Fr 01.03.2002
Eduardo Duhalde - so heißt der „aktuelle“ argentinische Präsident. Zumindest während dieser Artikel verfasst wird. Ob er noch so heißt, wenn Sie den Artikel lesen, ist nicht sicher. Fünf Präsidenten gaben sich innerhalb weniger Tage nacheinander die Türklinke in die Hand. Sie wurden von einem Generalstreik und andauernden Massendemonstrationen aus dem Amt gejagt. Die zweitgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas wird von einer tiefen Wirtschaftskrise erschüttert, die weitreichende - auch globale - Konsequenzen hat.
Der Sturz des ehemaligen neoliberalen Musterstaates Argentinien ist tief. Gestern noch Wirtschaftsmodell, wird das Land heute von IWF und Weltbank für seinen Kurs gerügt.
Rezession mit allen Konsequenzen
Seit 1998 befindet sich Argentinien in der Rezession. Auslöser war die Asienkrise, die zu einer Kapitalflucht in die Kernländer des Kapitalismus, die sogenannten „sicheren Häfen“ (vor allem die USA), führte. Vier Jahre Rezession zeigen verheerende Folgen: 14 Millionen ArgentinierInnen leben in Armut - das entspricht fast 40% der gesamten Bevölkerung, ein Drittel davon in absoluter Armut. 60% der vier Millionen Menschen, die 2001 im Großraum Buenos Aires unterhalb der Armutsgrenze lebten, gehörten einmal zur Mittelschicht. 18 % der ArgentinierInnen sind arbeitslos, ein großer Teil davon ohne soziale Absicherung. Weitere 15-25 % sind unterbeschäftigt, also vor allem unterbezahlt. Anfang der 90er Jahre nahm Argentinien Platz 3 auf der Rangliste der boomenden Länder nach China und Thailand ein. Was war seither geschehen? War es nur eine verfehlte Wirtschaftspolitik von Menem oder De la Rua?
Dont`t cry for me argentina!?
Der jetzige Präsident Duhalde ist ein „Peronist“, also Mitglied der PJ (Partido Justicalista), der Peronistischen Partei. Ihre Ursprünge liegen in General Perons Populismus in den 40er und 50er Jahren. Diese Phase des „Peronismus“ wirkt bis heute nach - wie die Erinnerung an ein „goldenes Zeitalter“ (siehe Kasten). Argentinien ist keineswegs „von Natur aus“ ein armes Land. Am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg profitierte der Rinder-Exporteur Argentinien vom Nahrungsmittelengpaß in Europa und stieg so 1943 zum neuntreichsten Land der Welt auf. Ende der 50er änderte sich die wirtschaftliche Situation allerdings, Angriffe auf die ArbeiterInnen nahmen zu, wie auch der Widerstand dagegen. Von 1976-83 reagierte das Militär und setzte, ebenso wie auch Pinochet in Chile, auf den Monetarismus (heute sagen wir dazu Neoliberalismus) - eine radikale marktwirtschaftliche Politik. Der IWF hatte kein Problem mit der Militärdiktatur, die 20-30.000 Menschen das Leben kostete und gewährte Kredite. Es existieren kaum Aufzeichnungen darüber, was mit dem Geld geschah (das wohl größtenteils in den Taschen der Militärs landete), aber die Auslandsverschuldung stieg in diesen sieben Jahren von acht auf 43 Milliarden Dollar. Argentinien war hart von der Weltwirtschaftskrise Ende der 70er/ Anfang der 80er betroffen. Der Versuch der Militärs, mittels des Krieges gegen Britannien um die Malvinen/Falklandinseln 1982 von den sozialen Problemen abzulenken, schlug fehl. Seit 1983 sind abwechselnd Regierungen der UCR (Union Civica Radical, zweite bürgerliche Partei) und der PJ an der Macht.
