Der Horror von Kolkata: ein weiterer Beweis für die Heuchelei der Herrschenden - sexualisierte Gewalt und Ausbeutung zurückschlagen!

von Akiba, Socialist Alternative India und ROSA India

im Original veröffentlicht am 19.8.2024 auf socialistindia.org

Inhaltswarnung: Dieser Artikel behandelt Fälle extremer sexueller Gewalt.

 

Der schreckliche Vergewaltigungs- und Mordfall an Dr. Moumita Debnath hat die Welt schockiert und erneut die brutale Vergewaltigungskultur Indiens in den globalen Fokus gerückt. Landesweit haben massive Proteste stattgefunden, die zwar zahlenmäßig noch nicht an die Nirbhaya-Bewegung (Massenproteste nach einer Gruppenvergewaltigung in Delhi 2012, Anm.) heranreichen, jedoch qualitativ einen Durchbruch im Kampf gegen sexuelle Gewalt darstellen. Millionen von Menschen sind in dieser Woche auf die Straßen Indiens gegangen: nicht nur in Westbengalen (dem Bundesstaat, wo das Verbrechen geschah, Anm.) oder den großen Metropolen, sondern auch in kleinen Dörfern bis nach Tamil Nadu. Die Indian Medical Association organisierte einen 24-stündigen Streik, alle ambulanten Dienste in öffentlichen und privaten Krankenhäusern vom 17. bis 18. August, von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr morgens, wurden ausgesetzt. Ärzt*innen, Studierende und breite Schichten der Bevölkerung sind nicht nur über die grausame Natur des Falles empört, sondern auch über die heuchlerische und repressive Reaktion der herrschenden Klasse.

Die Sicherheit von Dr. Debnath wurde auf verschiedene Weisen durch die Krankenhausverwaltung und die Polizei untergraben. Zum Zeitpunkt des Übergriffs ruhte sie sich in einem leeren Besprechungszimmer nach einer anstrengenden 36-Stunden-Schicht aus – da es im Krankenhaus keine geeigneten, sicheren und gut ausgestatteten Räume für Ärzt*innen gibt, um sich zwischen ihren Schichten auszuruhen. Mindestens einer ihrer Angreifer konnte aufgrund laxer Sicherheitsvorschriften das Gebäude betreten, obwohl er nicht über die erforderlichen Berechtigungen verfügte. Zwar waren Überwachungskameras installiert worden, sie waren jedoch nicht funktionsfähig. Darüber hinaus legten medizinische Berichte nahe, dass sie nicht von einem, sondern von mehreren Männern angegriffen wurde. Die prompte Entscheidung des Krankenhauses, ihren Tod als Selbstmord zu deklarieren, war völlig absurd. Die Polizei versäumte den Tatort abzusichern, und das Krankenhaus selbst manipulierte offensichtlich Beweise vor und während der Untersuchung unter dem Vorwand von „Renovierungsarbeiten“.

Dies ist außerdem nicht der einzige Fall sexuellen Missbrauchs am RG Kar Medical College and Hospital. Ein Beispiel ist der Fall von Soumitra Biswas 2001: Der Student drohte, Pornoring an der Universität aufzudecken. Es war ein offenes Geheimnis, dass eine Gruppe männlicher Studenten sich dabei filmte, wie sie auf dem Campus mit Sexarbeiter*innen Sex hatten – und wenn sie keine bekamen, nutzten sie Leichen aus dem Krankenhaus. Laut Zeugenaussagen war Biswas der einzige Student, der diese kriminellen Umtriebe anprangerte, nachdem das Gesicht einer Kommilitonin auf ein Bild einer nackten Leiche gephotoshoppt wurde. Die Umstände seines Tod wiesen eindeutig auf einen Mord hin: Die Tür zu seinem Zimmer wurde aufgebrochen, ein Taschentuch wurde ihm in den Hals gestopft und das Kabel, mit dem er sich angeblich selbst erhängt hatte, war dafür zu kurz. Dennoch wurde der Fall von der Polizei als Selbstmord eingestuft, und obwohl im benachbarten Raum Filmequipment gefunden wurde, erfolgte keine Untersuchung der von ihm vorgebrachten Anschuldigungen, die auch entschieden von anderen Studierenden wiederholt wurden.

