat der Revolution.“
Seit der ersten Welle polizeilicher Gewalt gegen die BesetzerInnen des Gezi-Parks hat die Bewegung grundlegende Fragen zum Charakter der Regierung und des türkischen Staates aufgeworfen. Die Bewegung wandte sich sowohl gegen die Einmischung der Regierung in das Privatleben, die verstärkte Durchsetz-ung religiöser Normen und die zunehmende Repression als auch gegen die Restrukturierung der Städte allein nach Profitinteressen.
In der Bewegung wurden Lösungsansätze für die kurdische Frage sichtbar. Menschen aus der Westtürkei, die über Jahre die staatliche Propaganda über „kurdische Terroristen“ gehört und größtenteils auch geglaubt hatten, standen Schulter an Schulter mit kurdischen AktivistInnen und machten Bekanntschaft mit der Gewalt der Staatsmaschinerie.
Im Gezi-Park flatterten viele Fahnen mit dem Gesicht von PKK-Chef Abdullah Öcalan neben den Fahnen mit dem Bild des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk.
Ende Juni schoss die Polizei in eine Demonstration im kurdischen Ort Lice (Provinz Diyarbakir), tötete einen Menschen und verletzte rund ein Dutzend. Daraufhin demonstrierten auf dem Istanbuler Taksim-Platz über 10.000 Menschen. Anders als in den Jahren zuvor nahmen nicht nur Angehörige kurdischer Gruppen an dieser Demonstration teil.
Istanbul United
Im Protest gegen die Zerstörung des Gezi-Parks und die Polizeigewalt kamen unterschiedliche Schichten und Strömungen zusammen. Umweltschützer standen Seite an Seite mit Angehörigen militanter linker Gruppen, GewerkschafterInnen neben AktivistInnen der schwul-lesbischen Community, die ansonsten verfeindeten Ultra-Fan-Gruppierungen der Istanbuler Fußballvereine Galatasaray, Beşiktaş und Fenerbahçe marschierten gemeinsam als „Istanbul United“.
Grüne und liberale Gruppen demonstrierten neben linken Organisationen, kurdischen Vereinen, Verbänden der religiösen Minderheit der Aleviten und kemalistisch-nationalistischen Organisationen wie der CHP und der TGB (Türkischen Jugendvereinigung).
An einer Wand auf der Istiklal Caddesi, der großen Vergnügungsmeile mit Lokalen und Cafés, die zum Taksim führt, stand die Parole „Tayyip (Vorname von Erdogan), du hast alle vereint.“
Viele Demo-TeilnehmerInnen nutzten die Symbole der Kemalisten – türkische Fahnen, Atatürk-Bilder usw. –, um ihre Opposition gegen die AKP zu zeigen. Aber keine der kemalistischen Parteien, auch nicht die größte Oppositionspartei CHP, wagte es, sich an die Spitze der Proteste zu stellen. Dies hätten die meisten DemonstrantInnen abgelehnt. Viele Leute mögen die Symbole der Vergangenheit benutzen, aber ihre Ziele gehen weit über die eigennützigen Ziele pro-kapitalistischer Parteien wie der CHP, die nur einen Teil der türkischen Elite vertreten, hinaus.
Im Gezi-Park und auf dem Taksim selbst dominierten Studierende und Akademiker, Angehörige der unteren Mittelschichten und Jugendliche. Aber auch in Armen- und Arbeitervierteln von Istanbul wie in Gaziosmanpaşa gab es heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei. Im ganzen Land kam es zu Massenprotesten, nicht nur in den Großstädten.
Diese soziale und politische Breite führte zum schnellen Aufschwung der Bewegung und zur wichtigsten politischen Auseinandersetzung seit dem Militärputsch 1980, welcher die türkische Linke und die Arbeiterbewegung hart traf und zu jahrelanger Friedhofsruhe führte.
Der durch die Auseinandersetzung um den Gezi-Park ausgelöste gesellschaftliche Konflikt ist als Lehrstück auch für andere Länder interessant. Die aufgestaute Unzufriedenheit explodierte nicht anhand einer Frage, die auf den ersten Blick ersichtlich die Mehrheit der Bevölkerung betrifft. Stattdessen wirkte ein „Minderheitenthema“, die geplante Zerstörung eines Parks, den nur die BewohnerInnen und BesucherInnen der Istanbuler Innenstadt nutzten und den viele Menschen in anderen Städten zuvor nicht einmal kannten, als Katalysator.
In vielen Ländern herrscht nur oberflächlich Ruhe, darunter wächst jedoch der Unmut über zunehmende Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Damit aus Wut Widerstand wird, bedarf es einer Gelegenheit. Manchmal erscheint es schwer, umfassende Pläne einer Regierung zu verhindern. Viel bescheidener wirkt es, einen bedrohten Park zu retten. Auch die Regierung müsste kompromissbereit sein, bei so einer simplen Sache, so dürften viele zu Beginn gedacht haben. Als Erdogan die Polizei mit voller Wucht zuschlagen ließ und nicht die geringste Kompromissbereitschaft zeigte, brach sich all der Frust über die Entwicklungen der letzten Jahre Bahn.
Im Gezi-Park entwickelte sich innerhalb weniger Tage ein selbst organisiertes Leben. Essen, Getränke, Schutzausrüstung gegen Polizeiangriffe, Bücher, alles wurde umsonst abgegeben. Straßenhändler wurden gebeten, ihre Waren außerhalb des Parks anzubieten. Jede und jeder sollte mitmachen können, unabhängig vom Geldbeutel. Das Leben im Park war gut organisiert, Putztrupps hielten das Gelände sauber, sanitäre Einrichtungen waren vorhanden, Ärzteteams versorgten Verletzte. Wahrscheinlich war der Gezi-Park zu dieser Zeit der sicherste Bereich Istanbuls, ohne jede Kriminalität.
Der linke Parlamentsabgeordnete Ertugrul Kürkçü berichtet in einem Interview, dass sich die unterschiedlichen Talente und Erfahrungen der beteiligten Gruppen ergänzten. Die linken GewerkschafterInnen hatten Erfahrungen, ein Zeltlager und die Versorgung zu organisieren. Die militanten Gruppen kannten sich mit den Polizeispitzeln und Zivilpolizisten aus, die Fußball-Ultras hatten Erfahrung, sich gegen die Angriffe der Polizei zu verteidigen.
