Mo 27.12.2010
Am dritten Tag des Weltkongresses des Komitees für eine Arbeiterinternationale (englische Abkürzung: CWI) teilten sich die Delegierten und BesucherInnen in zwei Kommissionen auf, um die Entwicklungen in Asien und Lateinamerika zu diskutieren. Mit TeilnehmerInnen aus Indien, Taiwan, Sri Lanka, Hongkong, Malaysia und Australien waren mehr Länder der Region als zuvor bei einer Asien-Kommission des CWI repräsentiert. Die Delegierten aus Pakistan konnten leider nicht anwesend sein, weil ihnen die Visa verweigert worden waren (auch eine Teilnahme von GenossInnen aus Kaschmir war nicht möglich).
Während sich der Wachstumstraum der „Tigerstaaten“ schon in der Südostasien-Krise 1997 zerschlagen hatte und Japan seit Anfang der Neunziger nicht aus der Krise kam, richten sich die Augen heute auf die neuen aufstrebenden Mächte China und Indien. Wie lange wird ihr Wachstum noch anhalten und welche Rolle spielen sie auf dem Kontinent?
Neue Rolle Chinas in der Region
Stephen Jolly aus Australien stellte heraus, dass die „Nach-Vietnam-Kriegs-Ära“ an ihr Ende angelangt ist. Seit Mitte der Siebziger herrschte eine relative geopolitische Stabilität im Pazifischen Raum vor. Der US-Imperialismus hatte mit seinem Abzug aus Vietnam zwar eine Schlappe einstecken müssen, blieb aber die dominante Macht.
Die aufstrebende Rolle Chinas stellt nun den Status Quo, das bisherige Kräfteverhältnis in Frage. Die Marine Chinas wird stetig ausgebaut, zahlreiche Häfen wurden von China aufgekauft. Neben der militärischen Expansion wächst vor allem die wirtschaftliche Abhängigkeit von mehr und mehr Staaten gegenüber dem „Reich der Mitte“.
China stützt seine Ambitionen auf den wirtschaftlichen Aufschwung im eigenen Land. Noch vor 20 Jahren hatte Japan ökonomisch in der Region die Nase vorn, China und Australien waren wirtschaftlich etwa gleich stark. Heute hat China nicht nur weltweit hinter den USA den zweiten Platz belegt, sondern könnte nach Großbritannien und den USA das dritte Land der letzten 250 Jahre werden, das die meisten Güter auf dem Planeten herstellt. Wenn sich die Entwicklung Chinas geradlinig fortsetzen würde, hätte China im Jahr 2016 die USA als größte Wirtschaftsmacht überholt (wie der IWF behauptet).
Allerdings beläuft sich das Sozialprodukt Chinas bisher noch auf 40 Prozent von demjenigen der USA. Damit liegt China noch klar hinter den USA, wie Clare Doyle vom Internationalen Sekretariat (IS), die das Einleitungsreferat hielt, und Peter Taaffe vom IS, der die Diskussion zusammenfasste, unterstrichen. Zudem sind Pro-Kopf-Einkommen, Arbeitsproduktivität und Lebensstandard in China noch deutlich niedriger als in den USA, wie Peter Taaffe herausstellte.
Sollte China seine – um 30 bis 40 Prozent unterbewertete - Währung aufwerten, würde das Bruttoinlandsprodukt über Nacht von fünf auf sieben Billionen US-Dollar anwachsen (das US-Sozialprodukt beträgt etwa 14 Billionen im Jahr). Jedoch hätte dieser Schritt möglicherweise zahlreiche Fabrikschließungen zur Folge – da die Preise der chinesischen Waren auf dem Weltmarkt in die Höhe schnellen würden.
Die USA verlieren zwar ökonomisch an Boden und mussten auch durch die Entwicklungen in Afghanistan und Irak militärisch Federn lassen. Trotzdem sind sie weiter mit Abstand die stärkste Militärmacht auf der Erde und werden im asiatischen Raum nicht einfach für China den Platz räumen.
In jedem Fall drohen verstärkt Konflikte um Einflusssphären und Rohstoffe sowie militärische Auseinandersetzungen und mögliche Stellvertreterkriege.