Dr. Sandip Ghosh, der Direktor des medizinischen Colleges, war im vergangenen Jahr zweimal versetzt worden und wurde aufgrund von Korruptionsvorwürfen vom Calcutta National Medical College entlassen. Nachbarn wussten, dass er regelmäßig seine Frau schlug. Seine Verbindungen zum TMC (Trinamool Congress, eine bürgerliche Partei in Westbengalen, Anm.) bewahrten ihn wiederholt davor, unehrenhaft entlassen zu werden. Nach seinem Rücktritt von RG Kar infolge der öffentlichen Empörung über seine Rolle (er war derjenige, der in Windeseile die “Selbstmord-These” verkündete und empörende Aussagen machte, die das Opfer verunglimpften), erhielt er innerhalb von Stunden einen neuen, komfortablen Job. Kritiker*innen bezeichnen Dr. Ghosh als korrupten Bürokraten, der mafiöse Taktiken einsetzte, um seine Macht in der Medizinbranche zu sichern.

Diese Situation ist vielen Frauen, die in der Wissenschaft arbeiten, nur allzu vertraut. Mächtige Männer missbrauchen systematisch Frauen und betrachten hochqualifizierte Fachkräfte als ihren persönlichen Harem. Frauen, die dagegen aufstehen wollen, haben oft keine Möglichkeit, sich zu wehren. Kaum Unterstützung erhalten sich auch von der Polizei und dem Justizsystem - einem System, dessen Organe oft offen und ungeniert ihre korrupten Machenschaften und Machtspielchen betreiben. Dieses „Babu-System“ schützt die Elite vor den Konsequenzen ihres Handelns, anstatt Frauen und andere vulnerable Gruppen vor Unterdrückung und Ausbeutung zu schützen.

Dr. Debnath war weder ein Einzelfall noch eine Ausnahme. Jeden Tag werden Frauen in Indien und weltweit mit der Realität einer patriarchalen Vergewaltigungskultur konfrontiert, alle Lebensbereiche heimtückisch durchdringt: Ständig müssen sie sich umsehen, ob ihnen ein Mann an einen abgelegenen Ort folgt. Sich fragen, ob ein Lächeln freundlich gemeint ist oder bösartige Absichten verbirgt. Sich bei Freund*innen „einchecken“ und Standortdaten teilen, um bei einer einfachen Fahrt mit einem Auto sicher zu sein. Sich sexistische und frauenfeindliche Kommentare von Vorgesetzten, Kollegen und Kommilitonen anhören müssen. Sich an Ausgangssperren halten und Frauenhäuser, -Waggons und -Schulen aufsuchen. Und trotz all dem bleibt die Gewissheit, dass unsere Körper angegriffen werden können. Und wenn das passiert: mit einer Flut von Vorwürfen, “Victim-Blaming” und frauenfeindlichen Rechtfertigungen konfrontiert werden, ebenso wie mit der verharmlosenden Propaganda der Mainstream-Medien. Einige davon bezeichnen das abscheuliche Verbrechen in Kolkata noch immer abscheulicherweise als „mutmaßliche Vergewaltigung“, obwohl die Autopsie keinen Zweifel daran ließ, dass es sich um eine Gruppenvergewaltigung handelte.

