Di 13.05.2014
Die Entwicklungen in der Ukraine bringen Krieg und Bürgerkrieg wieder nach Europa und zeigen, dass Frieden und Kapitalismus nicht miteinander vereinbar sind. Die Entwicklungen stellen auch eine Herausforderung für linke Organisationen, DIE LINKE, die Friedens- und Arbeiterbewegung dar.
Die Antworten der Linken (Anm. gemeint ist die deutsche Partei DIE LINKE) sind qualitativ besser als alles, was von den etablierten Politikern und Medien kam und kommt. Dennoch ergaben sich bereits eine Reihe von Streitfragen, die in diesem Artikel diskutiert und beantwortet werden. Dazu zählen die Einschätzung der Bewegung auf dem Maidan, der Umgang mit der Regierung in Kiew, die nationale Frage auf der Krim und in der Ostukraine sowie die Haltung zum russischen Imperialismus.
1. Die „Euro-Maidan“-Bewegung
Es hat wohl in den letzten Jahrzehnten keine vergleichbare Bewegung gegeben: eine Massenbewegung, die entschlossen gegen eine rechte Regierung kämpft, in der aber faschistische Kräfte bedeutenden Einfluss haben. Bürgerliche Kräfte bis hin zu den Grünen haben wochenlang die Bewegung über den grünen Klee gelobt und die Rolle der Faschisten heruntergespielt. Im Unterschied dazu haben VertreterInnen der LINKEN schon seit Anfang Dezember auf den faschistischen Einfluss hingewiesen. Symptomatisch war eine Bundestagsdebatte vom 31. Januar, in der Wolfgang Gehrke sagte: „Ich benutze nicht für alle Demonstranten den Begriff Freiheitskämpfer. Ein Teil der Demonstranten ist rechtsradikales, nationalistisches Pack, mit dem ich mich nicht verbünde, sondern gegen das ich dagegenhalte.“ Daraufhin machte Renate Künast von den Grünen einen Zwischenruf: „Pack sagt man nicht, Herr Gehrcke!“
Zugleich haben VertreterInnen der Linken immer wieder die berechtigten Anliegen der DemonstrantInnen unterstützt, dabei aber vor Illusionen in die EU und das Assoziierungsabkommen gewarnt. Wiederholt haben LINKEN-Abgeordnete Visa-Freiheit für die Ukraine gefordert. Damit haben sie den Wunsch vieler UkrainerInnen, der eine Triebkraft der Proteste war (obwohl in Wirklichkeit Assoziierung mit der EU keineswegs gleichbedeutend mit Freizügigkeit ist), unterstützt.
Darüber hinaus haben VertreterInnen der LINKEN von Anfang an die geopolitischen Fragen aufgegriffen, die durch das EU-Assoziierungsabkommen aufkamen (die wir weiter unten diskutieren werden). Die Hauptschwäche war, dass sich vor allem die Bundestagsfraktion zu Wort gemeldet hat und darüber hinaus die Partei wenig Stellung bezogen hat, und dass diese Reden, Pressemitteilungen etc. von Abgeordneten vor allem Forderungen an die Regierung gerichtet haben.
Eine Folge war, dass eine tiefergehende Analyse der Maidan-Bewegung nicht stattfand. Darüber mit der Bundesregierung zu diskutieren, hätte auch wenig Sinn gemacht. Solche Diskussionen gab es natürlich in der ukrainischen (und überhaupt osteuropäischen) Linken. Ohne die entsprechenden Sprachkenntnisse ist der Verfasser dieser Zeilen auf Übersetzungen angewiesen. Einzelne Texte finden sich z.B. in einem Dossier auf der Website der Rosa-Luxemburg-Stiftung oder der „LeftEast“-Website. Das Bild, das sich aus diesen kontroversen Beiträgen ergibt, ist: es gab eine Massenbewegung, deren Auslöser die Nicht-Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens war, für die aber schnell die allgemeine Ablehnung der Janukowitsch-Regierung im Mittelpunkt stand. Brutale Polizeiübergriffe auf DemonstrantInnen und der Versuch, das Demonstrationsrecht und andere demokratische Rechte drastisch einzuschänken, führten zum massiven Anschwellen der Bewegung. Auf dem Maidan entstand eine Infrastruktur, die es AktivistInnen ermöglichte, bei Eiseskälte wochenlang durchzuhalten. In verschiedenen Berichten werden die positiven Erfahrungen der Selbstorganisation auf dem Maidan geschildert.
Die Faschisten, insbesondere der Rechte Sektor (ein Zusammenschluss verschiedener faschistischer Gruppen), haben sich auf den „Selbstschutz“ des Maidan konzentriert. Dabei haben sie zum Teil die zynische Taktik verfolgt, die Polizei zu provozieren, die dann (wie das die Polizei international so an sich hat) auch gegen friedliche DemonstrantInnen brutal vorging. Damit erreichten sie erstens, dass die Bewegung aus Empörung über die Polizeibrutalität stark anwuchs. Zweitens führte es dazu, dass der faschistisch dominierte „Selbstschutz“ des Maidan von großen Teilen der Bewegung als Notwendigkeit gesehen wurde.
Ein Problem auf dem Maidan war, dass die Faschisten ihre Rolle im „Selbstschutz“ und ihre Autorität aus den Straßenkämpfen mit der Polizei nutzten, um linke Kräfte aus der Bewegung gewaltsam hinauszudrängen. Schon im Dezember gab es Berichte über tätliche Angriffe auf Linke, Feministinnen, GewerkschafterInnen. Das warf für die ukrainische Linke die Frage auf, wie sie damit umgehen sollte. Teile zogen aus negativen Erfahrungen den Schluss, sich vom Maidan abzugrenzen. Andere (wie die „Linke Opposition“) versuchten, trotzdem zu intervenieren.
