Fr 30.11.2007
Der Wahlsieger der Wahlen vom 2. Dezember in Russland stand im Vorhinein fest: Wladimir Putin. Auch wenn lange nicht klar war, in welcher Form, war doch sicher, dass er die Fäden der Macht weiter in der Hand halten wird.
15 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion ist die Bilanz düster: Weit entfernt von demokratischen Zuständen regiert "Zar" Putin über einen mafiösen Kapitalismus der die soziale Situation der Mehrheit der Bevölkerung verschlechtert hat. Westliche PolitikerInnen kritisieren zwar manchmal - verhalten - die diktatorischen Zustände. Aber als wirtschaftlicher und politischer Partner ist Putin doch willkommen. Für die Bevölkerung hat der Kapitalismus keine Verbesserungen gebracht. Im Gegenteil - die Lebenserwartung der Männer z.B. ist auf knapp 60 abgesunken - und liegt damit unter dem Pensionsantrittsalter. Die düsteren Perspektiven drücken sich auch in einer sinkenden Geburtenrate aus, der eine steigende Selbstmordrate gegenübersteht.
Stalinismus konnte sich auf Dauer nicht halten
Die Russische Revolution vor 90 Jahren war eines der wichtigsten Ereignisse in der Menschheitsgeschichte. Erstmals stützten eine unterdrückte Klasse ihre Ausbeuter und errichtete eine neue Gesellschaft. Aber eine Reihe von Gründen - Ausbleiben der internationalen Revolution, Isolation der Sowjetunion, Rückständigkeit dieses ersten ArbeiterInnenstaates - legten die Basis für eine bürokratische Deformation der ursprünglichen Revolution. Obwohl der Kapitalismus abgeschafft worden war, entstand keine sozialistische (oder gar kommunistische) Gesellschaft, sondern eine bürokratische Kaste beherrschte das Land und die Wirtschaft mit brutalen Methoden. Ein Zustand, der aber nicht von Dauer sein konnte. "Eine Kugel, die man auf die Spitze einer Pyramide legt, muss unweigerlich auf die eine oder die andere Seite herunterfallen" schrieb der russische Revolutionär und Kämpfer gegen den Stalinismus Leo Trotzki. Das galt auch für die Sowjetunion. Sie zerbrach nicht an einer vermeintlichen Überlegenheit des Kapitalismus, sondern an ihren eigenen Widersprüchen. Dass Russland heute eine Weltmacht ist, liegt paradoxerweise auch in der Überlegenheit der Planwirtschaft (selbst in ihrer bürokratischen, deformierten Form) über das kapitalistische Chaos. Erst die geplante Wirtschaft machte Russland zu einer Industrienation und schuf eine hochqualifizierte ArbeiterInnenklasse. Aus diesen Ressourcen schöpft der russische Kapitalismus noch heute.
Russischer Mafiakapitalismus
Der nach 1991 entstandene russische Kapitalismus selbst ist demgegenüber ein schwacher und mafiöser. Die 1992 begonnene Privatisierung erfolgte mittels eines Voucher-Systems das dazu führte, dass sich Teile der ehemaligen Staatsbürokratie die besten Stücke zu Spottpreisen zuschanzten. Binnen kürzester Zeit entstand so eine kleine, superreiche Schicht von "Oligarchen". Putin nützt heute die kriminellen Machenschaften dieser Schicht für seine Zwecke. Sie alle haben die Basis für ihren Reichtum mittels Korruption, Bestechung und illegaler Bereicherung gelegt. Das ist allgemein bekannt.
Bei seinem Amtsantritt hat Putin eine Vereinbarung mit den Oligarchen geschlossen, dass sich diese nicht in die Politik einmischen, er dafür ihre Geschäfte nicht angreift. Wer sich, wie Jukos-Chef Michail Chodorkowski nicht daran hält, wird vor Gericht gebracht. 70% der russischen Bevölkerung wollen eine Neuverteilung des Besitzes, den sich die Oligarchen in der Plünderzeit angeeignet haben. Putins Vorgehen gegen einzelne von ihnen ist daher nicht unpopulär. Sie alle haben Dreck am Stecken, nur pickt er sich jene heraus, die ihm in die Quere kommen.
