Stoppt den genozidalen Angriff auf Gaza – Proteste und Aktionen der Arbeiter*innenklasse können die Kriegsmaschinerie stoppen!

von einem Mitglied der Leitung der "Socialist Alternative" (ISA in England, Wales und Schottland)

ISA in Israel/Palästina auf einem multiethnischen Protest gegen den Krieg in Gaza und das Besatzungsregime

Dieser Artikel (Titel leicht verändert) erschien zuerst am 25. März 2024 auf der Website der "Socialist Alternative" (ISA in England, Wales und Schottland) in englischer Sprache.

 

Vier Monate nach Beginn des genozidalen Angriffs auf den Gazastreifen wurden nach offiziellen Angaben mehr als 29.000 Menschen massakriert, darunter über 12.000 Kinder. Mehr als 90% der Bevölkerung sind vertrieben. Nach Angaben von Oxfam werden in Gaza täglich mehr Menschen getötet als bei jedem anderen militärischen Angriff im 21. Jahrhundert.

Das Ausmaß der Gräueltaten umfasst massenhafter Hunger, die Verwehrung des Zugangs zu Wasser und Medikamenten, systematische Angriffe auf Krankenhäuser und die Ausbreitung von Krankheiten. Das Ausmaß der Zerstörung ist verheerend. Nach Angaben der UNO würde es bei sofortiger Beendigung der Kämpfe bis 2092 dauern, bis das BIP in Gaza wieder das Niveau von 2022 erreicht hat! Das BIP war nach fast zwei Jahrzehnten brutaler Belagerung schon vorher extrem niedrig.

Der Krieg im Gazastreifen birgt auch die gefährliche Perspektive eines umfassenderen Konflikts im Nahen Osten, mit besorgniserregenden Entwicklungen im Libanon, Syrien, Jemen, Irak und anderen Ländern.

Während Labour und Tories [sozialdemokratische bzw. konservative Partei in England, Wales und Schottland, Anm. der Übers.] sich weigern, einen sofortigen Waffenstillstand zu fordern, obwohl mehr als 70 % der Bevölkerung in Großbritannien dafür sind, weigern sich Millionen, zu schweigen. Es hat historische Solidaritätsproteste gegen den genozidalen Krieg in Gaza gegeben. Dazu gehören bedeutende Demonstrationen im Nahen Osten, im besetzten Westjordanland und Aktionen von Arbeiter*innen im Transportsektor, um die israelische Kriegsmaschinerie zu blockieren. Auch in der israelisch-jüdischen Bevölkerung wächst die Unzufriedenheit mit Netanjahu und seiner Regierung, die die Frage der Geiseln trotz der wachsenden Proteste dazu als zweitrangig behandelt.

Die Bodeninvasion in Rafah

Alle Augen richten sich nun auf Rafah, eine Stadt an der Grenze des Gazastreifens zu Ägypten. Vor dem 7. Oktober hatte sie etwas mehr als 200.000 Einwohner auf einer Fläche von 64 km2 (so groß wie Woking [Stadt in England, Anm. der Übers.]) - jetzt, vor der erwarteten vollständigen Bodeninvasion, befinden sich dort mindestens 1,4 Millionen Vertriebene. Dies ist eine weitere grausame Etappe im genozidalen Krieg in Gaza. Er kann die Ausweitung des Krieges im Nahen Osten beschleunigen, aber auch die internationale Solidaritätsbewegung anspornen.

Die Menschen im Gazastreifen sind nirgendwo sicher. Das Gebiet, das die israelische Armee für die Menschen in Rafah vorsieht, ist Al-Mawasi - ein Küstengebiet von etwa 16 km2. Das ist unmöglich. Selbst wenn 'nur' eine Million Palästinenser*innen in diesem Gebiet Zuflucht suchen würden, das bereits voller vertriebener Menschen ist, würde das bedeuten, dass die Bevölkerungsdichte dann bei 62.500 Menschen pro km2 liegen würde (verglichen mit einer Bevölkerungsdichte von 434 Menschen pro km2 in England).

Eine weitere 'Nakba'?

Das bedeutet, dass Massen von Gaza-Bewohner*innen an die Rafah-Grenze von Gaza zu Ägypten gedrängt werden könnten, wodurch eine zweite Nakba droht. Die Nakba ('Katastrophe') war die Massenvertreibung der Palästinenser*innen im Jahr 1948, bei der mindestens 750.000 Palästinenser*innen aus ihren Häusern vertrieben wurden. Diese Schrecken wurden vom kapitalistischen und rassistischen israelischen Regime nie anerkannt, ebenso wenig wie ihr Recht auf Rückkehr. Der Gazastreifen ist eine Enklave, die als Folge der Nakba entstanden ist. Viele von ihnen sind selbst Geflüchtete von 1948, was bedeutet, dass dieses nationale kollektive Trauma immer noch sehr lebendig ist.

Der ägyptische Präsident Al-Sisi sagt zwar, Ägypten werde sich nicht an einer zweiten Nakba beteiligen, aber er kümmert sich nicht wirklich um die Palästinenser*innen, sondern nur um seine eigenen Interessen. Die Regierung von Al-Sisi arbeitet seit Jahren aktiv mit dem israelischen Staat zusammen, um die brutale Belagerung des Gazastreifens durchzusetzen. Bisher hat sein Regime noch nicht einmal ernsthaft damit gedroht, die Friedensabkommen mit Israel von 1979 aufzukündigen. Andere Vereinbarungen zwischen den beiden Staaten könnten jedoch gebrochen werden, wenn die israelische Armee Netanjahus Pläne zur Übernahme des Philadelphi-Korridors/der Saladin-Achse weiterverfolgt - einer Grenzroute, die von ägyptischen Grenzsoldaten kontrolliert wird.