Es ist richtig, wenn SozialistInnen nicht auf „chemisch reine“ linke Bewegungen warten und allem, was widersprüchlicher ist, den Rücken zudrehen. Bewegungen sind wichtig, weil Menschen aus Erfahrungen lernen und in Massenbewegungen viel schneller lernen als in ruhigen Zeiten.
Aber: dass Menschen lernen, heißt keineswegs, dass sie das Richtige lernen. Deshalb ist es wichtig, dass SozialistInnen nicht nur an Bewegungen teilnehmen, sondern auch ihre Ideen hineintragen. Und unter diesen Umständen stellte es eben eine andere Qualität dar, wenn auf dem Maidan Linke oft mit Gewalt daran gehindert wurden, ihre Ideen zu verbreiten. Wenn faschistische Ideen von der Tribüne verbreitet werden und linke Ideen oft nur konspirativ verbreitet werden können, ist das ein ungleicher Kampf. Das wird auch nicht dadurch ausgeglichen, dass die linken Ideen im wohlverstandenen Interesse der TeilnehmerInnen sind, die faschistischen ihm entgegengesetzt sind.
Falsch war es sicher, die Rolle der Faschisten zu akzeptieren, wie es verschiedene nichtfaschistische bürgerliche Kräfte auf dem Maidan machten. Ob es taktisch richtig war, auf dem Maidan den ungleichen Kampf aufzunehmen oder anderswo politische Arbeit zu machen (die Ukraine ist ja größer als der Maidan), kann man von außen mit beschränkten Informationen nicht sagen. Die Betätigungsmöglichkeiten schwankten. Wenn Massen auf dem Maidan waren, konnten die Faschisten nicht so gegen die Linken vorgehen wie wenn die Bewegung in einem Wellental war. Die beteiligten Gruppen wussten ja auch nicht im Voraus, dass die Bewegung im Februar mit dem Sturz von Janukowitsch enden würde. Der Kampf hätte sich länger hinziehen, mit der Ermattung der Bewegung oder einem faulen Kompromiss der bürgerlichen Oppositionsparteien enden können.
Aber diese taktische Frage hätte der strategischen untergeordnet sein müssen: eine linke und unabhängige Arbeiterbewegung aufzubauen, die ArbeiterInnen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit organisiert. Die Erfahrung der Ukraine zeigt (ebenso wie die Entwicklungen in Ländern wie Tunesien oder Ägypten seit 2011), dass Massenbewegungen nicht alles sind und die Bedeutung von Organisierung zentral ist. Aber manche Organisationen unterschätzen das bedenklich und haben daher die Maidanbewegung viel zu rosig dargestellt. Besonders gilt das für das Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale (VSVI), dessen Sektionen in verschiedenen Ländern schon seit Jahrzehnten dazu neigen, sich als Service für Bewegungen anzubieten, statt in Bewegungen entschlossen für ihre Ideen zu kämpfen. Am 25. Februar – also bereits nach dem Sturz von Janukowitsch – veröffentlichte ihr „Internationales Komitee“ eine Erklärung, in der es hieß: „Die Bewegung wies von Anfang an eine Kombination von revolutionären (demokratischen, antihierarchischen, selbst organisierten) und reaktionären Zügen auf; welche die Oberhand gewinnt, war und ist eine Frage von politischen und sozialen Kämpfen.“ Erstens bedeutet „demokratisch, antihierarchisch, selbst organisiert“ bei weitem noch nicht revolutionär, während am anderen Pol nicht nur irgendwelche Reaktionäre sondern auch Faschisten standen. Die Auseinandersetzung fand also nicht zwischen Revolution und Reaktion sondern eher zwischen (bestenfalls) fortschrittlichen Kräften und offenen faschistischen statt. Zweitens war zu diesem Zeitpunkt die Frage, welche Züge in dieser Bewegung die Oberhand gewonnen hatten, nun wirklich entschieden.
Eine zu positive Haltung gegenüber der Maidan-Bewegung zeigte auch die Internationale Arbeiterliga (Vierte Internationale) (Liga Internacional de los Trabajadores (Quarta Internacional), LIT-CI ), eine vor allem in Lateinamerika starke trotzkistische Organisation. Sie forderte z.B. in einem Artikel im Februar eine „Haltung der unzweideutigen Unterstützung für die Demonstrationen“, auch wenn sie gleichzeitig forderte, innerhalb der Bewegung gegen die bürgerliche Führung und die Neonazis zu kämpfen. In diesem Fall dürfte der Grund für die Schieflage aber nicht eine Unterschätzung der Bedeutung der Organisation sein, sondern eine Überreaktion auf die unkritische Haltung gegenüber Janukowitsch, die viele castristische und chavistische Organisationen in Lateinamerika an den Tag legten.
Solche Positionen gab es natürlich nicht nur in Lateinamerika. Typisch dafür in Deutschland war die DKP. Sie hatte natürlich völlig Recht, wenn sie die Heuchelei bürgerlicher Medien und Politiker aufspießte, die in Kiew Gewalt von DemonstrantInnen in Ordnung fanden, gegen die sie in Deutschland die härtetste Repression gefordert hätten. Ebenso richtig war der Hinweis, dass die repressiven Gesetze, die Janukowitsch einführte und dann wieder zurücknehmen musste, in weiten Teilen in Ländern wie Deutschland bestehen (z.B. Vermummungsverbot). Aber in Ländern wie Deutschland haben Linke die Einführung solcher Gesetze nach Kräften bekämpft, während die Kommunistische Partei der Ukraine, die Schwesterpartei der DKP, für diese Gesetze stimmte. Und auch auf der Website der DKP selber konnte ich außer einer Nebenbemerkung in einem Artikel (Hans Berger: „Deutsche Ukraine-Politik: Vorwärts mit Neonazis“ vom 26. 1.) nicht die leiseste Kritik finden. (Berger zitiert Konrad Schuller in der FAZ, dass sich die Ukraine mit den Gesetzen zu einem „autoritären Staat“ entwickle und schreibt: „D´accord, aber was sagt uns das denn über den deutschen Staat“.) Ansonsten existierten für die DKP bei Janukowitschs Zickzackpolitik nur die Zicks, bei denen die Polizei angesichts des faschistischen Terrors recht passiv blieb (die es gab), aber nicht die Zacks, bei denen die Polizei auf DemonstrantInnen losging, Festgenommene gefoltert und gedemütigt wurden (die es eben auch gab und die der Maidanbewegung große Schübe von AnhängerInnen zutrieben).
