So 01.06.1997
Darüber, wie die praktische Gewerkschaftsarbeit aussieht und wie die chilenische Linke versucht, innerhalb der Gewerkschaft Widerstand zu organisieren, sprachen wir mit Kollegin Vilma ALVAREZ-PARADA. Sie ist Funktionärin der TextilarbeiterInnengewerkschaft und Mitglied der revolutionär-sozialistischen Gruppe ALTERNATIVA-MARXISTA (chilenische Sektion des Komitees für eine Arbeiterinternationale). Das Interview führte Michael Gehmacher, SOV-Gewerkschaftssprecher.
Vorwärts: Vilma, kannst Du uns zum Einstieg kurz etwas über Dich und Deine Tätigkeit sagen?
VILMA: Ich habe als Schneiderin in der Textilfabrik JOHNSEN angefangen, habe die Gewerkschaftsgruppe mitbegründet und war dann 6 Jahre Vorsitzende. In Chile sind ArbeiterInnen und Angestellte getrennt organisiert. Bei JOHNSEN gibt es 700 Arbeiterinnen und 2.300 Angestellte (Verwaltung und VerkäuferInnen).
Vorwärts: Wie schaut Deine Gewerkschaftsarbeit konkret aus?
VILMA: Ich unterstütze die Gewerkschaftsgruppe im Betrieb, es sind fast alle Arbeiterinnen Mitglied. Ich und vier andere Kolleginnen sind freigestellt. Wir haben noch dieses kleine Büro, das von der Firma zur Verfügung gestellt wird. Beim Hergehen habt Ihr ja gesehen, daß die Fabrik gleich nebenan liegt. Die Kolleginnen können also leicht in der Mittagspause oder nach der Arbeit vorbei kommen. Die Gewerkschaftsgruppe im Betrieb macht vor allem die Interessensvertretungsarbeit gegenüber der Unternehmensleitung, ähnlich wie bei Euch die BetriebsrätInnen, nur daß in Chile viele Schutzbestimmungen nicht gesetzlich verankert sind. Vom Gesetz her ist eigentlich nur die Gründung einer Gewerkschaft im Betrieb erlaubt, wenn die Mehrheit einer Belegschaftsversammlung sich zur Gründung einer Gewerkschaft ent-schließt. Aber die Freistellungen, das Einhalten verschiedener Schutzbestimmungen, die korrekte Bezahlung, das sind alles Dinge, die man sich erkämpfen muß, wo man den Rückhalt von möglichst vielen Mitgliedern braucht, wo man mit Streik drohen muß usw. Am Anfang, also in der Gründungsphase und danach, gehen die Unternehmer sehr hart vor.
Vorwärts: Wie hart?
VILMA : Am 21. April haben wir in einer großen Kleiderfabrik von Santiago versucht, eine Gewerkschaft zu gründen. Wir haben Flugblätter verteilt, auf denen wir die Kolleginnen und Kollegen zu einer Veranstaltung zum Thema »Probleme der ArbeiterInnen in der Textilindustrie« einluden, denn vom Gesetz her dürfen wir nicht von außerhalb des Betriebes zur Gründung einer Gewerkschaft aufrufen, aber die KollegInnen wissen, was gemeint ist, wenn sie den Zettel lesen. Ein paar Kolleginnen, mit denen wir schon Kontakt haben, hätten dann vorgeschlagen, eine Gewerkschaft zu gründen, dann wäre über diesen Vorschlag abgestimmt worden. Als wir allerdings bei der Firma ankamen, merkten wir, daß die Firmenleitung die Polizei gerufen hatte, die sich dann am Firmengelände aufstellte. In einem Land, das erst seit kurzem eine blutige Diktatur hinter sich hat, schüchtert die Polizeipräsenz ziemlich ein.
Vorwärts: Wie schaut die Arbeitssituation für Frauen aus?
VILMA: Im Textilbereich arbeiten überwiegend Frauen, die Meister und Vorarbeiter sind meistens Männer, die ganz eindeutig bevorzugt werden. In Chile kommt es vor, daß Frauen von einem männlichen Vorgesetzten geschlagen werden. Dazu kommen noch Fußtritte und wüste Beschimpfungen. Körperliche Attacken haben wir bei Johnsen abstellen können, aber es gehört nach wie vor zu unserer tagtäglichen Arbeit, die männlichen Vorgesetzten in ihre Schranken zu weisen.
Außerdem hat dieTextilarbeiterInnengewerkschaft 30.000 Mitglieder; sie soll zu einer Bastion gegen den angepaßten Kurs der Gewerkschaftsführung werden.
Vorwärts: Wie ist der Gewerkschaftsverband aufgebaut?