Die Gezi-Bewegung führte innerhalb von Tagen zu einer Blüte von Kunst und Humor, die auf der Straße und über die sozialen Netzwerke verbreitet wurden. Auf die Ignoranz der türkischen Medien, die Tierdokumentationen zeigten anstatt über die Proteste zu berichten, reagierten kreative Köpfe, indem sie einen Pinguin – natürlich mit Gasmaske versehen – zum „Wappentier“ der Bewegung machten. Aus den „Istanbuler Jazz-Tagen“ wurden die „Istanbuler Gas-Tage“. Erdogan bezeichnete die Aufständischen als „Çapulcu“ (Plünderer). T-Shirts, Sticker oder Plakate mit der Aufschrift „Ich bin ein Çapulcu“ wurden daraufhin zum Verkaufsschlager.
Demokratische Strukturen aufbauen
Aus der großen Breite der Bewegung ergab sich ihre ungeheure Dynamik. Aber sie bereitete wohl auch den Boden für die Illusion, einen relativ einfachen Sieg erringen zu können. Der Slogan „Tayyip istifa!“ („Tayyip, tritt zurück“) gewann landesweit eine große Popularität. Das Bündnis Taksim Dayanişma (Taksim-Solidarität), eine Koalition von 127 Gruppen, welche faktisch zur Führung der Bewegung in Istanbul geworden war, verzichtete allerdings darauf, diese Forderung oder andere grundlegende demokratische und soziale Losungen aufzugreifen.
Am 5. Juni, nach Tagen der Auseinandersetzungen mit der Polizei, nach Protesten in 88 Städten des Landes, stellte der Sprecher des Bündnisses, Eyüp Muhcu, Präsident der türkischen Architektenkammer, die zentralen Forderungen des Bündnisses vor, darunter der Stopp der Bauarbeiten im Gezi-Park, die Bestrafung der für die Polizeiübergriffe Verantwortlichen, ein Verbot von Tränengas und die Freilassung der Festgenommenen.
Das waren richtige und wichtige Forderungen. Das Bündnis argumentierte, diese Forderungen seien der kleinste gemeinsame Nenner und würden zu größerer Einheit der Bewegung führen. Aber damit zeigte das Bündnis keine Perspektive auf, wie sich die Bewegung gegen die AKP landesweit nach vorne entwickeln könnte und nahm eine defensive Haltung ein. Warum sollte man sich jeden Tag von der Polizei verprügeln lassen, nur zur Verteidigung des Parks, wo es doch schon längst um die ganze Regierung ging?
Diese Begrenzung führte weder zur Verbreiterung der Bewegung noch zu dessen politischer Stärkung. Und sie führte nicht zu größerer Kompromissbereitschaft seitens der Regierung. Erdogan konnte sich keinen Kompromiss leisten. Jedes Nachgeben hätte die Risse innerhalb der AKP verstärkt und weitere Forderungen aus der Bevölkerung nach sich gezogen. Das Regime musste hart bleiben. Die politische Selbstbeschränkung der Bewegung und die bei Verhandlungen gegebene Zusage des Taksim-Bündnisses, den Gezi-Park zu räumen ermutigten die Regierung, die Polizei zur Zerschlagung des Camps von der Leine zu lassen.
Begünstigt wurde diese politische Schwäche an der Spitze der Bewegung durch schwache politische Strukturen im besetzten Gezi-Park selbst. Während im Gezi-Camp die Selbstorganisation bei praktischen Fragen hervorragend funktionierte und Probleme innerhalb kürzester Zeit gelöst wurden, waren die demokratischen Entscheidungsprozesse zu politischen Fragen nicht sehr weit entwickelt.
Paul Murphy, EU-Parlamentarier der Socialist Party Irlands, besuchte den Gezi-Park auf dem Höhepunkt der Proteste und berichtete, dass es anders als bei den Platzbesetzungen auf dem Syntagma in Athen und den Plätzen spanischer Großstädte keine Massenversammlungen gab, welche diskutierten und demokratische Entscheidungen trafen. Diese Entscheidungsfindung von unten hätte im Zusammenspiel mit demokratisch legitimierten Arbeitsgruppen und Komitees die politische Weiterentwicklung der Bewegungen und vor allem die Einbeziehung bis dato nicht organisierter AktivistInnen ermöglichen können.
Ob diese Schwäche der geringen Erfahrung der AktivistInnen geschuldet war, dem Mangel an Zeit oder ob organisierte Gruppen kein Interesse an dieser Art von Massendemokratie hatten, sollte in den Diskussionen in der Bewegung geklärt werden.
Bauboom und Islamisierung
Der Gezi-Park ist in der Türkei kein Einzelfall. Die Baubranche ist einer der Wachstumsmotoren der türkischen Wirtschaft. Die Regierung Erdogan lässt Atomkraftwerke bauen und pflastert das Land mit Einkaufszentren, Schnellstraßen und Bürokomplexen zu. Viele Bauunternehmen sind eng mit der Regierungspartei AKP verbunden.
Die türkischen Großstädte werden schnell und ohne Mitsprache der Bevölkerung den Kapitalinteressen unterworfen. Mieten steigen, ärmere Schichten werden aus den Innenstädten verdrängt, die Naherholung bleibt auf der Strecke.
Die Türkei hat zwar in den letzten Jahren einen lang gestreckten wirtschaftlichen Aufschwung erlebt (siehe unten), der durchaus zu Einkommenssteigerungen von Teilen der Arbeiterklasse geführt hat, aber gleichzeitig massive Nebenwirkungen hatte. Der Aufschwung basiert auf schlecht bezahlter und prekärer Arbeit. Die türkische Regierung wirbt auf ihrer Website um ausländische Investoren und preist die niedrigen Arbeitskosten an. Die Türkei biete „längste Arbeitszeiten und geringste Krankheitsrate in Europa mit 52,9 Arbeitsstunden pro Woche.“
Bei der Zahl der Arbeitsunfälle liegt die Türkei weltweit auf dem dritten Platz, jährlich sterben offiziell über 1.500 Menschen, die Dunkelziffer dürfte höher liegen. In Metropolen wie Istanbul und Ankara halten die Einkommen breiter Schichten nicht mit den steigenden Lebenshaltungskosten Schritt. Gleichzeitig kritisieren viele Menschen, sowohl aus armen Schichten als auch aus der Mittelschicht die Verschlechterung der Lebensqualität durch die kapitalistische Restrukturierung der Städte.
Die Unzufriedenheit mit der kapitalistischen Stadtentwicklung und der neoliberalen Politik der Regierung Erdogan bildete die Grundlage der Gezi-Bewegung. Entscheidend für die landesweite Dynamik des Widerstandes war allerdings die Polizeigewalt, welche die ganze Wut über den Mangel an demokratischen Rechten und die als schleichende Islamisierung erlebte Politik von Erdogan an die Oberfläche brachte.