Aber darüber hinaus war die Frage der Gewalt auf dem Maidan lehrreich. Abgeordnete der LINKEN haben in verschiedenen Stellungnahmen zur Gewaltfreiheit aufgerufen. Es ist richtig, die Polizeigewalt und die speziellen provokatorischen Taktiken der Faschisten (wie sie in anderen Ländern von Polizeiprovokateuren angewandt werden), scharf zu verurteilen. Aber der Umstand, dass die Faschisten durch ihre Rolle im Maiden-“Selbstschutz“ Ansehen gewinnen konnten, zeigt, dass die Selbstverteidigung gegen Angriffe der Polizei in bestimmten Situationen auch von Mehrheiten in einer Massenbewegung befürwortet werden kann. Das Problem auf dem Maidan war, dass dieser Selbstschutz von Faschisten organisiert, nicht von der Gesamtbewegung demokratisch kontrolliert und mit Provokationen (die dann die Gesamtbewegung in Geisehaft nahmen) verbunden war.
Ein weiteres Problem war die soziale Zusammensetzung der Bewegung: sie war dominiert von kleinbürgerlichen Kräften, kleinen Selbständigen etc. Viele von ihnen leben in prekären Verhältnissen, sind eher Scheinselbständige zu nennen, materiell schlechter gestellt als viele IndustriearbeiterInnen der Ostukraine. Es handelte sich bei den meisten von ihnen sicher nicht um unsere Klassenfeinde. Aber das weitgehende Fehlen der IndustriearbeiterInnen aus der Ostukraine führte dazu, dass die typischen Kampfmethoden der Arbeiterklasse – Streiks, Betriebsbesetzungen – keine Rolle spielten. Es gab zwar am 13. 2. einen „gesamtukrainischen Streik“, aber nach einem Bericht handelte es sich bei diesem „Streik“ weitgehend um von Arbeitgebern angeordnete Mittagspausen-Aktionen. Dass dieses Kampfmittel, im Unterschied z.B. zu den Bewegungen in Südeuropa, praktisch fehlte, ließ die physische Konfrontation mit der Polizei als einzige Steigerung gegenüber Demonstrationen und Besetzungen erscheinen.
2. Putsch – Revolution – Konterrevolution?
Es war beeindruckend, dass die Bewegung trotz dieses eingeschränkten Instrumentariums die Regierung stürzte. Staatliche Unterdrückungsorgane verweigerten den Gehorsam. Die Regierung hing zunehmend in der Luft. Trotz starker rechter bis faschistischer Elemente in der Bewegung und ihrer Führung sind solche Entwicklungen immer wieder wichtige Lehren für Linke.
Leider nehmen viele sie nicht zur Kenntnis, indem sie den Sturz von Janukowitsch als Putsch abtun. Die Bezeichnung „Putsch“ ist z.B. die Sprachregelung in der „jungen Welt“, herrscht aber auch bei anderen Linken vor.
Damit wird den Ereignissen ziemlich Gewalt angetan. Wir erinnern uns noch an die Bilder, als der deutsche Außenminister Steinmeier mit seinem französischen und polnischen Mittäter nach Kyiw (Kiew) flogen und einen Kompromiss zwischen der Janukowitsch-Regierung und den Oppositionsparteien aushandelten, nach dem es eine gemeinsame Übergangsregierung gegeben hätte und Janukowitsch bis November im Amt geblieben wäre (wenn auch mit verringerten Befugnissen). Dieser Konpromiss fiel mit Pauken und Trompeten auf dem Maidan durch und als Reaktion wurde Janukowitsch aus dem Amt gejagt. Darauf wurde hinter den Kulissen eine Regierung gebildet aus zwei der drei Oppsitionsparteien (die neoliberale Batkiwschtschyna von Tymoschenko und Jazenjuk und die faschistische Swoboda von Tjahnibok), die dem Kompromiss zugestimmt hatten. Was ist das für ein Putsch, den die Putschisten vergeblich zu verhindern versuchen? Der nur zustande kommt, weil eine Massenbewegung nicht auf die Putschisten hört?
Es ist richtig, dass nach dem Sturz von Janukowitsch nicht die Maidan-Bewegung über die Zusammensetzung der Regierung bestimmen konnte, sondern die zwischen den bisherigen Oppositionsparteien ausgeknobelt wurde. Aber das macht doch nicht einen Putsch aus.
Das ist natürlich kein Grund, in das entgegengesetzte Extrem zu fallen. Wenn Sachar Popowitsch von der ukrainischen „Linken Opposition“ über die Jazenjuk-Regierung schreibt: „Wir akzeptieren, dass diese Regierung legitim ist, denn sie ist hervorgegangen aus einer wirklichen Massenbewegung und hat erklärt, sie fühle sich den Forderungen des Maidan verpflichtet. Deswegen sollten alle Regierungen sie anerkennen“, dann ist das unterirdisch. Und wenn die deutsche SoZ in ihrer April-Ausgabe das unkommentiert wiedergibt, dann ist das schockierend.