Menem und die „Convertibilidad“
Die Inflation bzw. Hyperinflation war in den 80er Jahren zu einem zentralen Problem geworden. Die Wirtschaftspolitik des peronistischen Präsidenten Carlos Menem war von Privatisierungen und der „Convertibilidad“ geprägt. Diese fixe Bindung des argentinischen Pesos an den US-Dollar im Verhältnis 1:1 war Menems Prestigeobjekt. Gleichzeitig wurden 50 der begehrtesten Staatsbetriebe zu Spottpreisen verkauft. Schätzungen gehen davon aus, dass dem Staat rund 60 Milliarden Dollar an Einnahmen entgingen, weil die Staatsbetriebe weit unter ihrem Wert verschleudert wurden. Auf Druck von IWF und Weltbank wurden noch hundertausende Beschäftigte des öffentlichen Dienstes entlassen und die Wirtschaft liberalisiert. Unter Menem wurde Argentinien zu einem riesigen Supermarkt für ausländisches Kapital. Multinationale Unternehmen kauften sich ein und profitierten enorm. Auch die Korruption blühte. Auch wenn in dieser Zeit die Mittelschicht wuchs und die Wirtschaft kurzfristig boomte, ging der „Aufschwung“ doch an großen Teilen der Bevölkerung vorbei und war wenig nachhaltig. Nach dem Ende des Konjunkturfeuerwerks, erfolgte der tiefe Fall. In den letzten fünf Jahren ist die Kaufkraft um fast 50 % gesunken. Gleichzeitig erschütterten in der zweiten Hälfte der 90er Jahre mehrere Wellen von Streiks und Demonstrationen das Land, die sich auch gegen Menems Politik und Korruption richteten.
De la Rua und das Nulldefizit
Am 24.10.1999 gewann mit De la Rua wieder ein Nicht-Peronist die Wahl. Seine Amtszeit stand im Zeichen der Rezession und war geprägt vom Ziel, ein Nulldefizit zu erreichen (das im Juni 2001 sogar gesetzlich beschlossen wurde) und dem Versuch, ein neues Arbeitsgesetz zu verabschieden, dass das Ziel hatte, die Gewerkschaften zurückzudrängen und die ArbeiterInnen zunehmend zu entrechten. Die Amtszeit De la Rua’s sah acht Generalstreiks, die 2000 sogar zum Bruch der Koalition zwischen UCR und dem Parteienbündnis Frepaso führte. Der Generalstreik vom 13. Dezember 2001 war nur der vorläufige Höhepunkt in einer Serie von Arbeitskämpfen und Demonstrationen. Er drückt das neue Selbstbewußtsein der argentinischen ArbeiterInnenklasse aus. Dem Generalstreik gegen das Arbeitsgesetz im Mai 2000 folgten einer im Juni gegen Lohnsenkungen im öffentlichen Dienst. Im November desselben Jahres beteiligten sich 6,5 Millionen ArbeiterInnen an einem neuerlichen Generalstreik, 100.000-200.000 Menschen kämpften als Streikposten in dieser Auseinandersetzung. Eine Zielscheibe der Streiks war Finanzminister Cavallo. Cavallo war schon zu Zeiten der Militärdiktatur Chef der Zentralbank gewesen. Er hatte unter Menem als Wirtschaftsminister die Dollaranbindung eingeführt und war unter De la Rua wegen seines rigorosen Sparprogrammes verhaßt. Auch unter Druck des IWF sah das Budget für 2002 Kürzungen bei Pensionen und den Gehältern der öffentlich Bediensteten um -13% vor, 300.000 Stellen sollten im öffentlichen Dienst abgebaut werden. Als Cavallo dann noch die Bankguthaben einfrieren lies, war das Maß voll. ArbeiterInnen, Arbeitslose, PensionistInnen, die auf ihre Ersparnisse angewiesen sind, durften nur mehr maximal 500, später 1000 Pesos pro Monat von ihrem Konto abheben.
„Cacerolazos“ - das Volk ist auf der Strasse
Der Generalstreik am 13.12.2001 führte zum Rücktritt Cavallos und war Auslöser der Massenproteste vom 19/20. Dezember. Arbeitslose erstürmten Supermärkte und Geschäfte. Am 19. Dezember versuchte De la Rua in die Offensive zu gehen und verhängte den Ausnahmezustand. Der Einschüchterungsversuch, wirkte tatsächlich wie ein Signal zum Aufstand: Binnen kürzester Zeit kam es zu den „Cacerolazos“, jenen Massendemonstrationen, wo ArbeiterInnen, Arbeitslose, PensionistInnen und v.a. die verarmten „MittelständlerInnen“ und kleine Selbständige mit Besteck oder Kochlöffeln auf Töpfe schlagen. Die Polizei ging teilweise mit extremer Härte vor, mindestens 26 Menschen wurden getötet. Aber die Proteste gingen weiter und schon am 21. Dezember mußte De la Rua zurücktreten. Auf seinen Vizepräsidenten Ramon Puerta folgte schon am 23. Dezember der Peronist Rodriguez Saa der aber bereits am 29. Dezember wieder zurücktreten mußte. Dann wieder Ramon Puerta, später Eduardo Camon und schließlich am 1.1.2002 Eduardo Duhalde.