Ob in der Öffentlichkeit oder hinter verschlossenen Türen: gewalttätige und missbräuchliche Männer bewegen sich frei, während Frauen mit Kontrolle, Scham und Einsperrung für das Verbrechen bestraft werden, einfach nur zu existieren. Ein Beispiel dafür ist die Banaras Hindu University, wo nach einem öffentlichkeitswirksamen Fall sexuellen Missbrauchs die Universitätsleitung die weiblichen Studierenden in ihren winzigen Heimen einsperrte, anstatt die Sicherheit zu erhöhen und die Situation anzugehen – während die Männer, die den Übergriff begangen hatten, sich weiterhin frei bewegen konnten. Welche Botschaft sendet dies an missbräuchliche und gewalttätige Männer? Dass jede Frau da draußen „frei verfügbar“ ist? Dass die Körper von Frauen Trophäen sind, die wie exotische Beute gejagt werden können?

Wie wir alle wissen, sind Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe nicht nur die Taten einzelner bösartiger Individuen, sondern ein Symptom der patriarchalen Vergewaltigungskultur, die alle Teile der Gesellschaft durchdrungen hat. Westbengalen selbst galt lange als säkulare, sichere Zone für Frauen in Indien – ein Mythos, welcher der Realität bis heute widerspricht. Von Sandeshkhali und der Presidency University bis hinter die verschlossenen Türen der Privathaushalte sind Fälle von Gewalt und sexuellem Missbrauch gegen Frauen allgegenwärtig. Noch schlimmer ist es, wenn diese Fälle Frauen betreffen, die “Scheduled Castes and Scheduled Tribes” (SC/ST, oft auch “Dalit” genannt - aufgrund des Kastensystems besonders stark unterdrückte Gruppen, Anm.) angehören. Diese Fälle werden oft nicht einmal in den Nachrichten erwähnt. Die katastrophale Geschichte von TMC und BJP (Modis hindu-nationalistische Regierungspartei, Anm.) bei der Vertuschung und dem Schutz von Sexualtätern zeigt, dass sie nur dann vorgeben, sich um Missbrauch zu kümmern, wenn er von der gegnerischen Partei begangen wurde.

Die „Babu-Kultur“ bietet gefährlichen Männern nicht nur einen Hintereingang zu Bereichen, in denen sie Frauen angreifen können. Sie ermöglicht es solchen Personen auch, einer Strafe zu entkommen – sei es dadurch, dass ihnen eine sichere Ausreise aus dem Land gewährt wird, dass sie aus dem Gefängnis freigelassen und mit Ehrungen überschüttet werden, oder durch die Vernichtung von Beweisen ihrer grausamen Taten durch den Einsatz tausender bewaffneter Schläger. Männer müssen sich mit der Vergewaltigungskultur auseinandersetzen. Nicht, indem sie Frauen in immer engere Gefängnisse aus Stoff und Beton sperren; sondern indem sie Verantwortung übernehmen, als Verbündete handeln, sich gegenseitig zur Rechenschaft ziehen und der nächsten Generation von Jungen beibringen, dass der Körper einer Frau niemandem außer ihr selbst gehört. Wir müssen auch die Tatsache konfrontieren, dass das Patriarchat und sexuelle Gewalt Werkzeuge sind, um die Gesellschaftsordnung des Kapitalismus aufrechtzuerhalten – und dass das Patriarchat nur im Kontext der Abschaffung der Klassengesellschaft überwunden werden kann; eine Aufgabe, welche nur die Arbeiter*innenklasse erfüllen kann.

ROSA India solidarisiert sich mit der Familie des Opfers in ihrem Kampf um Gerechtigkeit. Wir unterstützen die Forderungen von Frauen und Beschäftigten im Gesundheitswesen nach mehr Sicherheit in Krankenhäusern, sicheren Bereitschaftsräumen auf dem Krankenhausgelände in ausreichender Zahl, der Installation von Überwachungskameras und generell besseren Arbeitsbedingungen. Doch dies kann genug sein. Administratives und wissenschaftliches Personal, das in sexuellen Missbrauch oder Vertuschung verwickelt ist, sollte von künftigen Anstellungen an öffentlichen oder privaten Institutionen ausgeschlossen werden.