Seit dem letzten Wahlsieg im Jahr 2011, bei dem die AKP rund fünfzig Prozent der abgegebenen Stimmen erzielte, wurde der islamische Diskurs verstärkt. Erdogan ging verstärkt dazu über, den Menschen „Ratschläge“ zu erteilen, wie sie zu leben haben. Eine türkische Frau solle drei Kinder haben, jeder Alkoholkonsum wäre Alkoholismus, Abtreibung wäre eine Sünde. Es blieb nicht nur bei Sprüchen, auch gesetzliche Maßnahmen zur Einschränkung individueller Freiheiten wurden umgesetzt. Verkauf und Konsum von Alkohol ist zwar nach wie vor legal, aber es wird immer schwieriger und teurer, eine Schanklizenz zu bekommen, das öffentliche Küssen in U-Bahnen wurde verboten, Rauchverbot im eigenen Auto verhängt.
Zu Beginn ihrer Regentschaft gebärdete sich die AKP als Gegnerin der umfassenden staatlichen Repression in der Türkei. Heute sitzen mehr Oppositionelle in den Gefängnissen als zu Zeiten der militärnahen Regierungen. Kein Land inhaftiert so viele JournalistInnen wie die Türkei, fast zehntausen Menschen sitzen wegen „Terrorismus“ in Haft, die Türkei beherbergt damit rund 50 Prozent der weltweit inhaftierten „TerroristInnen“.
Auch der Arbeiterbewegung begegnete Erdogan mit eiserner Faust. Die Mai-Demonstration auf dem Taksim-Platz, dem traditionallen Platz der türkischen Arbeiterklasse, wurde 2013 erneut für illegal erklärt und mit Schlagstöcken und Tränengas-Bombardements auseinander getrieben.
Die Basis der AKP
2001 erlebte die Türkei eine tiefe Wirtschaftskrise. Die alten Parteien wurden daraufhin abgestraft. Eine starke linke Partei gab es nicht, die AKP kam an die Regierung. In den 2000er Jahren erlebte das Land ein rasantes Wachtum. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf verdreifachte sich in den letzten zehn Jahren. Vor allem in der inneranatolischen Provinz, in Städten wie Kayseri und Konya, den Hochburgen konservativer, islamischer Strömungen, entstanden neue Fabriken und neue Jobs.
Die AKP hatte eine neoliberale Umbaupolitik gestartet, die Privatisierung voran getrieben und somit ausländisches Kapital, insbesondere aus Saudi-Arabien und Katar, angelockt. Dies führte zur kreditgestützten Verlängerung des Aufschwungs. Die Bauindustrie spielte dabei ab der zweiten Hälfte der 2000er eine besondere Rolle.
Seit 2011 hat sich das Wachstum der türkischen Wirtschaft verlangsamt, nicht zuletzt wegen der Krise in Europa, dem größten Absatzmarkt. 2011 gab es noch 8,8 Prozent Wachstum, 2012 lediglich 2,2 Prozent, nicht genug, um eine wachsende Bevölkerung in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Doch verglichen mit dem Zustand der europäischen Nachbarländer Griechenland und Zypern sowie dem Nahen Osten überwiegt noch immer das Gefühl, dass es wirtschaftlich voran geht. Für 2013 geht der Internationale Währungsfonds (IWF) von einem Wachstum von 3,4 Prozent aus.
Die Wahlerfolge der AKP und ihre breite Anhängerschaft basieren nicht allein auf den wirtschaftlichen Erfolgen. Um 2000 herum hatte die Mehrheit der Menschen in der Türkei genug von der Einmischung der Militärs und der Klientel-Politik der alten, sich liberal, konservativ oder sozialdemokratisch gebenden Parteien, die mehr mafiösen Cliquen glichen als regulären bürgerlichen Parteien.
Die AKP war und ist eine Koalition aus liberalen und konservativen islamischen Kräften. In gewisser Weise war sie die erste moderne bürgerliche Partei der Türkei. Sie bedient nicht nur spezielle Cliquen, sondern hat es geschafft, die Unterstützung unterschiedlicher Teile der türkischen Kapitalisten zu bekommen. Am Beginn ihrer Regierungszeit hat sie effektiver regiert, mit einem geringeren Grad an Korruption, weniger gewalttätig und von oben herab als die alten Parteien.
Die AKP hatte versprochen, den kurdischen Konflikt nicht weiter zu eskalieren sondern zu befrieden und hat Hoffnungen auf einen Frieden geweckt. Sie appellierte an ein islamisch geprägtes Gemeinschaftsgefühl von TürkInnen und KurdInnen und beendete damit die teils rassistische Hetze der zuvor regierenden kemalistischen Parteien. Die Existenz des kurdischen Volkes wurde anerkannt, die kurdische Sprache im öffentlichen Raum erstmals akzeptiert. In der Praxis hat sie allerdings mehrfach die Taktik geändert, von Verhandlungsangeboten und Zugeständnissen Richtung der KurdInnen hin zu erneuter militärischer und polizeilicher Repression. Ab 2007 gab es daher ein erneutes Aufflammen der militärischen Kämpfe im Südosten der Türkei.
Zu Beginn ihrer Regentschaft hat sie nicht ihre repressiven Ideen gegen den „westlichen“ Lebensstil betont, sondern die Aufhebung der Benachteiligung von gläubigen Muslimen in den Vordergrund gestellt. Sie hat sich als liberale islamische Kraft präsentiert.
Die Säkularisierung unter Atatürk wurde von oben, durch das Militär und die städtische Intelligenz, betrieben und setzte weniger auf Aufklärung als viel mehr auf nackte Repression. Zum Beispiel war es Frauen mit Kopftuch verboten, Universitäten zu betreten. Das wurde von vielen Gläubigen als Ausgrenzung muslimischer Frauen von höherer Bildung begriffen. Die AKP griff solche Fragen auf und stellte sich als Förderer demokratischer Rechte dar.
Dies konnte ihr gelingen, weil auch die tür-kische Linke vom Kemalismus beeinflusst war und zum Beispiel dieses Kopftuchverbot verteidigte. Weite Teile der Linken hatten nicht verstanden, dass solche Maßnahmen kein revolutionärer Akt zur Befreiung der Frau, sondern undemokratische Repressionen sind, die im Zweifelsfall Muslima ausgrenzen und sogar in die Arme der Religiösen treiben können.