Ökonomische Felsen in der Brandung?
Asien ist nicht im gleichen Maße wie die USA oder Europa vom Strudel der Weltwirtschaftskrise erfasst worden. Zwar gab es vor zwei Jahren auch starke Einbrüche, doch konnten sich die meisten asiatischen Länder erst einmal wieder relativ gut berappeln. Das geht – neben einem Zustrom von Kapital aus Europa und den USA nach den dortigen Rezessionen - vor allem auf das fortdauernde Wachstum Chinas, aber zum schwächeren Teil auch auf das von Indien zurück. Der Hunger Chinas nach Rohstoffen ist gewaltig, die Handelsbeziehungen der Länder im Pazifikraum wurden enorm intensiviert.
China und das Konjunkturpaket
Das chinesische Konjunkturpaket hatte einen größeren Effekt als die Maßnahmen, die in den westlichen Ländern ergriffen wurden. Vom Umfang her stellt es mit umgerechnet 400 Milliarden Euro Investitionen und 1.000 Milliarden Euro Garantien ein riesiges Paket dar. Im Unterschied zu anderen Staaten hat das chinesische Regime mehr Einfluss auf die Verwendung der Mittel und die Banken (die weitgehend staatlich sind) nehmen können. So kam ein größerer Teil des Pakets in der Wirtschaft an.
Die Delegierten waren sich darin einig, dass in China die Zeiten der Planwirtschaft vorbei sind. Dennoch gab es eine lebhafte Debatte über den Charakter Chinas. Mehrere Delegierte, zum Beispiel aus Hongkong und Schweden, betonten, dass es bei China ihrer Ansicht nach klar um einen Kapitalismus mit „chinesischen Eigenschaften“, wie Per-Ake Westerlund es formulierte, handelt. 90 Prozent aller Millionäre (es gibt allein 64 Dollar-Milliardäre) sind Mitglieder der Kommunistischen Partei.
Demgegenüber argumentierten eine Reihe von TeilnehmerInnen, dass gerade die Wirkung des Konjunkturpaketes – ermöglicht durch die besondere Rolle des Staatssektors – Unterschiede zwischen China und den normalen kapitalistischen Staaten aufzeigen würde. Lynn Walsh vom Internationalen Sekretariat meinte, die Kapitalistenklasse ist dabei, sich zu entwickeln, hat aber noch keine vollständige Kontrolle über das Regime. Peter Taaffe vom IS sagte, dass es gilt, die Besonderheiten und die Komplexität Chinas zu erfassen, die Unterschiede zu anderen kapitalistischen Ländern zu erkennen und China als „einzigartige Form von Staatskapitalismus“ bezeichnet werden könnte (wobei die Betonung auf „einzigartig“ liegen sollte).
Der Kongress verständigte sich darauf, diese Diskussion zeitnah zu vertiefen und auch in schriftlicher Form fortzusetzen.
Krisengefahren
Konsens bestand in der Kommission darüber, dass die Region nicht von der tiefen Krise des Weltkapitalismus verschont bleiben wird. Auch Asien kann die Nachfrage-Probleme nicht lösen. So verwies Jagadish Chandra aus Indien darauf, dass in diesem Land 77 Prozent der Bevölkerung von einem halben Dollar am Tag leben müssen. Senan aus dem Internationalen Büro, der die CWI-Mitglieder in Indien kürzlich besuchte, hob darauf ab, dass die von den Bürgerlichen global vielbeschworene „Mittelklasse“ proportional zur Bevölkerung sogar kleiner als in Pakistan oder Sri Lanka ist.
Robin Clapp, Delegierter der Socialist Party England und Wales, zeigte auf, dass sich die Output-Lücke, also die Differenz zwischen dem, was produziert werden kann und tatsächlich hergestellt wird, sich in Japan in den letzten zehn Jahren verdreifacht hat. Japan ist immerhin weiter die drittgrößte Ökonomie international und von Bedeutung für Asien.