Die Bewegung muss die Spaltungen ablehnen, die bereits innerhalb ihrer Reihen entstanden sind - wie etwa bei einer Demonstration in Mumbai, die Dalit-Frauen ausschloss. Es ist allgemein bekannt, dass Bahujan-Frauen (Bahujan ist ein Sammelbegriff für breite Schichten der Bevölkerung, die keiner höheren hinduistischen Kaste angehören, z.B. SC/ST bzw. Dalits, Muslime und andere religiöse oder nationale Minderheiten, Anm.) viel häufiger Opfer sexueller Übergriffe werden und dass sexueller Missbrauch ein Kontrollinstrument gegenüber unterdrückten Kasten ist. Eine ernsthafte und politisch reife Bewegung muss das Schweigen über Vergewaltigungen in Slums brechen und sich mit Kastenideologie und Kommunalismus (auf religiöse oder ethnische Identität begründete reaktionäre politik, Anm.) innerhalb ihrer eigenen Reihen auseinandersetzen - gerade auch innerhalb der Arbeiter*innenklasse. Eine bessere Zukunft kann nur durch eine organisierte und nachhaltige Bewegung erkämpft werden, die sexuelle Gewalt und Femizide auf allen gesellschaftlichen Ebenen bekämpft, ebenso wie häusliche, kastenbedingte und kommunale Gewalt. Ärzt*innen, Patient*innen, Studierende und Lehrende sowie die gesamte Arbeiter*innenklasse müssen zusammenstehen. Wir fordern dringend andere Gewerkschaften dazu auf, öffentliche Solidaritätserklärungen zu formulieren und Solidaritätsstreiks zu organisieren, bis die Forderungen erfüllt sind. Studierende rufen wir dazu auf, sich zu organisieren, Walkouts durchzuführen und gegebenenfalls die Universitäten zu besetzen, bis die Sicherheit der Studentinnen gewährleistet ist.

Es ist Zeit, jetzt für Veränderungen zu kämpfen. Wir können keine langsame, schrittweise Lockerung des Würgegriffs um unseren Hals akzeptieren. Zu warten bedeutet, unseren eigenen Tod zu akzeptieren. Wir können, wir müssen und wir werden für unser Recht auf Sicherheit und Gleichberechtigung kämpfen.

Das kapitalistische System und seine inhärenten Ungleichheiten, die von allen etablierten Parteien in Indien aufrechterhalten werden, sind nicht nur unfähig, die Ursachen geschlechtsspezifischer Gewalt anzugehen. Sie verstärken sie aktiv. Es ist ein System, das die Körper von Frauen kommerzialisiert, ihre Arbeit rücksichtslos ausbeutet, Sicherheit nach den finanziellen Möglichkeiten bemisst und den Reichen, Mächtigen und „Gut-Vernetzten“ ermöglicht, sich jeglicher Verantwortung zu entziehen. Es ist ein System, das von Grund auf beseitigt werden muss, wenn wir eine Welt schaffen wollen, in der alle Frauen ohne Angst leben können.

Um die Vergewaltigungskultur wirklich zu beenden, müssen wir nicht nur gegen einzelne Täter kämpfen, sondern gegen die gesamte Gesellschaftsordnung, die ihre Taten ermöglicht und entschuldigt. Das bedeutet, eine Bewegung aufzubauen, die nicht nur gegen Vergewaltigung und sexuelle Gewalt gerichtet ist, sondern für eine vollständige Umgestaltung der Gesellschaft kämpft – eine Bewegung, die antikapitalistisch, antipatriarchal und antikastistisch ist. Der Kampf um Gerechtigkeit für Moumita und alle Opfer sexueller Gewalt ist untrennbar mit dem Kampf für eine sozialistische Zukunft verbunden – wofür ROSA in Indien und vielen anderen Teilen der Welt aktiv eintritt.