Ebenso unangemessen wie von einem Putsch ist es, von Revolution oder Konterrevolution zu sprechen. Vorher gab es eine autoritäre Regierung, die an den Marionettenfäden von Oligarchen hing. Inzwischen haben ein paar Oligarchen die Seite gewechselt und „ihre“ Abgeordneten haben sich umorientiert. Das Ergebnis ist eine neue Regierung, die an den Marionettenfäden von Oligarchen hängt. Dass Faschisten an der Regierung beteiligt sind und Faschisten in den Staatsapparat aufgenommen werden (bis hin zum Generalstaatsanwalt), macht die Lage ernst. Es gibt eine Reihe von Gewalttaten gegen Linke und linke Symbole. Bisheriger trauriger Höhepunkt war das Massaker in Odessa, wo in dem von Faschisten in Brand gesetzten Gewerkschaftshaus Menschen umkamen, in den Tod sprangen oder von Faschisten auf der Straße umgebracht wurden. Angesichts dieser Ereignisse und auch der Medienberichterstattung dazu, braucht es einen Aufschrei und Solidarität mit den Opfern und Angehörigen (auch mit der Kommunistischen Partei, obwohl sie eine skandalöse Politik betrieben hat und selbst der Einschränkung demokratischer Rechte durch Janukowitsch zugestimmt hat). Doch trotz der Stärkung der Faschisten , bedeutet es noch nicht die Errichtung eines faschistischen Staats.
Häufig wurde auch von LINKEN kritisiert, dass eine demokratisch gewählte Regierung gestürzt wurde. Wenn in Griechenland einer der vielen Generalstreiks die Regierung gestürzt und Syriza an die Macht gebracht hätte, hätten Linke darüber unglücklich sein sollen? Im Gegenteil, wenn Syriza nicht durch Wahlen, sondern durch eine Massenbewegung an die Macht käme, bestünde die Chance, dass sie unter dem Druck dieser Massenbewegung radikalere Maßnahmen ergreift als ihre Führung eigentlich will. Wir müssen kritisieren, von wem die Janukowitsch-Regierung ersetzt wurde, aber nicht seinen Sturz als solchen.
VertreterInnen der LINKEN haben erklärt, dass der von Steinmeier & Co ausgehandelte Kompromiss hätte umgesetzt werden sollen. Aber Janukowitsch bis zum November im Amt zu lassen, war nach der Polizeigewalt und den versuchten Gesetzesverschärfungen für große Teile der Bevölkerung inakzeptabel.
LINKEN-Abgeordnete haben sich besonders auf den Punkt der Übereinkunft bezogen, wonach VertreterInnen der West- und Ostukraine in der Regierung vertreten sein sollten. Aber, überspitzt gesagt: „Oligarchen der West- und Ostukraine, vereinigt euch und bildet gemeinsam die Regierung!“ ist keine linke Parole. Es kann ein Vorteil sein, wenn alle ethnischen Gruppen der Herrschenden an der Regierung beteiligt sind, weil es dann leichter zu erkennen ist, dass das Problem nicht die ethnische Zugehörigkeit, sondern die Klassenzugehörigkeit ist. Aber das gilt vor allem dann, wenn es linke Kräfte gibt, die erklären, dass die arbeitende Bevölkerung, die Ausgebeuteten und Unterdrückten sich gemeinsam organisieren müssen, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Deshalb wäre es Aufgabe der deutschen LINKEN, ihre Kontakte in die Ukraine zu nutzen, um für den Aufbau einer starken Linken zu werben.
Aber wäre das nicht eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine? Auch die Frage der Einmischung in innere Angelegenheiten ist eine Klassenfrage. Linke sollten es bekämpfen, wenn sich imperialistische Regierungen in die inneren Angelegenheiten der Ukraine einmischen. (Ebenso wie wir es nach Kräften bekämpfen, dass sich die deutschen Kapitalisten und ihre politischen Vertreter in das Leben der Menschen einmischen.)
Aber wenn die deutsche Arbeiterbewegung die ukrainische mit Rat und Tat unterstützt, dann ist das Internationalismus. (Natürlich würden es MarxistInnen bekämpfen, wenn dieser Rat in „Sozialpartnerschaft“ besteht, aber auch das gilt innerhalb Deutschlands ebenso wie gegenüber der Ukraine.)
3. Die nationale Frage und das Krim-Referendum
Die Frage der Regierungszusammensetzung führt uns zur nationalen Frage in der Ukraine. Linke sind üblicherweise gegen Nationalismus. Das ist gut so. Es führt aber leicht dazu, nationale Fragen in anderen Ländern zu ignorieren. Manche Linke erklären die Nation zum „Konstrukt“, quasi zu einer Idee, die man sich aus dem Kopf schlagen solle. Tatsächlich sind Nationen weder Konstrukte noch Jahrtausende alte Abstammungsgemeinschaften, sondern Produkte der kapitalistischen Entwicklung der letzten Jahrhunderte. Die ukrainische Bewegung der letzten Monate ist ein krasses Beispiel, wie viel Einfluss nationale Ideen erlangen und welche Verwirrung sie stiften können.