Der politische Widerstand gegen die AKP-Regierung war von den alten kemalistischen Cliquen und dem Militär bestimmt. Diese waren in der Lage, die Ängste der städtischen Mittelschichten anzusprechen, aber waren bei weiten Teilen der Armen und der Arbeiter-Innen so verhasst, dass sie keine wirklichen Massen mobilisieren konnten. Zuletzt verloren diese Kräfte 2010 das Verfassungsreferendum. Danach erlebten auch ehemalige führende Köpfe von Staat und Militär repressive Maßnahmen. Mit der Begründung, sie hätten sich zum Sturz der AKP-Regierung verschworen, wurden Offiziere, Journalisten und Politiker ins Gefängnis geworden. Dies traf in der breiten Bevölkerung kaum auf Gegenwehr.
Sackgasse Kulturkampf
Die Bewegung von 2013 hat wenig mit dem verrotteten Kemalismus von Parteien und Militär zu tun. Aber auch sie kann Gefahr laufen, den Kampf gegen die Erdogan-Regierung als Kulturkampf „westlich-laizistische Bevölkerung vs. gläubige Muslime“ zu führen. Wenn sie dies macht, wird der Kampf nicht erfolgreich sein. Die Zwangspause nach dem Rückzug der Proteste sollte genutzt werden, diese zentrale politische Frage zu klären.
Es mag einfacher erscheinen, sich auf die ohnehin Überzeugten und Mobilisierten zu stützen, auf Istanbuls Jugend, auf die Studierenden in Ankara, die Bevölkerung der Küstenstädte an der Ägäis, auf die politisch organisierten Minderheiten und Interessengruppen, auf die religiöse Minderheit der Aleviten. Die Gefahr einer solchen Ausrichtung war schon im Juni zu sehen, nicht als bewusste Strategie der Protestierenden, sondern sie ergab sich automatisch aus der Selbstbeschränkung der Bewegung auf wenige Forderungen im direkten Zusammenhang mit dem Gezi-Park und aus dem Zögern, weitergehende soziale Fragen anzusprechen.
Erdogan setzt auf die religiös-kulturelle Spaltung und mobilisiert für den Kulturkampf. Auf den Massenkundgebungen von AKP-AnhängerInnen in den Tagen vor dem Polizeisturm auf den Gezi-Park sprach er seinen Gegnern demokratische Rechte ab, zeichnete ein Bild aus alten Eliten, ausländischen Verschwörern und radikalen Minderheiten, die sich gegen die islamische Mehrheit stellen.
Die Bewegung ginge in die Falle, würde sie sich auf diesen Kulturkampf einlassen. Sie muss die Basis der AKP erreichen, diese spalten, dass kann sie nur, wenn sie sich auf allgemeine demokratische Rechte und die soziale Frage konzentriert.
Nick Brauns schreibt in der Jungen Welt: „Solange es der Opposition nicht gelingt, entlang der Klassenlinien eine Bresche in diesen Block der ‚schwarzen Türken‘ zu schlagen, kann sie nicht zur hegemonialen Kraft werden.“ Als „schwarze Türken“ wird die Bevölkerung im ländlichen Anatolien bezeichnet, im Gegensatz zu den „weißen Türken“, den laizistisch eingestellten Mittelschichten und Teilen der Arbeiterklasse der westtürkischen Großstädte.
Ein anti-religiöser, anti-islamischer Kulturkampf würde auch den Kräften des alten Establishments wie der CHP oder kemalistischer Cliquen im Militär die Möglichkeit geben, eine stärkere Rolle in der Opposition einzunehmen. Sie würden versuchen, die antikapitalistischen Strömungen in den Hintergrund zu drängen. Zudem würde das den Weg sowohl zur Basis der AKP verbauen als auch die gerade erst beginnende Solidarität mit den Kurden beschädigen, weil diese fürchten müssten, dass ihre ärgsten alten Feinde nicht bereit sein werden, demokratische Rechte und Autonomie für Kurdistan zu gewähren.
Rolle der Gewerkschaften
Die AKP wurde zum großen Teil von Menschen mit geringem Einkommen gewählt. Der linke Abgeordnete Ertugrul Kürkçü meint, „sie (die Basis der AKP, d.A.) stimmt der Sozialpolitik und dem Regierungsstil Erdogans nicht zu. Normalerweise halten die TürkInnen still, aber mit Grausamkeit sind sie nicht einverstanden. Und Erdogan erscheint jetzt als grausamer Herrscher.“
Es ist nicht anhand eindeutiger sozialer Fragen, z.B. der Höhe von Löhnen oder Preisen, zur Revolte gekommen, sondern anhand demokratischer Fragen. Dazu erklärt Kürkçü, das sei „ganz normal … Ein Aufstand wird durch eine Frage ausgelöst, die alle Bürger-Innen betrifft. Und das sind eben nicht die Löhne, sondern die Freiheiten.“
Allerdings sind die demokratischen Fragen eng mit der sozialen Frage verbunden. Die TeilnehmerInnen der Revolte sehen vielleicht keine Möglichkeit, auf betrieblicher Ebene für besseres Arbeiten und Leben zu kämpfen. Aber natürlich ist die Frage der Löhne, der hohen Lebenshaltungskosten und der zunehmenden Prekarisierung für die gesamte Arbeiterklasse, sowohl für die arbeitenden Armen, für die Industriebelegschaften, die öffentlichen Bediensteten und die lohnabhängigen AkademikerInnen von großer Bedeutung.
Und die Verbindung allgemeiner demokratischer Forderungen mit den sozialen Belangen ist auch der Schlüssel, um an die „schwarzen TürkInnen“, die Basis der AKP, heranzukommen, die Bewegung zu verbreitern, die Erdogan-Regierung zu Fall zu bringen und die herrschende Kapitalistenklasse in die Defensive zu drängen.
Eine entscheidende Rolle fällt dabei den Gewerkschaften zu. Diese sind die einzigen Organisationen, die auf der Basis gemeinsamer sozialer Interessen Lohnabhängige unterschiedlicher Glaubensrichtungen, Nationalität, Geschlecht organisieren und die besten Voraussetzungen zur Überwindung der Spaltung entlang dieser Linien mitbringen. Vor allem können sie auf der Basis der gemeinsamen sozialen Interessen auch die konservativeren Teile der Arbeiterklasse ansprechen und gegen die pro-kapitalistische Politik der Regierung mobilisieren. Nach der Erstürmung des Gezi-Parks riefen die linken Gewerkschaftsverbände KESK (Konföderation der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes) und die in der Industrie vertretene DISK (Konföderation der revolutionären Arbeitergewerkschaften) sowie Berufsverbände von Ärzten und Architekten zum eintägigen Generalstreik auf.