Duhalde als Retter?
Duhalde übernimmt die Regierung in einer extrem schwierigen Situation. Optimisten hoffen, dass die argentinische Wirtschaft im Jahr 2002 nur um fünf Prozent schrumpft, aber viele Ökonomen rechnen eher mit minus 10-15%. Die soziale Situation hat sich keineswegs entspannt. Die Entkoppelung vom Dollar ist auch keine Lösung, sondern schafft ihrerseits neue Probleme, weil ein Großteil der Schulden in Dollar sind, was diese nun in die Höhe treibt. Der Ankündigung Duhaldes, für Kleinsparer den alten Wechselkurs von 1:1 aufrechtzuerhalten geht auf Kosten der Banken. Ein Zusammenbruch des Bankensektors mit weitreichenden Folgen auf die Wirtschaft wäre die wahrscheinliche Konsequenz. Zu einem in dieser Situation notwendigen Bruch mit dem Kapitalismus - etwa durch Rücknahme der Privatisierungen, Verstaatlichung der Banken (...) - ist der Präsident allerdings sicher nicht bereit. Duhalde ist Peronist und versucht Anleihen am Populismus der 40er und 50er Jahre zu nehmen. „Für viele Jahre hat man uns in Argentinien glauben gemacht, dass es in dieser neuen Weltordnung nur ein mögliches ökonomisches Modell gebe. Das ist eine völlige Unwahrheit.“ gab sich Duhalde in seiner Antrittsrede kämpferisch. Doch die Umstände sind anders als zu Zeiten Perons. Die Wirtschaft hat im Rahmen des Kapitalismus keine Spielräume für Zugeständnisse an die ArbeiterInnen und die Armen. Den Kapitalismus selbst stellt Duhalde, der schon unter Menem Teil dessen neoliberaler Regierung war, nicht in Frage. Gleichzeitig sitzt er auf einem Vulkan, der wohl kaum bis zum offiziellen Ende seiner Amtsperiode 2003 ruhig bleiben wird.
Warum hat sich nicht mehr geändert
Die Ereignisse zum Jahreswechsel 2001/2002 haben Argentinien verändert. Die herrschende Klasse war gespalten, uneinig über das wie weiter und unfähig, zu agieren. Das Vertrauen in den Kapitalismus und seine Eliten ist tief erschüttert. Bei den Wahlen am 14.10.2001 gingen trotz Wahlpflicht 30 % gar nicht erst zur Wahl, weitere 20% stimmten weiß oder ungültig. Die Mittelschichten sind zu großen Teilen verarmt und Teil der Bewegung. Sie haben die Kampfformen der ArbeiterInnenklasse aufgegriffen und sich zu eigen gemacht. Die ArbeiterInnenklasse befindet sich in einer unerträglichen Situation und hat in einer Reihe von Kämpfen gezeigt, dass sie nicht mehr bereit ist, diese hinzunehmen. Die Massen waren und sind auf der Straße nicht einmal, sondern immer und immer wieder.
All das sind wichtige Elemente einer revolutionären Situation. Trotzdem hat Argentinien einen bürgerlichen Präsidenten, trotzdem hat der Aufstand den Kapitalismus selbst nicht offensiv in Frage und eine sozialistische Gesellschaftsveränderung unmittelbar auf die Tagesordnung gestellt. Auch wenn der Kapitalismus offensichtlich keine Perspektive anzubieten hat, fehlt ein entscheidendes Element für seinen Sturz: Eine revolutionäre Partei mit Massenunterstützung, die den Protesten eine klare Richtung und ein klares Ziel geben kann.