SozialistInnen können deshalb die nationale Frage nicht ignorieren, sondern müssen für solche Lösungen der nationalen Frage eintreten, die möglichst wenig Reibung erzeugen und möglichst wenig vom gemeinsamen Kampf der arbeitenden Bevölkerung für die gemeinsamen Interessen ablenken. Das bedeutet das Eintreten gegen nationale Unterdrückung und für demokratische Lösungen bei nationalen Konflikten. Ersteres ist für Linke hoffentlich selbstverständlich. Aber das Eintreten für das demokratische Selbstbestimmungsrecht bis hin zur Lostrennung ist es leider nicht. Dieser Gedanke, den v.a. Lenin in verschiedenen Schriften meisterhaft vertreten hat, ist heute für viele LINKE ein Buch mit sieben Siegeln. Gregor Gysi sagte am 20. 3. im Bundestag, wobei er den „Präzendezfall“ Kosova heranzog: „ich habe keine Zweifel, dass die Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner des Kosovo die Abtrennung wollten. Wir können ebenfalls nicht leugnen, dass eine große Mehrheit der Bevölkerung auf der Krim auch die Abtrennung will. Nur ist das für mich – das will ich auch gleich sagen – kein Grund.“ Er fuhr fort: „Ein bedrängter, unterdrückter Bevölkerungsteil – auch ein Bevölkerungsteil, gegen den Gewalt angewendet wird -, muss das Recht haben, sein Land zu verlassen – aber nicht mit Territorium; das geht nur mit Zustimmung des Staates, zu dem das Territorium gehört.“ Mit anderen Worten, eine unterdrückte Minderheit darf kollektiv auswandern, sich selbst „ethnisch säubern“. Aber eine Lostrennung des betreffenden Territoriums ist nur mit der Zustimmmung des Rests des Landes möglich? Lenin hat seinerzeit das Recht auf Lostrennung mit dem Recht auf Ehescheidung verglichen. Es wäre gut, wenn heutige Linke über diesen Vergleich wieder nachdenken würden. Hoffentlich wird kein Linker dafür eintreten, dass z.B. eine Frau, die von ihrem Ehemann körperlich oder seelisch misshandelt wird, sich nur mit dessen Einwilligung von ihm scheiden lassen darf. Aber bei nationaler Unterdrückung scheint eine derartige Zumutung akzeptabel?
Ebenso wie Gysi erklärt der Antrag G11 (von Wolfgang Gehrke und zahlreichen anderen) zum LINKEN-Parteitag im Mai die Abtrennung der Krim von der Ukraine und ihre Aufnahme in die Russische Föderation für völkerrechtswidrig (ebenso wie die Abtrennung von Kosova). Und der Antrag G14 (von Ulla Jelpke und zahlreichen anderen) erklärt zumindest den Anschluss der Krim an Russland zum Verstoß gegen das Völkerrecht. Nur der Aachener Antrag (G2) tritt ein für „das Recht für Selbstbestimmung aller Nationen bis hin zur Bildung eines eigenen Staates, wenn dies auf tatsächlich demokratischem Wege beschlossen wird und die Rechte nationaler Minderheiten garantiert werden“. Zugleich schreibt er korrekt, dass „das unter Bedingungen militärischer Okkupation abgehaltene Referendum für die Loslösung der Krim von der Ukraine [...] nicht demokratisch“ war. Außerdem konnte in dem kurzen Zeitraum vor dem Referendum von einer demokratischen gesellschaftlichen Diskussion keine Rede sein. (Dass das Referendum in der Ukraine unseren hohen Ansprüchen an Demokratie nicht genügte, heißt aber nicht, dass sie weniger demokratisch gewesen wäre als normale Wahlen oder Volksabstimmungen im Kapitalismus, bei denen bürgerliche Medien und Politiker das Blaue vom Himmel herunterlügen.)
Doch man kann mit Gysi davon ausgehen, dass eine Mehrheit für den Anschluss an Russland war und eine demokratischere Abstimmung eine (etwas kleinere) Mehrheit erbracht hätte. So oder so, der Anschluss der Krim an Russland ist Tatsache. Aufgabe von MarxistInnen ist es jetzt, die demokratischen Rechte der dortigen Minderheiten (v.a. UkrainerInnen, Krim-TatarInnen) einzufordern. Wenn eines Tages eine Mehrheit auf der Krim wieder von Russland los will, würden MarxistInnen für deren demokratisches Recht eintreten, das zu tun. Aber selbstverständlich müssen MarxistInnen jeden Gedanken, die Krim mit Gewalt zur Ukraine zurückzuholen, kompromisslos bekämpfen.
Vermutlich wäre auch ohne russischen Druck eine Mehrheit auf der Krim für eine Lostrennung von der Ukraine gewesen. Beim ukrainischen Unabhängigkeits-Referendum vom Dezember 1991 war die Zustimmung auf der Krim mit 54% so niedrig wie nirgends sonst und angesichts der seitherigen negativen Erfahrungen dürfte sie weiter gesunken sein.
Putins Motiv war sicher nicht der Schutz russischsprachiger Menschen vor Unterdrückung – schließlich macht er in Russland selbst das Gegenteil – sondern die Sicherung der russischen Schwarzmeerflotte. Das russische Eingreifen musste Wasser auf die Mühlen des ukrainischen Nationalismus und Munition für die Propaganda des ukrainischen Faschismus sein. Es musste alle Bestrebungen der russischsprachigen Minderheit in der Ukraine, sich für ihre kulturellen (wirtschaftlichen, sozialen etc.) Interessen einzusetzen, in den Verdacht bringen, Handlanger des russischen Imperialismus zu sein.
4. Die Ukraine als Spielball des Imperialismus
Wenn man versucht, in der Propaganda der bürgerlichen Parteien und Medien einen Sinn zu finden, dann kommt man zu der Vorstellung, dass es einen Konflikt zwischen der Ukraine und Russland gäbe, bei dem die USA und EU die Schiedsrichter seien oder die Eltern, die die streitenden Kinder auseinanderzubringen versuchen. Dabei ist natürlich Russland der böse Streithammel, der angefangen hat und deshalb mit Sanktionen, Truppenaufmärschen etc. zum Einlenken gebracht werden müsse. Deshalb würden die diversen Maßnahmen des Westens der Deeskalation dienen. Leider hat dieses idyllische Bild rein gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Trotzdem gibt es auch innerhalb der LINKEN Aussagen, die Russland als den Hauptübeltäter darstellen. Der vom FDS veröffentlichte Artikel „Paradoxien linker Positionen zur Krim-Krise“ beispielsweise sagt: „Die politische Linke in Deutschland kämpft für den Frieden. Der militärische Konflikt ist von Russland begonnen worden. Folglich muss Russland auch der Adressat der Kritik sein.“ (http://www.forum-ds.de/de/article/2319.paradoxien-linker-positionen-zur-...)