Dies führte allerdings nicht zu einem Stillstand in Betrieben und Verwaltung. Es kam in Istanbul und Ankara zu Gewerkschafts-Demonstrationen mit einigen Tausend TeilnehmerInnen. Ein Grund war, dass die Bewegung sich zu diesem Zeitpunkt schon auf dem Rückzug befand. Aber auch mit voller Kraft sind KESK und DISK allein nicht in der Lage, viele Betriebe lahmzulegen. KESK organisiert ca. 250.000, DISK rund 350.000 Beschäftigte. Sie repräsentieren eine linke, kämpferische Minderheit in der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung. Der größte Verband mit 2,1 Mio. Mitgliedern, Türk-Iş, ist streng bürokratisch kontrolliert und hat seine Mitglieder – wie in nahezu allen Zeiten unter allen Regierungen – zur Ruhe aufgerufen.
Streikaufrufe von KESK oder DISK sind politisch wichtig, um die Bestrebungen und die Rolle der organisierten ArbeiterInnen zu verdeutlichen, aber sie haben keine Wirkung wie es z.B. ein Streikaufruf von ver.di hierzulande hätte, außer es gelingt, Unorganisierte und Mitglieder von Türk-Iş zum Streik zu mobilisieren.
Die Mitglieder von KESK und DISK brauchen eine Strategie, wie ihre Organisationen als Hefe im Teig der Arbeiterbewegung wirken können, wie sie mit betriebs- oder branchenweiten Aktionen in ihren Hochburgen die Mitglieder der Türk-Iş-Gewerkschaften und die Unorganisierten ermutigen können, sich den Aktionen anzuschließen.
Die kurdische Bewegung
Von zentraler Bedeutung für die Weiterentwicklung einer Bewegung, welche die lohnabhängigen und armen Menschen in der Türkei auf Klassengrundlage vereinen kann, ist die kurdische Frage. Ansätze zur Einheit von TürkInnen und KurdInnen waren auf dem Taksim sichtbar, Vorurteile konnten abgebaut, Dialoge eröffnet werden. Aber die Probleme sind noch längst nicht gelöst.
Die kurdische Partei BDP hatte auf die Proteste um den Gezi-Park schnell reagiert. Der BDP-Abgeordnete Sirri Sürreyya Önder gehörte zu den Ersten, die sich dem Polizeieinsatz in den Weg stellten. BDP-Parlamentarier Sebahat Tuncel erklärte, es handele sich um einen „Volksaufstand gegen ein antidemokratisches Staatssystem“, den die kurdische Bewegung unterstützen müsse. Diese erlag somit nicht der Versuchung, sich staatsmännisch-diplomatisch zu verhalten, sondern handelte als soziale Bewegung, auf der Grundlage der Interessen ihrer Mitglieder auch in den westtürkischen Städten.
In den Monaten zuvor hatte die PKK begonnen, ihre Einheiten in den Irak zurückzuziehen, die Regierung hatte Entgegenkommen und eine Zurückhaltung des Militärs signalisiert. Teile der kurdischen Bevölkerung wähnen sich – trotz aller Skepsis angesichts der militärischen Gewalt unter Erdogan – näher als je zuvor an Regelungen zur friedlichen Beilegung des Konfliktes und an Zugeständnissen bezüglich der Autonomie.
Dies hängt auch damit zusammen, dass im Nordirak und inzwischen auch im Norden Syriens die kurdischen Gebiete faktisch selbst verwaltet werden. Beim Versuch, zur bestimmenden Regionalmacht zu werden, wird es für die Herrschenden in der Türkei mehr und mehr zu einer Option, ein strategisches Bündnis mit den kurdischen De-Facto-Staaten und den kurdischen Organisationen einzugehen. Dies hängt auch von Entwicklungen im Irak und Syrien ab, es würde an dieser Stelle allerdings zu weit führen, dies im Detail zu betrachten.
Die Führung der kurdischen Bewegung hat in den letzten Jahren eine Öffnung der kurdischen Organisationen hin zur türkischen Linken befürwortet und die soziale Agitation verstärkt. Aber Teile der Führung halten diplomatische Deals mit dem türkischen Staat weiterhin für eine Option.
Würden sich in der türkischen Linken und der breiten Bewegung, die sich aus den Gezi-Protesten entwickelte, erneut kemalistische, türkisch-nationalistische Tendenzen, ausbreiten, würden in der kurdischen Bewegung Tendenzen gestärkt, die auf einen Friedensschluss mit Erdogan setzen und sich im Gegenzug aus der „türkischen Politik“ heraushalten würden. Dies würde weder den kurdischen noch den türkischen Massen nutzen.
Es ist daher nötig, dass die zarten Ansätze zur türkisch-kurdischen Verständigung ausgebaut werden. MarxistInnen treten in der Bewegung dafür ein, klare Forderungen zu den demokratischen Rechten für die kurdische Bevölkerung zu formulieren und offensiv die Frage der Selbstbestimmung bis hin zum Recht auf einen eigenen Staat und die Frage eines demokratischen, freiwilligen und sozialistischen Staatenbundes in der Region und darüber hinaus aufzuwerfen.
Eine neue Linke
Bei den nächsten Parlamentswahlen mag die kemalistische CHP als größte Oppositionspartei an Stimmen zulegen. Aber die von der Macht vertriebenen Fraktionen des Establishments rund um die CHP werden die Bewegung nicht vorwärts bringen.
Einige deutsche Medien wollten angesichts der Massenproteste in Istanbul die Notwendigkeit einer „liberalen, modernen“ Bewegung oder Partei herbei schreiben. Aber solch eine Partei ist nicht in Sicht und sie würde sehr schnell mit den Hoffnungen und Forderungen der arbeitenden Menschen zusammenstoßen und sich sozialpolitisch im Lager der AKP wiederfinden.
Nur eine neu formierte Linke ist in der Lage, die aus dem Gezi-Park entstandene Bewegung nach dem vorläufigen Rückschlag zu entwickeln und erneut in die Offensive zu bringen. Die türkische Linke hat viele unselige Traditionen extremen Sektierertums, welche gemeinsame Kämpfe erschwert haben. Eine neue Linke in der Türkei muss breit aufgestellt sein, muss in der Lage sein, verschiedene Strömungen zu integrieren und eine demokratische Debatte zu organisieren. Sie muss in der Lage sein, neue Bewegungen wie die UmweltschützerInnen, Gentrifizierungs-GegnerInnen oder Fußball-Ultras anzuziehen. Sie braucht ein klares Programm zur kurdischen Frage.
