Fr 09.12.2011
Millionen von PalästinenserInnen leben in Israel, in Ghettos in Syrien, dem Libanon und Jordanien sowie in den beiden voneinander getrennten Territorien der Westbank und dem Gazastreifen am Mittelmeer. Die Lage dort ist mitunter verzweifelt. Der Luftkrieg der Israelischen Armee in der "operation castlead" 2008-09 ist anhand tausender zerstörter Gebäude heute noch sichtbar. Seitdem hat sich die Lage durch die Blockade seitens des israelischen Staates verschärft. Doch dadurch wird das Leben der Menschen in Israel nicht besser. Im Gegenteil. Dort engagieren sich immer mehr, internationalen Trends folgend, in Protestbewegungen.
Die erneut brutale Reaktion des israelischen Staates auf die internationale Gaza-Flottille (siehe Bericht auf www.slp.at) vom November 2011 zeigt, wie sehr er sich bemüht, ein Bedrohungs-Szenario aufrechtzuerhalten. Dabei bestand keinerlei militärische Bedrohung durch die Flottille. Ihr Ziel war und ist, Hilfsgüter abzuliefern. Warum sollte das für die Menschen in Israel gefährlich sein? Wem nützt es, wenn in Gaza ein grundlegender Mangel an sauberem Trinkwasser herrscht und das Abwassersystem nicht funktioniert? All dies sind unmittelbare Folgen der Blockadepolitik. Der Kampf für ein besseres Leben der PalästinenserInnen bedeutet nicht, dass JüdInnen in Israel dadurch zu leiden haben müssen. Im Gegenteil: es ist vielmehr anzunehmen, dass wenn in Palästina Verbesserungen (v.a. durch Massenbewegungen) erkämpft werden, der Einfluss von Hamas & Co. zurückgedrängt werden kann. Gleichzeitig kann eine Brücke zu den sozialen Protesten in Israel gebaut werden.
Der Aufstieg von individual-terroristischen und reaktionär-antisemitischen Organisationen wie der Hamas war eine Folge der Situation nach dem Zusammenbruch des Stalinismus sowie einer Serie von Fehlern politisch linker Kräfte und der Korruption der bürgerlichen Eliten in Palästina. Für die Herrschenden in Israel ist eine starke Hamas insofern von Vorteil, als dass sie es dadurch relativ leicht hat, die Anliegen der PalästinenserInnen als Terrorismus abzutun und ihre eigene Position in Staat und Militär abzusichern. Die Folgen der aggressiven Politik, die von der israelischen Armee exekutiert wird, haben neben den Opfern in den besetzten Gebieten im Regelfall wieder nur Zivilpersonen in Israel zu tragen. Doch die Phase der "Al Aqsa-Intifada" ist möglicherweise bereits vorbei. Eine neue Bewegung, basierend auf Massenaktionen kann dem "arabischen Frühling" folgen. In der heranwachsenden Generation wird angesichts der fehlenden Fortschritte durch die Hamas-Politik der Wunsch nach einer neuen politischen Kraft wachsen. Diese kann auf der Basis zunehmender sozialer Widersprüche an ArbeiterInnen in Israel appellieren, eine gemeinsame Lösung des Nahostkonfliktes zu entwickeln. Wir stehen vielleicht vor Beginn einer solchen 3. Intifada.
Die sozialen Proteste in Israel können ein Bindeglied zu Protesten der PalästinenserInnen werden.
Die ArbeiterInnenklasse in Israel gibt deutliche Lebenszeichen von sich. Am 7. November fand ein Generalstreik statt. Er richtete sich gegen Auslagerungen von Arbeitsverträgen, die v.a. im Öffentlichen Dienst und Bildungswesen Löhne und Arbeitsbedingungen drücken. Der Gewerkschaftsbund Histadrut war zu diesem Schritt gezwungen, obwohl er üblicherweise sozialpartnerschaftliche Unterwürfigkeit praktiziert. Die Situation ist aufgrund von Kurzzeit-Verträgen und Anstellung über Agenturen für Beschäftigte in Israel im OECD-Vergleich am schlimmsten. 300.000 sind direkt betroffen.