Tatsächlich gibt es zwei Konfliktebenen. Innerhalb der Ukraine gab es erst einen Konflikt zwischen der Janukowitsch-Regierung und der Maidan-Bewegung. Nach dem Sturz von Janukowitsch bildet sich ein Konflikt zwischen der Jazenjuk-Regierung und regierungsfeindlichen Kräften in der Ost- und Südukraine heraus, die meist als „pro-russisch“ tituliert werden. Auf der internationalen Ebene gibt es einen Konflikt zwischen dem westlichen (USA und EU) und russischen Imperialismus, bei dem die Ukraine nur die Beute der imperialistischen Räuber ist. Der Westen ist also nicht Schlichter, sondern Konfliktpartei. Sanktionen und andere Maßnahmen sind deshalb keine Druckmittel zum Erreichen einer Deeskalation, sondern Schritte zur Eskalation. Deshalb ist es selbstverständliche Pflicht, jede einzelne dieser Maßnahmen zu bekämpfen. Zu Recht heißt es im Antrag G14 von Ulla Jelpke u.a.: „Wir verurteilen die Sanktionen gegenüber Russland und fordern ihre Beendigung. Die EU und die USA sind auch in der Auseinandersetzung um die Ukraine keine Friedensmächte, sondern maßgeblich an der Zuspitzung des Konflikts beteiligt.“
Dabei ist es zwar richtig, an die eigene Regierung Forderungen zu stellen. Aber diese Forderungen müssen gestellt werden, wie klassenbewusste ArbeiterInnen Forderungen an ihren „Arbeitgeber“ stellen: als Forderungen an einen Gegner, dem Zugeständnisse abgetrotzt werden müssen, nicht als Forderungen an einen neutralen Schlichter.
Dabei gibt es natürlich Verbindungen auf der einen Seite zwischen dem westlichen Imperialismus und der ukrainischen Regierung samt ihren faschistischen Schlägern, auf der anderen Seite zwischen der russischen Regierung und den „prorussischen“ Kräften in der Ost- und Südukraine. Es wäre aber zu plump, die Akteure in der Ukraine einfach als Befehlsempfänger dazustellen. Sie verfolgen auch eigene Interessen. Vor hundert Jahren wurde der Erste Weltkrieg gerechtfertigt, indem österreichische und deutsche Regierungen der serbischen Regierung die unmittelbare Verantwortung für die Aktivitäten von Angehörigen der serbischen Minderheit in Bosnien-Herzegowina gaben. Heute wird ebenso der russischen Regierung die unmittelbare Verantwortung für Aktivitäten von Angehörigen der russischen Minderheit in der Ukraine gegeben. Man sieht: Imperialisten sind beim Erfinden von Vorwänden nicht gerade kreativ.
Weil es diese verschiedenen Ebenen gibt, macht es Sinn, sie getrennt zu behandeln.
Weiter: Es hilft beim zwischenimperialistischen Konflikt verschiedene Blickwinkel zu unterscheiden. Dabei ist es offensichtlich, dass der Westen die letzten 20 Jahre der aggressivere Teil war. NATO und EU wurden nach Osten ausgedehnt. Mit Russland verbundene Regime wurden bekriegt wie Milosevic in Jugoslawien 1999 (bzw. ihr Sturz versucht, wie bei Assad in Syrien). Einzelne Linke dichten deshalb der russischen Regierung eine fortschrittliche Rolle an. Besonders krass ist eine Stellungnahme des Deutschen Freidenkerverbandes, die auf der DKP-Website kommentarlos veröffentlicht wurde. Sie fordert „die kategorische Absage an alle Auffassungen [...], nach denen Russland wenigstens eine ‘Teilverantwortung’ für die Eskalation der Krise trägt.“ Russland sei an „Stabilität, sowohl im Inneren als auch in den internationalen Beziehungen“ interessiert. „Russlands Politik zur Wahrung seiner genannten Interessen war bisher von Zurückhaltung und Zugeständnissen geprägt. [...] Die einzige Chance zur Verteidigung des Friedens besteht in der Annäherung an Russland. Die Russische Föderation ist die Schutzmacht des Friedens in Europa. [...] Nur an der Seite Russlands kann ein 3. Weltkrieg verhindert werden. Nur in Solidarität mit Russland kann die Friedensbewegung, gerade in Deutschland, wieder zu einem ernstzunehmenden Faktor werden.” (http://news.dkp.de/2014/04/ukraine-putinversteher-maidananhaenger-oder-i...)
Nach der Restauration des Kapitalismus in der ehemaligen Sowjetunion Anfang der 90er Jahre ist Russland zu einem imperialistischen Land geworden. Der Imperialismus ist das Stadium, das der Kapitalismus um 1900 erreicht hat. Kapitalismus beruht auf Profitmaximierung. Das bedeutet auch, dass imperialistische Staaten ihren Einflussbereich und ihr Ausbeutungsfeld zu vergrößern versuchen. Wenn Russland dabei nicht so expansiv vorging, wie die NATO, war das nicht Ausdruck von Friedfertigkeit, sondern von Schwäche. Um eine weitere Verringerung seines Machtbereichs zu verhindern, hat auch der russische Imperialismus brutale Kriege geführt, vor allem in Tschetschenien. Wenn sich eine günstige Gelegenheit böte, würde der russische Imperialismus ebenso expansiv auftreten wie der westliche.
Deshalb ist es zwar richtig, auf die Interessen des russischen Imperialismus hinzuweisen und die westliche Heuchelei anzuprangern, die Russland nicht zugesteht, was sie ständig praktizieren. Aber die Schlussfolgerung darf nicht Sympathie für den russischen Imperialismus sein, sondern die Verstärkung der Anstrengungen für den weltweiten Sturz des Kapitalismus, dessen Ausdruck die imperialistische Politik sowohl Russlands als auch des Westens ist.