Wackelige Basis
Seit einigen Jahren boomt die russische Wirtschaft wieder (wobei sie dabei gerade erst etwa das Niveau von Anfang der 1990er Jahre erreicht hat). Die Basis dafür ist im Wesentlichen der hohe Öl- und Gaspreis. Russland verfügt über 10% der Weltölreserven und über etwa ein Drittel der Weltgasvorkommen. Bei der Förderung beider Rohstoffe liegt man auf Platz 1. Der hohe Ölpreis hat Putin in den letzten Jahren gutgefüllte Kassen gebracht. Aber während die ArbeiterInnenklasse für die vergangenen Krisen zahlen musste, profitiert sie vom aktuellen Aufschwung kaum. Der Zusammenbruch der Wirtschaft Anfang der 1990er Jahre, gefolgt von der Finanzkrise 1998 und einer starken Rubelabwertung, hat den Lebensstandard drastisch gesenkt, der nach wie vor unter dem Niveau von 1991 liegt. Die Entstehung einer kleinen, reichen und superreichen Schicht darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Armutskrankheiten wie TBC und Colera wieder nach Russland zurückgekehrt sind. Moskau ist heute teurer als New York, aber das Durchschnittseinkommen liegt weit niedriger und insbesondere die ArbeiterInnenklasse leidet unter der hohen Inflationsrate. Die Einkommensunterschiede zwischen den reichsten und den ärmsten 10% sind von 1:4 Ende der 1980er Jahre auf heute 1:14 gestiegen. Offiziell leben 13% der MoskauerInnen unter der Armutsgrenze. Nur ist diese Armutsgrenze so niedrig angesetzt, dass viele der Armen offiziell nicht unter sie fallen. Der Großteil der offiziell nicht-armen Bevölkerung lebt meistens nur knapp über der Armutsgrenze. Außerhalb der Metropolen leben die Menschen in Ortschaften ohne gepflasterte Strassen, können sich kein Fleisch leisten und wissen nicht, wie sie über den Winter kommen sollen.
Die Strukturen der russischen Wirtschaft entsprechen heute keineswegs jenen eines modernen Industriestaates - seit dem Niedergang der Sowjetunion wurde kaum investiert. Die häufigen Grubenunglücke sind nur ein (schreckliches) Indiz dafür. Ähnlich wie in ehemaligen Kolonien bilden Rohstoffe (Öl und Gas) die wichtigste Einnahmequelle. Aber was geschieht mit dieser zur Zeit komfortablen Basis, wenn der Ölpreis sinkt?
“Zar” Putin
Putin ist der aktuelle und künftige starke Mann Russlands. Er kontrolliert die Medien, große Teile der Wirtschaft und die Justiz. Er ist kein Antikapitalist sondern benützt den Kapitalismus auch für großrussische Machtbestrebungen. Wenn er Medienunternehmen oder Konzerne wie Jukos zerschlägt oder wie die Gasprom unter staatliche Kontrolle bringt, dann geht es nicht um eine "sozialistische" Verstaatlichungspolitik, sondern um eine in Diktaturen durchaus übliche Form von Staatskapitalismus. D.h. der Staat tritt als Kapitalist auf, um gewisse politische und ökonomische Ziele zu verfolgen. Die Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse ist unter diesen Bedingungen alltäglich. Wenn Putin sich heute wieder gewisser sowjetischer Symbole bedient, so hat das keine ideologischen Gründe, sonder weist bloß auf ein Gespür für eine gesellschaftliche Stimmung hin. Viele sehnen sich nach der "guten alten Zeit" zurück, als jedeR einen sicheren Job und eine gewisse soziale Absicherung hatte.