VILMA: 13 Prozent der chilenischen ArbeiterInnenklasse sind in Betriebsgewerkschaften organisiert. Diese Betriebsgewerkschaften schließen sich zu Fachgewerkschaften zusammen, und die meisten dieser Fachgewerkschaften sind dem chilenischen Gewerkschaftsbund angeschlossen. Auf einem Kongreß wird ein Bundesvorstand und ein Exekutivkomitee gewählt. Das Exekutivkomitee besteht derzeit aus 6 Mitgliedern der PS (Sozialistische Partei), 4 Christdemokraten und 5 KP-Mitgliedern. Die Regierung hat also eine Mehrheit. Allerdings sind die einzelnen Gewerkschaften politisch autonomer, und da gibt es traditionell kämpferische Gewerkschaften, wie z.B. die Kohlebergarbeiter oder die LehrerInnen, die beide der KP sehr nahe stehen. Leider gibt es viele KP-Gewerkschaftsfunktionäre, die den Regierungskurs unterstützen.
Unsere Gewerkschaft unterstützt die sogenannte Koordination, das ist eine Basisstruktur des CUT (chilenischer Gewerkschaftsbund), die gegen den Regierungsvorschlag zum neuen Arbeitslosengesetz kämpft.
Vorwärts: Wie sieht der Regierungsvorschlag aus und warum bekämpfst Du ihn?
VILMA: Derzeit muß der Unternehmer jedem/r gekündigten ArbeiterIn eine Abfertigung zahlen und zwar einen Monatslohn pro Arbeitsjahr. Diese Abfertigung würde in Zukunft auf maximal 5 Monatslöhne beschränkt werden. Wir haben uns das durchgerechnet und haben festgestellt, daß das für die überwiegende Mehrheit der Beschäftigten eine massive Verschlechterung der Einkommenssituation bedeutet. Die meisten bekommen ja viel weniger Abfertigung. Gleichzeitig soll nach dem Regierungsvorschlag das Arbeitsamt privatisiert werden. Der Regierungsvorschlag enthält eine Reihe von Vorschlägen, die darauf abzielen, daß die ArbeiterInnen noch mehr in das Sozialsystem einzahlen. Für die Regierung ist dieser Gesetzesentwurf eine Art Startschuß für eine institutionalisierte Sozialpartnerschaft. Daher ist die politische Bedeutung enorm. Es ist auch eine Grundsatzentscheidung, welchen Weg der Gewerkschaftsbund nach dem Ende der Militärdiktatur gehen will.
Die jetzige Vorsitzende vertrat den Vorschlag des CUT-Exekutivkomitees, den Regierungsvorschlag in modifizierter Form zu unterstützen. Bei einer zweiten Sitzung unserer Gewerkschaft schloß sich aber eine Mehrheit meiner Position an, dadurch spricht sich die Gewerkschaft der TextilarbeiterInnen heute gegen den Regierungsvorschlag aus.
Vorwärts: Wie kam es zur »Koordination«, und wie stark ist sie derzeit?
VILMA: Die CUT-Führung will - etwas vereinfacht gesagt - den Regierungsvorschlag in modifizierter Form annehmen. Auf einer CUT-Konferenz zu diesem Thema kam es zu einem Eklat, weil ich aufstand und mich dafür aussprach, sich nicht an der Regierung zu orientieren, sondern an den Interessen der ArbeiterInnen und Angestellten. Der Ex-CUT Präsident, ein Christdemokrat, meinte darauf, man habe derzeit nicht die Möglichkeit, etwas zu fordern, sondern nur jene, die Regierung um kleine Verbesserungen zu bitten. Bei dieser Aussage wurde es sehr unruhig im Saal, offensichtlich hatte der Ex-Präsident unterschätzt, was das Wort »bitten« bei klassenbewußten GewerkschafterInnen auslöst. Ich nutzte dieses Eigentor der CUT-Führung und brachte einen Antrag ein, den Regierungsentwurf abzulehnen. Dem schloßen sich die Kohlebergarbeiter an, später auch die Gewerkschaft der Matrosen und Hafenarbeiter. Mit den Funktionären der Kohlebergarbeitergewerkschaft habe ich eine gute Gesprächsbasis wegen der Zusammenarbeit im großen Streik letztes Jahr. Ich überzeugte sie, eine Konferenz gegen den Regierungsvorschlag zu organisieren, daraufhin fand ein größeres Treffen in der Zentrale der Bergarbeitergewerkschaft statt. Dort wurde die »Koordination« gegründet. Wir vertreten derzeit etwa 140.000 Gewerkschaftsmitglieder.
Vorwärts: Wie geht’s weiter?
VILMA: Als ersten Schritt organisierten wir eine Demonstration am 24. April und die Vorbereitung sollte dazu genützt werden, möglichst viele Gewerkschaftsmitglieder, einzubinden. Im ganzen Land sollen Basiskomitees entstehen. Wir wollen diese Struktur beibehalten und eine klassenkämpferische Opposition im CUT aufbauen.
Wir wollen allerdings auch eine starke internationale Vernetzung. Eine neue rote Gewerkschaftsinternationale, die verschiedene linke Strömungen vereinigt, wäre ja dringend notwendig!
Vorwärts: Danke für das Gespräch!