Breite und Offenheit heißt aber nicht politische Beliebigkeit. MarxistInnen würden in einer breiten Linken ein sozialistisches Programm nicht zur Vorbedingung für gemeinsames Agieren machen, aber sie würden dafür argumentieren und kämpfen.
Durch die Geschichte der türkischen Linken ziehen sich schwere Missverständnisse über den Charakter des türkischen Kapitalismus und des Staates und die sich daraus ergebenden Aufgaben für die Arbeiterbewegung. Die Etappentheorie, nach der vor der Überwindung des Kapitalismus eine Übergangsphase im Bündnis mit Teilen der herrschenden Klasse bzw. des Staatsapparates nötig sei, um eine „unabhängige Türkei“ zu schaffen und die angebliche Abhängigkeit vom Imperialismus zu beenden, ist immer noch in vielen Gruppen verankert.
Tatsächlich gehört die Türkei zu den „zu spät“ im Kapitalismus angekommenen Staaten, vorkapitalistische Elemente, z.B. die breite Landarmut, existieren weiter, ebenso eine starke ökonomische Abhängigkeit vom ausländischen Kapital. Doch gleichzeitig existiert eine inländische Bourgeoisie, welche sich zum regionalen Imperialisten entwickelt hat.
Es gibt in der Realität keine Fraktion innerhalb der herrschenden Klasse, mit der die Arbeiterbewegung ein Bündnis eingehen könnte. Jeder Versuch, ein solches Bündnis zu schmieden, um die AKP zu stürzen, würde die Arbeiterbewegung unweigerlich an das kemalistische Establishment bzw. dessen verbliebenen Schatten ketten. Statt Stärkung würde das zur Schwächung der Arbeiterbewegung führen, weil die Klasseneinheit über religiöse und nationale Grenzen hinweg nicht zustande kommen würde.
Wenn die Arbeiterbewegung die AKP und die hinter ihr stehenden Kapitalisten ernsthaft herausfordern will, braucht sie ein sozialistisches Programm und das Verständnis, dass die Fragen von Arbeiterkontrolle und demokratischer Planung der Wirtschaft heute auf die Tagesordnung gehören, auch wenn der Kampf noch lange dauern wird.
Der im Umfeld der kurdischen BDP entstandene HDK (Demokratischer Kongress der Völker) bietet einen ersten Ansatz für eine solche Partei. Er sollte gemeinsam mit den Halk Evleri (Volkshäusern), linken Gewerkschaften und Organisationen die Initiative zur Bildung einer breiten Partei ergreifen.
Heuchelei der europäischen Regierungen
Auch in deutschen Städten gingen mehrere Tausend Menschen zur Unterstützung der Bewegung in der Türkei auf die Straße. Anders als dort dominierten allerdings auf vielen Demos die organisierten linken türkischen und kurdischen Kräfte. Neue Gruppierungen wie die linken Beşiktaş-Fans der Gruppierung Çarşg waren vereinzelt zu sehen, aber die Proteste waren meistens nicht von der neuen Generation der türkischen und kurdischen MigrantInnen geprägt. In mehreren Städten gab es außerdem getrennte Kundgebungen verschiedener linker Gruppen, die nicht gut miteinander zusammenarbeiten können.
Die größte Mobilisierung war die zwischen 50.000 und 80.000 starke europaweite Kundgebung am 22. Juni in Köln, die vom Dachverband der alevitischen Vereine (AABF) organisiert worden war. Die Aleviten-Vereine sind allgemein respektiert und bilden eine Schnittstelle, an der sowohl die radikale Linke, die kurdischen Organisationen als auch die eher sozialdemokratisch-kemalistischen und bürgerlich-liberalen Gruppierungen andocken können. Unter den RednerInnen waren deutsche Parteien und der DGB vertreten, aber nur wenig deutsche GewerkschafterInnen und Linke nahmen an der Kundgebung teil.
Insofern steht die Türkei-Solidarität in Deutschland erst am Anfang. Nötig wäre, dass die türkischen und kurdischen Organisationen ihre Zusammenarbeit, wie sie seit Jahresbeginn, schon vor den Ereignissen in Istanbul, begonnen wurde, intensivieren und eine Strategie entwickeln, stärker in die deutsche Arbeiterbewegung und die Linke hineinzuwirken.
Ein wichtiger politischer Beitrag der deutschen Linken wäre es, eine Opposition gegen Waffenlieferungen und Polizeihilfe an die Türkei aufzubauen und die heuchlerische Haltung der Herrschenden in Deutschland zu thematisieren, welche jahrelang die Repression in der Türkei gestützt haben. Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth mag nach dem Tränengas-Beschuss ihres Hotels in Istanbul echte Tränen in den Augen gehabt haben. Politisch gesehen vergießt sie jedoch Krokodilstränen. Auch die SPD-Grünen-Regierung hat Waffen in die Türkei geliefert und das PKK-Verbot in Deutschland aufrecht erhalten. Heute wollen die deutschen Parteien die Stimmen kritischer KurdInnen und TürkInnen bekommen, zudem beginnen sie sich, außenpolitisch ohnehin von der Regierung Erdogan abzusetzen.
Nicht Merkel, Steinbrück oder die EU sind die potenziellen Verbündeten der Bewegung in der Türkei, sondern die arbeitenden Menschen und die Jugend hierzulande und in Europa.
Wohin geht die Türkei?
Erdogan ist nicht Mubarak. Sein Stern hat den Sinkflug begonnen, aber der könnte noch eine Weile dauern, ob Monate oder Jahre lässt sich nicht seriös sagen. Noch kann er sich auf den wirtschaftlichen Aufschwung der letzten Jahre und die Hoffnung auf einen Anstieg des Lebensstandards stützen. Noch sind die Erinnerungen an die Willkür des Militärs und der mit ihm verbündeten Parteien-Cliquen präsent.
Ob die AKP sich an der Regierung halten kann, ob die Fraktion Erdogan in der Partei dominant bleibt oder die sich kompromissbereit gebenden, aber wirtschaftspolitisch knallhart neoliberalen Kräfte um Staatspräsident Gül die Führung ergreifen, hängt zu großen Teilen von der wirtschaftlichen Entwicklung und dem Zeitpunkt des Abschwungs ab.
