Mi 21.09.2005
Das gab es noch nie: am Abend einer Bundestagswahl nehmen beide SpitzenkandidatInnen von CDU/CSU und SPD – trotz der offensichtlichen Tatsache, dass sie die VerliererInnen des Abends sind - für sich in Anspruch, Kanzler/in zu werden. Schröder präsentiert sich als Wahlsieger, wie ein Fußballtrainer, der nach einer 0:3-Niederlage seiner Mannschaft darauf hinweist, dass viele Zuschauer auf ein 0:6 getippt haben. Merkel präsentiert sich als Wahlsiegerin, obwohl sie weiß, dass sie die eigentliche Verliererin des Tages ist. Stoiber gibt Jamaika eine völlig neue Bedeutung: in diesen Tagen denkt man nicht mehr an Reggae und Karibik, sondern an die schwarz-gelb-grüne Nationalflagge des Inselstaates, die Namensgeberin für eine bis vor kurzem noch undenkbare Regierungskoalition ist. Nur über eine Ampelkoalition wird nicht wirklich spekuliert, weil die FDP offensichtlich das Image der prinzipienlosen Regierungsbeteiligungs-Geilheit loswerden will und eine solche (noch) ausschließt. Deutschland im politischen Chaos und keiner weiß, wie dieses aufgelöst werden soll.
Druck der Bosse
Das US-amerikanische „Wall Street Journal“ schreibt: „Der 'kranke Mann Europas' wird wahrscheinlich noch einige Zeit bettlägerig bleiben“ und spielt damit auf die wirtschaftliche Krisen- und Stagnationsphase an, in der sich die Bundesrepublik seit Jahren befindet. Nun scheinen die politischen Verhältnisse sich den wirtschaftlichen anzugleichen. Ein Konzernboss nach dem anderen drückt seine „bittere Enttäuschung“ über das Wahlergebnis aus. Kein Wunder, ist doch das Kalkül der Reichen und Mächtigen nicht aufgegangen: durch Neuwahlen eine Regierung zu bekommen, die in Sachen Sozialkahlschlag und Abbau von Arbeitnehmerrechten den Hammer rausholt und die Gewerkschaften zum „letzten Gefecht“ herausfordert. Stattdessen wird nun von den Kapitalisten das Gespenst des durch eine Große Koalition hervorgerufenen „Stillstands“ an die Wand gemalt und dieses Gemälde sogleich mit der Forderung nach einer Fortsetzung der sogenannten „Reformen“ verschönert. Keine Frage: die Bosse und Bänker wollen nicht warten, bis sie uns weiter an die Tasche gehen können. Und sie werden zweifelsfrei auf jede neue Regierung, egal wie diese zusammengesetzt sein wird, erheblichen Druck ausüben die Rechte und den Lebensstandrad der Masse der Bevölkerung weiter einzuschränken.
Neue Instabilität
Das Wahlergebnis unterstreicht die Unfähigkeit des Kapitalismus in Zeiten struktureller Krisen politische Stabilität aufrecht zu erhalten. Deutschland nähert sich Verhältnissen, wie wir sie früher in Italien kannten – unberechenbares Wählerverhalten, häufigere Regierungswechsel, politische Instabilität. Diese ist letztlich nur Ausdruck einer zunehmenden Polarisierung zwischen den Klassen, also zwischen Unternehmern und lohnabhängiger bzw. erwerbsloser Bevölkerung. Erstere können ihre Profitraten nur steigern, wenn sie die Lohnkosten drastisch senken, letztere glauben nicht mehr, dass es sich irgendwann auszahlen wird, heute den Gürtel enger zu schnallen.
Welche Regierung?
Es ist zwei Tage nach dem Wahltag unmöglich sicher vorher zu sagen, zu welcher Regierungskonstellation es kommen wird.
Schröder und Merkel pokern hoch und geben sich unnachgiebig. Das geht möglicherweise bis zur Nachwahl in Dresden am 2. Oktober so weiter. Aber irgendwann wird sich der Druck der Banken und Konzerne, eine schnelle Regierungsfähigkeit zu erreichen, durchsetzen.
Nur wenn sich persönliche und parteipolitische Interessen als unüberwindbar herausstellen, wären selbst neuerliche Neuwahlen nicht auszuschließen. Vom Standpunkt der Kapitalisten, die ja in dieser Gesellschaft letztlich über die Macht verfügen, würde dies aber die Gefahr beinhalten, eine weitere Destabilisierung der Verhältnisse und ein weiteres Wachstum der Linkspartei zu riskieren. Eine Jamaika-Koalition ist ebenfalls nicht auszuschließen, da sich Grüne, FDP und CDU/CSU und wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen gar nicht so sehr unterscheiden. Ob die Grünen allerdings diese innerparteiliche Zerreißprobe eingehen können, ist fraglich.
Zur Zeit spricht am meisten für eine Große Koalition – mit wem auch immer als Kanzler oder Kanzlerin. Schließlich sind die politischen Unterschiede zwischen SPD und CDU/CSU begrenzt und gab es in den letzten Jahren eine faktische Große Koalition bei der Umsetzung der Agenda 2010 und bei Hartz IV. Eine solche würde aus Sicht des Kapitals den Weg frei machen, die nächsten „Reformen“ anzupacken.
Kommende Kämpfe
Das bedeutet, dass die Pläne des Kapitals verzögert, aber nicht wirklich durchkreuzt wurden und sich die arbeitende Bevölkerung auf große Auseinandersetzungen einstellen muss. Die Vorbereitung auf diese muss jetzt beginnen. Dies gilt sowohl für weitere Angriffe durch eine zukünftige Bundesregierung als auch für die Attacken der Bosse in den Betrieben. Die Ankündigung von Stellenabbau bei Siemens, Volkswagen und DaimlerChrysler zeigen, wo es lang gehen soll. In den Gewerkschaften muss sich auf Massenmobilisierungen gegen die künftige Regierung und gegen Entlassungen und Arbeitsplatzvernichtung in den Betrieben vorbereitet werden. Dabei müssen auch die Lehren aus den Protesten gegen die Agenda 2010 und Hartz IV gezogen werden – ohne Streiks sind Regierung und Kapital nicht aufzuhalten.<
Auch die IG Metall steht in der Pflicht für die kommende Tarifrunde im Frühjahr des nächsten Jahres Lohnforderungen aufzustellen, deren Durchsetzung zu spürbaren Reallohnsteigerungen führen würde und die dementsprechend mobilisierbare Wirkung unter den KollegInnen entfalten können.
Die Bundestagsfraktion der Linken muss unmissverständlich an der Seite des Widerstands stehen und diesen unterstützen und mit aufbauen. Nicht nur gegen Gesetze der nächsten Regierung. Sie hat auch die Verpflichtung eine Alternative zur Arbeitsplatzvernichtung aufzuzeigen und einen Beitrag dazu zu leisten, die Kämpfe der KollegInnen bei Siemens, VW und Daimler zu verbinden.