Neben den Perspektiven für die Weltwirtschaft bleibt die entscheidende Frage für die wirtschaftlichen Aussichten Asiens natürlich die Zukunft Chinas. Und hier gibt es starke Anzeichen für eine Verlangsamung des Wachstums. Gleichzeitig ist die Immobilienblase ist in China noch nicht geplatzt. Sie ist proportional größer als die US-Immobilienblase 2008. Fakt ist außerdem, dass die chinesische Wirtschaft einen schwachen Binnenmarkt hat (der Anteil der Löhne am Sozialprodukt verringerte sich in den vergangenen 25 Jahren sogar von 55 auf 35 Prozent) und stark von der Nachfrage im Ausland abhängig ist. Die Hälfte der chinesischen Produkte konzentriert sich auf den Outward Processing Trade (OPT), also auf von ausländischen Unternehmen gelieferte halbfertig produzierte Vorprodukte.
Massenbewegungen in Asien
Eine Ermutigung für Proteste stellten die erfolgreichen Kämpfe im Frühsommer bei Foxconn, Honda und anderen Unternehmen in China dar. Es ist gut möglich, dass das Regime durch die Zunahme von Arbeitskämpfen schon bald in seinen Grundfesten erschüttert wird.
Zahlenmäßig stellte der Generalstreik in Indien am 7. September mit 100 Millionen TeilnehmerInnen alle anderen Kämpfe 2010 in den Schatten. Jagadish Chandra führte aus, wie die Ungleichheit in Indien zunimmt. Die Zahl der Dollar-Milliardäre ist von 52 auf 69 gestiegen. Einer der reichsten von ihnen rief erst vor kurzem massive Proteste hervor, als er in der Nähe eines Slums seine Villa bauen ließ.
Clare Doyle wies in ihrer Einleitung auch auf die Massenproteste in Birma und die Ereignisse in Nepal hin. Die Massenbewegung in Thailand bedeutete mit der Besetzung der Bangkoker Innenstadt eine Form von revolutionärem Bürgerkrieg.
Demokratische Rechte und nationale Frage
In mehreren asiatischen Ländern spielt der Kampf für demokratische Rechte eine wichtige Rolle. Siritunga Jayasuriya aus Sri Lanka berichtete, dass sich die srilankanische Regierung auf dem Weg zu einer parlamentarischen Diktatur befindet. In Hongkong nehmen Mitglieder des CWI an der Bewegung für das allgemeine und gleiche Wahlrecht teil, was neben der Erhöhung des Mindestlohns aktuell mit das wichtigste politische Thema ist. In Kaschmir fordern Mitglieder des CWI, neben dem Abzug der indischen (beziehungsweise pakistanischen) Truppen, eine revolutionäre verfassungsgebende Versammlung. Jagadish Chandra machte den Vorschlag, eine gemeinsame Stellungnahme der CWI-Sektionen der Region zu Kaschmir zu verfassen. Die nationale Frage prägt auch in Taiwan das Bewusstsein, wo das CWI vor dem Hintergrund von relativem wirtschaftlichen Wachstum in jüngster Zeit Fortschritte erzielen konnte.
CWI in der Region
In mehreren Beiträgen wurde auch auf den Dokumententwurf sowie Änderungsanträge eingegangen. Vor allem aber wurde die Diskussion im Geist geführt, dass der Marxismus eine Anleitung zum Handeln sein muss und sich neue Möglichkeiten für das CWI in Asien eröffnen. Erinnert wurde an die herausragende Rolle der GenossInnen in Pakistan, die trotz der Flutkatstrophe ihre Arbeit fortsetzten (und für mehr als tausend Familien von ArbeiterInnen und Gewerkschaftsaktiven reale Unterstützung organisieren konnten), gerade eine erfolgreiche Konferenz von 130 TeilnehmerInnen auf die Beine stellten und eine Gewerkschaftsföderation von einer halben Million Mitgliedern mitanführen. Begeisterung lösten aber auch die Fortschritte in Indien (wo wir in weiteren Teilen des Landes Fuß fassen konnten), Malaysia, Hongkong oder Taiwan aus. Alle Diskussionsteilnehmer betonten, dass dies einen noch intensiveren Austausch umso dringender macht.