Doch das war nur einer von vielen Arbeitskämpfen: Im Frühjahr streikten 10.000 SozialarbeiterInnen (sowohl jüdische als auch israelisch-palästinensische). Sie nahmen Bezug auf den Tahrir-Platz in Kairo und die Bewegung in Libyen. Einen Streik bei der Eisenbahn gegen Privatisierungspläne gab es im Sommer. In Haifa zog sich ein Streik der Chemie-Arbeiter ab Mai über mehrere Monate. Man wandte sich gegen die Spaltung in der Belegschaft aufgrund von Unterschieden in den Arbeitsverträgen sowie für höhere Löhne. Um nicht von einer bürokratischen Gewerkschaftsführung blockiert zu werden, trat man einem kämpferischen Verband bei, "Power to the Workers". Bei Haifa Chemical Inc. arbeiten JüdInnen, AraberInnen und DrusInnen. Es war ein klares Signal in diesem Streik, dass die Ziele der ArbeiterInnen nur gemeinsam erreicht werden können. Dies sind Vorlagen für eine völlig andere Art von Politik, die sich nicht am Dogma der kapitalistischen Marktwirtschaft mit ihrem "Teile und Herrsche" orientiert.
Eine bedeutsame Rolle in diesen Streiks und Initiativen wie "Power to the Workers" spielt die "Bewegung Sozialistischer Kampf" (Tnua’t Maavak Sozialisti / Harakat Nidal Eshtaraki). Ihre AktivistInnen versuchen, die einzelnen Ansätze der Unzufriedenheit in eine generell antikapitalistische Richtung zu entwickeln. Dazu gehört auch, es nicht bei einmaligem Demonstrieren zu belassen. Nur landesweit koordinierte Arbeitsniederlegungen werden letztlich die Regierung zu Zugeständnissen zwingen.
Im August entfaltete sich sodann in Tel-Aviv und anderen Städten eine jugendlich geprägte Bewegung für soziale Gerechtigkeit, vor allem gegen zu hohe Wohnkosten. Premier Netanjahu meinte noch einige Wochen zuvor, dass es in Israel als einzigem Land des Nahen Ostens keine solchen Proteste gäbe, weil es wirtschaftlich so stabil und demokratisch sei. Dieser Einschätzung stehen nun zahlreiche Demorufe wie "Mubarak - Assad - Netanjahu" gegenüber.
Ausgelöst durch den Aufbau einer Zelt-Siedlung auf einer Einkaufsstraße in Tel-Aviv, wuchs eine vielschichtige Bewegung. Am 6. August gingen unter der Forderung nach "sozialer Gerechtigkeit" 300.000 Menschen auf der Straße. Dieses Ergebnis wird kurz danach noch übertroffen: am 3. September erreichten die Demos in Tel-Aviv, Jerusalem und Haifa zusammen über 430.000. Der Chefs des Histadrut, Ofer Eyni, sorgte sich letztlich darum, dass die Demonstrationen die Regierung zu Fall bringen könnten.
Auch die palästinensische Frage war in diesen Protesten präsent. Es gab heftige Auseinandersetzungen darüber, inklusive Gewalttätigkeiten rechter Gruppen, wie AktivistInnen von "Bewegung Sozialistischer Kampf" berichteten. Grundsätzlich bietet jede soziale Bewegung die Chance, eine multi-ethnische Perspektive gegen die Blockade und für eine sozialistische Lösung des Nahost-Konflikts aufzubauen.
Eine neue Friedens- und ArbeiterInnen-Bewegung in Nahost ist möglich. Sie kann aus den sozialen Protesten entstehen, welche die kommenden Jahre prägen werden. Das CWI in Form seiner Schwesterparteien überall und im Besonderen in Israel/Palästina sowie die AktivistInnen im Libanon treten für ein sozialistisches Programm ein, das nicht an den Grenzen von Nation halt macht.