Das Erbe des Peronismus als Hinderniss in der ArbeiterInnenbewegung
Das Fehlen großer, eigenständiger Organisationen der ArbeiterInnenbewegung ist ein zentrales Problem in Argentinien, dass seine Ursachen in der speziellen Natur des Peronismus und der Ermordung zehntausender RevolutionärInnen während der Militärditatur hat. Der größte Gewerkschaftsdachverband CGT ist traditionell eng mit der Peronistischen Partei PJ verbunden. Erst in den letzten Jahren haben sich gewerkschaftliche Strukturen jenseits der CGT entwickelt, wie die CTA und die CGT-Dissidente/rebelde, aber auch eigenständige Strukturen der Basis, wie die Piqueteros (piquete = Streikposten oder Straßenbarrikade). Beim letzten Generalstreik und der Bewegung nachher spielten diese Gewerkschaften allerdings keine Rolle. Die wachsende Ablehnung des Establishments drückt sich bei den Wahlen im letzten Oktober auch im guten Abschneiden von verschiedenen, weit links stehenden Listen aus mehreren Organisationen aus, die insgesamt über eine Million Stimmen erhielten, in Buenos Aires sogar über 20 %.
In der momentanen Bewegung werden alle diese Organisationen von den Massen getestet - ihre Forderungen, ihr Auftreten, ihre Programme.
Revolution ist möglich
Die ArbeiterInnenklasse muss ihre eigene, unabhängige Alternative aufbauen. Eine ArbeiterInnenmassenpartei mit sozialistischem Programm ist ebenso notwendig, wie der Aufbau regionaler Komitees von Delegierten aus den Betrieben, von Arbeitslosen, SchülerInnen und Studierenden sowie den Menschen die dort leben. Diese Komitees könnten die Verteilung der Lebensmittel ebenso organisieren, wie die Korruption der bisher herrschenden Untersuchen ans Licht bringen. In einzelnen Provinzen sind solche Komitees aus den Kämpfen der letzten Jahre immer wieder entstanden. Entscheidend wäre, diese Komitees nicht nur auf lokale Aufgaben zu beschränken, sondern regional und national zu verbinden und so eine alternative Regierung der ArbeiterInnen und anderer vom Kapitalismus ausgebeuteter Menschen aufbauen. Eine solche Regierung hätte die Aufgabe sofort einen Aktionsplan mit öffentlichen Arbeiten zu entwickeln, um Arbeit für die Arbeitslosen bereitzustellen und gleichzeitig die durch Sparmaßnahmen und Privatisierungen darniederliegende Infrastruktur (Häuser, Schulen, Krankenhäuser und am Transport- system) wieder aufzubauen. Nur wenn die Kreditraten und die Schulden kleiner und mittlerer Schuldner bei den Banken gestrichen werden, kann die Spirale der Verelendung gestoppt werden. Ein Mindestlohn und die Verkürzung der Arbeitszeit auf 35 Stunden/Woche wären wirksame Maßnahmen gegen Armut und Aus- beutung. Der Widerstand der Banken und Konzerne muß dazu gebrochen werden: Der Kapitalismus muß durch die Einführung einer demokratischen sozialistischen Planung der Produktion auf der Basis der Vergesellschaftung der Banken und der wichtigsten Unternehmen unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der ArbeiterInnen beseitigt werden.
Es gibt auf unterschiedlicher Ebene neue Organisationsformen: ca. 50 Volksversammlungen auf Bezirksebene in Buenos Aires, die sich wöchentlich treffen und Delegierte wählen. Diese Komitee sind in einem 2x pro Woche tagenden Komitee verbunden. Viele Arbeitslose sind in der CTA und bei den Piqueteros organisiert, die am 16/17. März eine Demonstration und eine bundesweite Versammlung abhalten werden. In der „Volksuniversität“ diskutieren rund 3000 „StudentInnen“ v.a. politische Fragen. Die Cacerolazos finden nach wie vor jeden Freitag statt und darüberhinaus sind einige Betriebe besetzt. Zentral wichtig ist der Aufbau der verschiedenen Komitees, v.a. auch in Betrieben, ihre Vernetzung und eine wirklichen politischen Gegenmacht.
Eine solche Regierung könnte diese Politik als Vorbild nach ganz Lateinamerika und in den Rest der Welt tragen. Argentinien ist alles andere als ruhig und friedlich. Wenn die sozialistischen Kräfte nicht die Oberhand gewinnen, ist nicht ausgeschlossen, dass rechts-populistische Kräfte und/oder das Militär wieder versuchen, die Macht an sich zu reißen. Sozialismus ist für Argentinien keine ferne Utopie, sondern eine reale, weil notwendige Perspektive.