Neben diesem analytischen Blickwinkel gibt es den strategischen. Hier gilt weiterhin Karl Liebknechts Satz: Der Hauptfeind steht im eigenen Land. Aber welche taktischen Schlussfolgerungen ergeben sich daraus? Wie können wir dem eigenen Imperialismus am wirkungsvollsten in den Arm fallen? Meinungsumfragen und Kommentare zu Zeitungsartikeln zeigen das große Misstrauen gegenüber der offiziellen Propaganda. Darüber hinaus wäre der Aufbau einer starken Antikriegsbewegung, eine klare Positionierung der Gewerkschaftsbewegung das Gebot der Stunde. Ein Haupthindernis dabei dürften Gefühle von Ohnmacht und Hilfslosigkeit sein. Ein weiterer Faktor ist aber sicher berechtigte Ablehnung von Putins Politik, seiner Unterdrückung von Opposition, seiner rechten Ideologie, seinen schwulenfeindlichen Gesetzen etc. Gerade um den eigenen westlichen Imperialismus wirkungsvoll in den Arm zu fallen ist es notwendig, den Eindruck von Sympathien für Putin zu vermeiden oder gar den Eindruck zu erwecken, es gebe nur die Wahl Westen oder Putin. Wenn MarxistInnen Parolen wie “Weder Brüssel noch Moskau” verwenden, ist das daher kein Abrücken von der Erkenntnis, dass der Hauptfeind im eigenen Land steht, sondern gerade ein Beitrag, diesen Hauptfeind wirksam zu bekämpfen.
Die LINKE hat die Politik des deutschen Imperialismus von Anfang an deutlich kritisiert und damit wieder einmal bewiesen, dass sie sich qualitativ von allen anderen Bundestagsparteien abhebt. Zugleich hat die Ukrainefrage erneut gezeigt, dass eine gemeinsame Bundesregierung der Linken mit SPD und Grünen bedeuten würde, wesentliche Grundüberzeugungen über Bord zu werfen.
Trotzdem ist die Kritik, die von der LINKEN geübt wurde, unzulänglich.
Ein zentrales Thema war die Forderung nach Stärkung von UNO, OSZE, einem System kollektiver Sicherheit. So heißt es im Antrag G11: „Nur durch eine neue Ost- und Entspannungspolitik können die Voraussetzungen für eine Überwindung der Konfrontation geschaffen werden. Europa braucht ein neues kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands, das die Nato überwindet und auf Abrüstung zielt.“ Ein beliebtes Motiv in Gangster- oder Mafiafilmen ist, dass verschiedene Gangsterbanden ihre Reviere mit Gewalt neu Aufteilen. Ein anderes beliebtes Motiv ist, dass die Mafiabosse zusammen kommen und über eine Neuaufteilung verhandeln. Sicher ist letzteres das kleinere Übel. Im ersteren Fall fliegen die Kugeln, auch Unschuldige geraten in den Kugelhagel. Aber auch im letzteren Fall produziert die normale Geschäftstätigkeit von Verbrecherbanden genug Leid. Entsprechend ist es sicher das kleinere Übel, wenn die imperialistischen Verbrecherbanden ihre Beute friedlich untereinander aufteilen, statt Krieg gegeneinander zuführen. Aber es ist eben noch ein Übel, dass Ausbeutung, Elend und Unterdrückung für den größten Teil der Menschheit, Umweltzerstörung und vieles mehr bedeutet. Auch ein kleineres Übel ist ein Übel. Und es gibt nichtmal eine Garantie, dass das Abkommen nicht morgen platzt und dann das große Übel Wirklichkeit wird. Deshalb sollten SozialistInnen nicht nur fordern, dass sich die Gangsterbosse in OSZE oder UNO an einen Tisch setzen, sondern dafür kämpfen, dass die Massen den kapitalistischen Gangstern ein für allemal das Handwerk legen. Deshalb ist es ein großes Versäumnis, dass außer dem Aachener Antrag (G2) alle Ukraine-Anträge für den LINKEN-Parteitag nur Appelle und Forderungen an die Herrschenden richten. Dagegen heißt es in G2: „Eine weitere militärische Eskalation muss verhindert werden. Dazu sind nicht diplomatische Bemühungen der Krisenverursacher entscheidend, sondern der Aufbau einer internationalen Antikriegsbewegung von unten.“ und: „DIE LINKE [...] unterstützt alle Ansätze zum Aufbau einer multi-ethnischen Antikriegsbewegung, von unabhängigen Gewerkschaften und linken, internationalistischen Organisationen und Arbeiterparteien und argumentiert auf Grundlage dieser politischen Positionen auch in der Europäischen Linkspartei für diese Schritte.“ Leider fehlt dieser zentrale Gedanke auch im Antrag G14. Erinnern wir uns daran, dass die größte Antikriegsdemo der letzten Monate mit 50.000 bis 70.000 TeilnehmerInnen am 15. März in Moskau stattfand. Sicher hatten nicht alle TeilnehmerInnen fortschrittliche Ansichten. Manche hätten sicher gern einen russischen Jazenjuk. Und sicher ist das gegenwärtig in Russland eine Minderheit. Trotzdem war das eines der ermutigendsten Zeichen der letzten Monate. Aufgabe von Linken wäre, das in der deutschen Öffentlichkeit bekannt zu machen und zu erklären, dass nicht Putin, sondern die russischen KriegsgegnerInnen unsere AnsprechpartnerInnen sind. Aber hier haben auch die Linken in der LINKEN geschlafen.
Eine weitere zentrale Forderung der LINKEN ist, die Ukraine solle eine Brücke zwischen der EU und Russland sein. Das ist sicher besser, als die gegenwärtige Politik, die das Land zu zerreißen droht. Aber hier zeigt sich, welchen Sinn es machte, beim Europawahlprogramm für die Charakterisierung der EU als „militaristisch, weithin undemokratisch und neoliberal“ zu kämpfen. Die Forderung, die Ukraine müsse eine Brücke zwischen der militaristischen, weithin undemokratischen und neoliberalen EU und dem militaristischen, weithin undemokratischen und neoliberalen Russland sein, klingt wesentlich weniger schön – ist aber realistischer.