Es ist jedoch klar, dass sich die Solidaritätsdemonstrationen in Ägypten mit den Menschen im Gazastreifen vor dem Hintergrund der Invasion in Rafah gegen Al-Sisi wenden könnten, insbesondere wenn er als aktiver Helfer der israelischen Aggression wahrgenommen wird. Ein solches Szenario kann Al-Sisi dazu bringen, viel weiter zu gehen, als er eigentlich beabsichtigt, da er befürchten muss, dass solche Proteste einen erneuten Massenaufstand entfachen könnten.

'Friedensprozesse' auf kapitalistischer Grundlage

Dies entlarvt die Grundlage für Absprachen zwischen den herrschenden Eliten im Nahen Osten. Die Diktatoren in der Region und die imperialistischen Mächte vertreten Interessen, die den Interessen der Massen widersprechen. Ihr Interesse ist die Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft und des kapitalistischen Systems, das auf der Ausbeutung und Unterdrückung der Massen beruht.

Eine palästinensische Revolution zur Erreichung echter nationaler und sozialer Befreiung und eines wirklich unabhängigen palästinensischen Staates wird wahrscheinlich andere revolutionäre Aufstände in der Region entfachen. Dies wäre nicht nur eine Bedrohung für die Diktaturen im Nahen Osten, sondern auch für die Interessen des US-Imperialismus, der dominierenden Macht in der Region. Außerdem wäre es eine Bedrohung für die anderen imperialistischen Mächte, einschließlich des zunehmend involvierten China und Russland.

Die Frage der Geiseln

In der israelisch-jüdischen Bevölkerung wächst die Sorge um die Geiseln, die bei dem brutalen und wahllosen Angriff der Hamas am 7. Oktober entführt wurden. Trotz der Proteste und sogar eines 100-minütigen Generalstreiks (anlässlich des 100. Tages seit der Entführung) hat Netanjahu bewiesen, dass seinem Regime nicht nur die höllischen Bedingungen, die es den Palästinenser*innen aufzwingt, völlig egal sind, sondern dass es sich auch nicht wirklich um die israelischen Geiseln kümmert. Die ISA-Mitglieder in Israel und Palästina fordern einen sofortigen Austausch " Alle gegen Alle“ - alle Geiseln gegen alle palästinensischen Gefangenen, einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand und einen Kampf gegen die Besatzung - der Ursache dieser Katastrophe.

Der Weg nach vorn

Eine wirkliche Lösung erfordert eine grundlegende Veränderung der Machtverhältnisse zwischen den palästinensischen Massen und der israelischen Kapitalist*innen-Elite, die die blutige Besatzung, die Belagerung, die Armut und die extreme nationale Unterdrückung durchsetzt. Eine solche Veränderung erfordert einen Massenkampf für die Befreiung der Palästinenser*innen und den Sturz des israelischen Kapitalismus und Imperialismus im Nahen Osten.

Ein Massenkampf stellt eine große Gefahr für das israelische Besatzungsregime dar. Es ist an einem Punkt angelangt, an dem es den brutalen genozidalen Krieg als Existenzberechtigung braucht, um Rassismus und reaktionären Patriotismus zu schüren und sich an der Macht zu halten. Ein Massenkampf der Palästinenser*innen, wie ihn die erste Intifada gezeigt hat, würde jedoch zu Rissen zwischen dem reaktionären kapitalistischen Staat Israel und der potenziell mächtigen israelisch-jüdischen Arbeiter*innenklasse führen. Unter der Wucht der Massenkämpfe besteht trotz der nationalistischen Welle immer noch das Potenzial, diese Risse zu vertiefen. Das zeigen die öffentliche Debatte über die Geiseln sowie die sehr schlechten Umfrageergebnisse von Netanjahu und seinen rechtsextremen Koalitionspartnern.

Der Kampf für ein Ende der Herrschaft des israelischen Kapitalismus und der imperialistischen Kriege erfordert eine sozialistische Alternative, bei der der Reichtum und die Ressourcen in der Region vollständig von der Arbeiter*innenklasse kontrolliert und verwaltet werden - statt im Interesse von Kriegstreibern und Kapitalist*innen. Dadurch würde ein angemessener Lebensstandard für alle Menschen der Region und die Planung des dringend notwendigen Wiederaufbaus des Gazastreifens ermöglicht, wo grundlegende Infrastruktur und Versorgungseinrichtungen schon lange vor dem 7. Oktober erheblich beschädigt und unzureichend waren. 

Ein echter Frieden in der Region auf der Grundlage einer sozialistischen Transformation der Gesellschaft beinhaltet die Gewährleistung gleicher Rechte, echter Gleichheit und des Rechts auf Selbstbestimmung für alle nationalen und ethnischen Bevölkerungsgruppen in der Region im Rahmen von Vereinbarungen zwischen der Arbeiter*innenklasse dieser und dem Recht auf Rückkehr der palästinensischen Geflüchteten seit 1948.