Die türkische Wirtschaft ist stark von ausländischen Krediten abhängig. Die Staatsverschuldung ist relativ niedrig, die Verschuldung der Unternehmen und Konsumenten hoch. Die New York Times (NYT) wies darauf hin, dass der türkische Boom auf „einem Berg von Schulden“ errichtet worden sei und ein „schmerzhaftes Ende“ nehmen werde. Das Leistungsbilanzdefizit des Landes beträgt sieben Prozent und ist damit eines der weltweit höchsten. Die NYT fühlte sich an „Spanien und Griechenland vor 2008“ erinnert.
Die Gezi-Bewegung ist nicht zerschlagen, aber befindet sich angesichts der staatlichen Gewaltorgie auf dem Rückzug. Am Wahrscheinlichsten ist es, dass es eine Pause der Massenmobilisierung geben wird. Wie es weiter geht, hängt auch davon ab, wie die Bewegung diese Pause strategisch nutzt.
Wenn es, wie oben beschrieben, gelingt, die Opposition zu festigen, programmatisch weiter zu entwickeln in Richtung einer inhaltlichen und organisatorischen Alternative, wäre ein großer Beitrag geleistet, die Regierung Erdogan eher früher als später zu stürzen und die Bedingungen für die kommenden sozialen Kämpfe zu verbessern.
Der Konflikt um den Gezi-Park hat die größte politische Bewegung seit dem Putsch 1980 ausgelöst. Zum ersten Mal wurden außerhalb der kurdischen Gebiete grundlegende Fragen bezüglich der Entwicklung der Gesellschaft aufgeworfen. Große Bewegungen hatte es zuvor gegeben, z.B. Proteste gegen die Heraufsetzung des Rentenalters und Privatisierungen Anfang und Ende der 2.000er Jahre oder der Kampf der Tekel-Arbeiter vor einigen Jahren. Doch all diese Bewegungen waren politisch begrenzt auf einzelne Punkte und entwickelten nicht die Vorstellungen eines anderen Lebens wie die Proteste rund um den Taksim-Platz.
Die Bewegung muss sich neu formieren, aber die Türkei wird nicht mehr so sein wie zuvor. Eine neue Ära der politischen und sozialen Kämpfe in diesem wichtigen Land hat begonnen.
Claus Ludwig lebt in Köln. Er ist Mitglied des Bundesvorstands der SAV, der deutschen Schwesterorganisation der SLP und sozialistischer Stadtrat für DIE LINKE.
Kein Schlosspark, kein Tahrir
Der zu Beginn in deutschen Medien gezogene Vergleich zwischen dem Kampf um den Gezi-Park und den Stuttgarter Schlosspark verlor schnell an Bedeutung, als sich die Bewegung auf das ganze Land ausbreitete und damit ganz andere Dimensionen als die Auseinandersetzung um Stuttgart 21 erreichte.
Weit häufiger wurde der Taksim-Platz mit dem Kairoer Tahrir-Platz verglichen, dem zentralen Ort der Bewegung, die das Mubarak-Regime stürzte. Aber auch dieser Vergleich trifft nicht den Kern. Das Regime von Mubarak hatte jede soziale Basis, jede Legitimität verloren. Jahrelanger wirtschaftlicher Niedergang und der Würgegriff seiner Diktatur führten zu einer Revolution. Gerade das Eintreten der Arbeiterklasse durch Streiks und die breite Organisierung unabhängiger Gewerkschaften war ein entscheidender Faktor für den Sturz Mubaraks. In Ägypten fand 2011 lediglich der erste Akt der Revolution statt, der revolutionäre Prozess, das wird gerade in diesen Sommer-Tagen sichtbar, ist noch längst nicht abgeschlossen.
Von einer Revolution, auch von ihrem ersten Akt, war die Türkei im Juni noch ein ganzes Stück entfernt. Erdogan ist kein in der Luft hängender greiser Despot, sondern hat bei den letzten Wahlen fast fünfzig Prozent geholt und dürfte trotz beginnender Enttäuschung von Teilen seiner WählerInnen über große Unterstützung verfügen, nicht in der Istanbuler Innenstadt, in Ankara oder Izmir, aber in vielen inneranatolischen Städten und auf dem Land.
Die Türkei ist aus einem lang anhaltenden politischen Ruhezustand erwacht, eine neue Generation hat die Bühne betreten und eine Rebellion gestartet. Das ist enorm wichtig und sollte die Arbeiterbewegung und die Linke weltweit ermutigen. Aber das ist eher ein Prolog und markiert noch keine revolutionäre Situation.
In einigen Kommentaren, z.B. im Blog des Attac-Aktivisten Pedram Shahyar, der den Gezi-Park besuchte, wurde die Bewegung als Teil der „neuen globalen Revolte“ beschrieben und in eine Reihe mit den Geschehnissen auf dem Tahrir-Platz in Kairo, dem Athener Syntagma-Platz und der Asamblea auf der Plaza del Sol in Madrid gestellt. Gewiss würden auch die Massendemonstrationen in Brasilien in diese Reihe gehören.
Die Formulierung „globale Revolte“ klingt gut, lädt aber zu undifferenzierter und vereinfachter Interpretation ein. Im ganz Allgemeinen haben all diese Kämpfe tatsächlich eine gemeinsame Basis. Sie richten sich gegen Probleme, die sich aus dem kapitalistischen System und dessen ungleicher und kombinierter Entwicklung ergeben. Alle aufgeführten Länder sind Teil des kapitalistischen Weltmarkts. Sowohl ökonomische Krisen als auch kulturelle, nationale und religiöse Unterdrückung sind untrennbar mit der Herrschaft des Kapitals und der Aufteilung der Welt durch imperialistische Mächte und Blöcke verbunden.
Auch auf der Erscheinungsebene gibt es große Ähnlichkeiten: Die Besetzung öffentlicher Plätze als Mittel zur Mobilisierung und Darstellung von Gegenmacht, die geschickte Nutzung moderner Kommunikationsmittel, Formen direkter Demokratie fernab der Steuerung durch Parteien, die plötzliche Politisierung ganz neuer Schichten der Bevölkerung.
Die verschiedenen Bewegungen haben voneinander gelernt, sich aufeinander bezogen. Ohne die Erfahrungen vom Tahrir und Syntagma wäre die Bewegung in der Türkei wohl nicht so schnell in der Lage gewesen, ein funktionierendes Protestcamp im Gezi-Park aufzubauen. Die Bilder aus der Türkei mögen Aktivist-Innen in Brasilien inspiriert haben, die Proteste voran zu treiben und haben der Bewegung in Ägypten gezeigt, dass ihr Beispiel aufgenommen und verbreitet wurde, was dieser im Gegenzug mehr Selbstbewusstsein verschafft haben wird.