Denn welche Perspektive hat die Ukraine, wenn Linke sich damit abfinden, dass die EU und Russland kapitalistisch und imperialistisch sind? Appelle an imperialistische Länder, keine imperialistische Politik zu betreiben, sind so realistisch wie Appelle an Wölfe, zu Vegetariern zu werden.
Etwas skurril ist die Idee, die Ukraine könne zugleich Mitglied der EU und Brücke sein: „Der Status der Ukraine als Brücke zwischen der EU und Russland ist mit der Perspektive einer Assoziierung und sogar einer Mitgliedschaft der Ukraine in der EU vereinbar, wenn Russland in diese Verhandlungen einbezogen wird und für eine Zustimmung gewonnen werden kann.“ (Antrag G11)
5. Die Ost-Ukraine gleitet Richtung Bürgerkrieg
In den letzten Wochen geriet die Bewegung in der Ost- (und Süd-)Ukraine zunehmend in den Fokus. Die Proteste haben Parallelen zu der Maidan-Bewegung: Besetzung von öffentlichen Plätzen und Gebäuden, bewaffneter Selbstschutz etc. Von daher ist die Verteufelung als „Terroristen“ durch eine Regierung, die auf dem Rücken der Maidan-Bewegung ins Amt kam, von bemerkenswerter Verlogenheit. Es gibt aber deutliche Unterschiede. Vor allem ist die Bewegung dezentraler. Das erschwert pauschale Aussagen. Trotzdem scheint es so, dass es zwar auch dort rechte Kräfte gibt, diese aber keine mit dem Maidan vergleichbare Rolle spielen.
Soziale Fragen scheinen oft ein größeres Gewicht zu haben (auch angesichts der Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage in den letzten Wochen), die Arbeiterklasse ebenfalls. Bei den Forderungen scheint es Unterschiede zu geben, vom Anschluss an Russland bis hin zu mehr Autonomie innerhalb der Ukraine. Nach Umfragen lehnt wohl weiterhin die Mehrheit die Jazenjuk-Regierung ab, aber nicht die Zugehörigkeit zur Ukraine. Auch viele Russischsprachige sehen sich als russischsprachige UkrainerInnen. Das muss nicht so bleiben. Gräueltaten wie in Odessa am 2. Mai sind die beste Propaganda für Separatismus. Oft scheint die Unterstützung für die AktivistInnen nur begrenzt zu sein, während es eine breite Ablehnung gegen die militärische Eroberung durch die Armee und ihre faschistischen Hilfstruppen gibt. Eine gewaltsame Eroberung der Ost-Ukraine durch die Regierungstruppen wäre Wasser auf die Mühlen des Separatismus, den sie angeblich bekämpfen soll und könnte die Stimmung der Bevölkerung kippen.
MarxistInnen treten auch in der Ost-Ukraine für das Selbstbestimmungsrecht bis hin zur Lostrennung ein, aber sie warnen eindringlich davor, von diesem Recht Gebrauch zu machen. Lenin wies oft darauf hin, dass die Lostrennung Norwegens von Schweden 1905 die Beziehungen der Arbeiterbewegungen beider Länder verbesserte. Bei einer Lostrennung der Ost-Ukraine wäre das Gegenteil zu erwarten, weil sie von großen Massen in der West-Ukraine nicht als Ausdruck des Mehrheitswillens der Bevölkerung im Osten, sondern als Versuchs einer russischen Dominanz über die Ukraine und Schwächung des Landes aufgefasst würde.
Der nationalistische Hexentanz im Westen würde noch rasender, ein gemeinsamer Kampf der ArbeiterInnen für ihre gemeinsamen Interessen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit könnte in weite Ferne rücken.
Es ist völlig richtig, wenn VertreterInnen der LINKEN einen sofortigen Stopp der militärischen Operationen fordern (und überhaupt einen Einsatz der Armee gegen die eigene Bevölkerung ablehnen) und sich für die Entwaffnung der faschistischen Banden stark machen. Aber kann man angesichts der Rolle, die die Polizei zum Beispiel bei dem faschistischen Massaker in Odessa am 2. Mai gespielt hat, eine Entwaffnung der Selbstschutzverbände in der Ost-Ukraine verlangen? Das könnte sie künftigen Übergriffen schutzlos ausliefern. Letztlich können nur die Menschen in der Region selber entscheiden, was mit diesen geschehen soll. MarxistInnen treten für demokratisch kontrollierte multiethnische Selbstverteidigungskomitees ein.
Verschiedentlich wurde eine Föderalisierung der Ukraine bzw. Autonomie für die Ost- und Süd-Ukraine gefordert. Gegen diese Idee gibt es das Argument, dass das zwar theoretisch sinnvoll sei, in der konkreten Lage aber nur Russland Hebel biete, Keile zwischen beide Landesteile zu treiben. Aber was ist die Alternative? Den Deckel fest auf dem Topf lassen, so dass der Druck immer mehr steigt und schließlich der Topf explodiert?
So lange die Ukraine zwischen zwei imperialistischen Räubern liegt, werden die darum kämpfen, den ganzen Kuchen oder zumindest ein möglichst großes Kuchenstück zu bekommen. Für die Überwindung des Kapitalismus in den EU-Ländern und Russland zu kämpfen, ist sicher verdammt schwer. Aber die Ukraine zu einer anderen Stelle des Planeten zu verlagern, ist unmöglich. Und schließlich würde die Überwindung des Kapitalismus von Portugal bis Sibirien nicht nur die Menschen in der Ukraine aus ihrem Schlamassel befreien, sondern uns auch. Die Ukraine wäre dann nicht eine Brücke zwischen imperialistischen Räubern, sondern könnte ein gleichberechtigter Teil einer sozialistischen Föderation Europas einschließlich Russlands werden.