Das Putin kein Demokrat ist, ist allgemein bekannt. Schon die erste Verfassung unter kapitalistischen Vorzeichen von 1993 war nur mäßig demokratisch, unter Putin wurde sie noch weiter ent-demokratisiert. So werden z.B. Gouverneure in den Provinzen nicht mehr gewählt, sondern direkt von Putin ernannt. Oppositionelle werden verfolgt, Morde wie jener an der kritischen Journalistin Anna Politkowskaja, die dem Regime nutzen, bleiben unaufgeklärt. Nach Putins Machtantritt kam es zu einem Machtkampf. Allerdings verlief dieser nicht zwischen "Demokraten" und "Anti-Demokraten", sondern zwischen VertreterInnen verschiedener Wirtschaftskurse bzw. verschiedener Flügel des Kapitals. Jener von Putin, der für einen starken Staat steht, hat vorerst gewonnen.
Supermacht Russland
In den letzten Jahren hat Putin auf der Basis eines wirtschaftlich wieder erstarkten Russlands auch auf dem internationalen Parkett wieder schärfere Töne angeschlagen. Vor dem Hintergrund eines starken Ölpreises tritt er selbstbewusst den Allmachtbestrebungen der USA gegenüber. Aber auch hier geht es nicht um unterschiedliche Ideologien. Die Opposition zum Irakkrieg entsprang keiner anti-imperialistischen Position, sondern den regionalen Machtinteressen Russlands. Die Rechte des palästinensischen Volkes sind Putin egal. Aber eine Anerkennung der Hamas-Regierung bestärkte die politischen Ambitionen.
Als Druckmittel wurden in den letzten Jahren die Öl- und Gaslieferungen eingesetzt. Die EU, Polen, die Ukraine und andere bekamen diese Politik zu spüren. Wer nicht spurt, friert. Auf diese Weise versucht Putin auch jene ehemaligen sowjetischen Republiken unter Kontrolle zu halten, die zu offen mit der EU oder den USA liebäugeln.
Besonders deutlich wird der großrussische Chauvinismus des Putin-Regimes in Tschetschenien. Im Gegensatz zu den Bolschewiki, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker verteidigten und unmittelbar nach der Revolution auf alle großrussischen Gebietsansprüche verzichteten, knüpft Putin an den großrussischen Chauvinismus der Stalinisten an. Seit Jahren wird ein brutaler Krieg gegen Tschetschenien geführt - und damit erfolgreich auch von der eigenen Politik abgelenkt. Ein Krieg ist immer auch ein Mittel der Herrschenden den Fokus von der Innen- auf die Außenpolitik zu lenken.
Die Schwäche der Opposition liegt nicht nur an den Beschränkungen und Verfolgungen durch Putins Mannen. Sie liegt v.a. in ihrer Programm- und Alternativlosigkeit. Teilweise unterstützt sie den grossrussichen und rassistischen Kurs sogar.
Die Schwesterorganisationen der SLP arbeiten in mehreren Staaten der ehemaligen Sowjetuntion - in Russland, der Ukraine, Kasachstan und Moldowien. Staatliche Einschüchterung und Verfolgung gehört zum täglichen politischen Leben der Mitglieder von Sotsialisticheskoye Soprotivleniye (Sozialistischer Widerstand) in Russland. Sie tritt für demokratische Grundrechte und eine sozialistische Gesellschaftsveränderung ein. Ein zentraler Teil der Arbeit ist der Aufbau von ArbeiterInnenparteien mit einem sozialistischen Programm. Bei diesen Wahlen gibt es eine solche, sozialistische Alternative noch nicht. Aber die Kämpfe von ArbeiterInnen und Jugendlichen in Russland und anderen GUS-Staaten sind die Basis, auf der solche Parteien entstehen werden.