In diesem Sinne ist die Revolte global. Aber bezüglich ihrer Ziele und der Kampfbedingungen ist sie nicht global, sondern stark von der Lage in den jeweiligen Ländern bestimmt. Allen Bewegungen ist gemein, dass sie unter dem Strich für eine demokratische Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung kämpfen, ob dies den ProtagonistInnen bewusst ist oder nicht. Aber im Konkreten kämpfen sie unter sehr verschiedenen Bedingungen. Das führt dazu, dass sich Tempo und Rhythmus auseinander entwickeln und keine einheitliche oder auch nur tatsächlich gemeinsame Bewegung entsteht.
In Griechenland, Spanien und Portugal kämpft eine Arbeiterklasse, die zwischenzeitlich eine reale Steigerung des Lebensstandards erfahren hatte, gegen das angeblich alternativlose Abrutschen in frühkapitalistisches Massen-elend, befindet sich, sehr drastisch in Griechenland, auf einer unendlichen Rutschbahn nach unten.
In Brasilien fordern Arbeiterklasse und untere Mittelschichten ihren Teil vom Aufschwung, vom Reichtum der letzten Jahre und protestieren dagegen, wie sich das Establishment durch korrupte Machenschaften ein zusätzliches Einkommen verschafft.
In der Türkei gibt es trotz jahrelangen Wirtschaftswachstums eine wachsende Unzufriedenheit über wirtschaftliche und soziale Entwicklungen (Niedriglöhne, Preissteigerungen, soziale Verdrängung etc.), stark vermischt mit dem Protest gegen die Islamisierung.
In Tunesien und Ägypten revoltieren die Massen gegen die sozialen Folgen der dauerhaften wirtschaftlichen Stagnation dieser im weltweiten Kapitalismus abgehängten Länder. Die religiöse Frage verkompliziert den revolutionären Prozess.
Der weltweite Kapitalismus ist ein großer Gleichmacher. Die Krise seit 2007 hat alle Sektoren der Welt hineingezogen. Insofern gibt es eine Tendenz, dass sich auch die Gegenwehr internationalisiert. Aber die Krise verläuft nicht überall gleichmäßig, sondern produziert auch – meist nur vorübergehend – Gewinner, wie in den letzten Jahren zum Beispiel Deutschland, Brasilien, Australien, die Türkei. Dies führt zu unterschiedlichen Verläufen sozialer Kämpfe in verschiedenen Regionen.
In Europa stellt sich die Aufgabe, die realen Gemeinsamkeiten in Südeuropa zur Entwicklung gemeinsamer Kämpfe und grenzüberschreitender Alternativen zu nutzen, die Zeit für einen gemeinsamen eintägigen Generalstreik dieser Länder ist überreif. Eine Einbeziehung der türkischen Bewegung in eine solche internationale Strategie koordinierter und zeitgleicher Aktionen ist schwer, weil die Voraussetzungen und Themen, um die es geht, zu unterschiedlich sind.
Eine wichtige Erkenntnis aus der türkischen Bewegung ist allerdings, dass es keine Ruhezonen im Kapitalismus gibt. Geografisch gesehen haben wir es daher tatsächlich mit einer globalen Revolte zu tun.
Das Programm von Sosyalist Alternatif
Die Schwesterorganisation der SAV in der Türkei, Sosyalist Alternatif, war in der Bewegung aktiv, hat mehrere Flugblätter und Zeitungen produziert und beteiligt sich an der Debatte, wie es mit der Bewegung weitergehen kann. Sosyalist Alternatif hat ein Programm skizziert, mit dem die Linke in die Bewegung eingreifen und diese verbreitern sollte:
- Volle demokratische Rechte
- Sofortige Freilassung aller während der Proteste Inhaftierten
- Eine unabhängige Kommission, um die Polizeigewalt zu untersuchen, zusammengesetzt aus VertreterInnen der Bewegung und der Gewerkschaften
- Freiheit für alle politischen Gefangenen
- Vollständige demokratische Rechte inklusive des Demonstrations- und Versammlungsrechtes und des Rechtes, Parteien und Gewerkschaften zu gründen
- Mobilisierung der ArbeiterInnen gegen jede Einmischung des Militärs, demokratische Rechte inklusive gewerkschaftlicher Organisierung für Soldaten und Polizisten
- Abschaffung der Anti-Terror-Gesetze und der Spezialgerichte sowie der repressiven und reaktionären Gesetze, welche durch die AKP eingeführt wurden
- Keine Zensur, für freie Medien – ein Ende der Repression gegen Journalisten, Blogger, Tweeter und TV-Stationen
- Freie Ausübung oder Nicht-Ausübung der Religion und gleiche Rechte für alle religiösen Gruppen, für ein Ende des staatlichen Paternalismus und aller Versuchte der Spaltung. Für das Recht Aller ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten
- Für ein Ende der Repression gegen die KurdInnen, gleiche Rechte für Alle inklusive der Anerkennung von Minderheiten und deren Rechte. Für das Recht auf Selbstbestimmung inklusive des Rechtes, einen unabhängigen Staat zu bilden
- Ausländische Truppen raus aus Syrien, keine militärische Intervention der Türkei oder der imperalistischen Mächte in der Region
- Für eine Verfassungsgebende Versammlung, bestehend aus in den Betrieben, Nachbarschaften, Städten und Dörfern gewählten VertreterInnen, für die Garantie demokratischer Rechte und sozialer Sicherheit für die Masse der Bevölkerung
- Arbeit, angemessene Löhne und soziale Sicherheit
- Schluss mit der Bereicherung weniger, gegen die Umgestaltung des Taksim-Platzes und aller profitgetriebenen Projekte
- Schluss mit der Privatisierung, Re-Verstaatlichung privatisierter Betriebe
- Schluss mit den Angriffen auf die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes
- Deutliche Anhebung des Mindestlohns
- Menschenwürdige Wohnungen und Einkommen für Alle
- Verstaatlichung der die Wirtschaft beherrschenden Banken und Konzerne unter Arbeiterkontrolle und -verwaltung
- Für einen demokratischen, sozialistischen Plan, um die Wirtschaft im Interesse der arbeitenden und armen Menschen und unter Berücksichtigung des Umweltschutzes zu entwickeln
- Für eine Regierung im Interesse der ArbeiterInnen, der Jugend und der Armen
- Internationaler Widerstand gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Kapitalismus. Für eine sozialistische Demokratie, für einen sozialistischen Staatenbund des Nahen Ostens und Europas auf freiwilliger und gleichberechtigter Basis