USA: Wenn Träume explodieren

Sebastian Kugler

What happens to a dream deferred?
(Was passiert mit einem aufgeschobenem Traum?)

Does it dry up
(Vertrocknet er)
like a raisin in the sun?
(wie eine Weintraube in der Sonne?)
Or fester like a sore
(Oder verfault er wie eine Wunde)
And then run?
(und rennt dann weg?)
Does it stink like rotten meat?
(Stinkt er wie vergammeltes Fleisch?)
Or crust and sugar over
(Oder verkrustet und verzucktert er)
like a syrupy sweet?
(Wie süßer Sirup?)

Maybe it just sags
(Vielleicht sinkt er ab)
like a heavy load.
(wie eine schwere Last)

Or does it explode?
(Oder explodiert er?)

So dichtete der US-amerikanische schwarze Dichter Langston Hughes 1951. Er beschrieb damit packend die Stimmung der schwarzen Bevölkerung in den USA, die sich nach Freiheit sehnte. Der Traum von Freiheit und Gleichheit. Der Traum, Jahrhunderte rassistischer Unterdrückung zu überwinden. Derselbe Traum, den Martin Luther King 12 Jahre später in seiner berühmten Rede „I have a dream“ („Ich habe einen Traum“) beschwor – er ist bis heute nicht erfüllt. Denn auch wenn die Sklaverei abgeschafft ist und die Jim-Crow Gesetze, die Schwarze zu BürgerInnen zweiter Klasse machten, aus den Gesetzbüchern verschwunden sind, ist die Lage der schwarzen Bevölkerung in den heutigen „farbenblinden“ USA katastrophal.
In ihrem 2012 erschienenen Buch „The New Jim Crow“ beschreibt Michelle Alexander schonungslos, wie seit der legalen Gleichstellung von Schwarzen der systemische Rassismus nicht etwa verschwand, sondern nur subtiler wurde. Lenin bezeichnete in „Staat und Revolution“ die demokratische Republik als die sicherste Form der Herrschaft des Kapitals. Es begründet „seine Macht derart zuverlässig, derart sicher, daß kein Wechsel, weder der Personen noch der Institutionen noch der Parteien der bürgerlich-demokratischen Republik, diese Macht erschüttern kann.“ Ähnlich verhält es sich mit der Niederhaltung der schwarzen Bevölkerung in den USA. Die „direkte“ Form der Unterdrückung (Sklaverei, Jim-Crow-Gesetze) existiert nicht mehr. Stattdessen werden Schwarze nun indirekt, dafür zuverlässiger und sicherer unterdrückt als zuvor.
Die schwarze Bevölkerung wird in Armut gehalten – durch systemischen Rassismus bei der Jobvergabe, bei der Benotung in der Schule usw. Örtliche Verwaltungen, Polizei und Regierung stellten von Anfang an sicher, dass Schwarze wenn schon nicht mehr am Papier, so doch nach wie vor in der Realität benachteiligt blieben. Die Methoden werden von dem Historiker Howard Zinn in seinem Buch „A people's history of the United States“ geschildert. An die Stelle der politischen Gewalt trat die wirtschaftliche, an die Stelle der politischen Apartheid die soziale.
Laut Alexander sind 7 von 8 Personen, die in städtischen Armutsgebieten leben, nicht-weiß. Wer in Armenvierteln in den USA lebt, kommt nicht mehr hinaus. Oft fehlt es selbst an grundlegender Versorgung. Detroit erinnert heutzutage mehr an ein 3.Welt-Land als an eine einst blühende Metropole einer Supermacht. Im Zuge der Deiunstrialisierung ab der Einleitung der neoliberalen Ära durch Reagan & Co brachen Industrie-Städte wie Philadelphia und Detroit zusammen. Die reicheren, weißen Teile der Bevölkerung konnten in die Vorstädte fliehen („White flight“), die ärmeren Schichten blieben zurück bzw. konnten nirgendwo mehr hin. Das Verhältnis kehrte sich um: Früher lebten ärmere und schwarze Schichten eher in den Vorstädten, isoliert und heruntergekommen, reichere und weiße Schichten in der Stadt, mit all ihren Möglichkeiten. Mit dem Niedergang der Industrie und der Flucht der Weißen aus den Städten und ihrer Ankunft in den Vorstädten mussten Schwarze dorthin, woher jene geflüchtet waren: In die Ruinen der ehemaligen Großstädte. Philadelphia ist z.B. heute mehrheitlich nicht-weiß – und gleichzeitig die ärmste Großstadt der USA.
Oftmals können sich Schwarze nicht einmal einen festen Wohnort leisten – diesen braucht man aber, um z.B wählen zu können. Soviel zum beißenden Zynismus der „Presse“, die in den Aufständen von Ferguson einen Ausdruck der "fatalen politischen Apathie vieler Afroamerikaner“ (Die Presse, 26.11.2014). Es geht nicht um Apathie, sondern um den systematischen Ausschluss einer Bevölkerungsschicht von grundlegenden Rechten. Alexander beschreibt, wie der so genannte „War ond Drugs“ („Krieg gegen Drogen“) der seit Jahrzehnten von Seiten der US-Regierung geführt wird (egal, welcher Präsident im weißen Haus sitzt), nichts war als eine groß angelegte Kriminalisierung armer, schwarzer Schichten.

Heute befinden sich mehr Schwarze in staatlichen Zwangseinrichtungen als unter der Sklaverei 1850. Ein schwarzes Kind hat heute geringere Chancen, mit beiden Eltern aufzuwachsen, als zu Zeiten der Sklaverei. In ärmeren Teilen des Landes spricht man von der „School-Prison-Pipeline“ (also einer direkten Leitung von der Schule ins Gefängnis, aus Mangel an Jobs und Perspektiven). Für Alexander ist die „Mass Incarceration“ (Masseneinkerkerung) die dritte Form der strukturellen Unterdrückung der Schwarzen, nach der Sklaverei und Jim Crow. Auch das hat seine Gründe. Der „Prison-Industrial complex“ (Die Gefängnisindustrie) ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor: Hier werden z.B. für 7 Cent die Stunde T-Shirts von Häftlingen produziert – mit „Made in the USA“-Logo natürlich. Gefängnisse befinden sich zunehmend in privater, profitorientierter Hand und haben somit eine konstante Nachfrage nach (schwarzen) Häftlingen. Während Cannabis in immer mehr Staaten legalisiert wird und Weiße kaum noch rechtliche Konsequenzen für den Konsum fürchten müssen, werden dafür Schwarze martialisch bestraft. Alexander fasst zusammen: „Das Rad der Zeit wurde bei dem Fortschritt der Schwarzen zurückgedreht. Alle Augen sind auf Leute wie Barack Obama oder Oprah Winfrey gerichtet, die die Ausnahme der Regel darstellen und zu Macht, Ruhm und Reichtum aufgestiegen sind. Für alle, die zurückgelassen wurden, besonders diejenigen hinter Gittern, muss das Abfeiern des schwarzen Fortschritts in Amerika ein klein wenig verfrüht erscheinen. Heute sind mehr schwarze Männer in Gefängnissen eingesperrt als je zuvor in der Geschichte unseres Landes. Mehr sind vom Wahlrecht ausgeschlossen als 1870, dem Jahr, als der 15. Zusatz der Verfassung beschlossen wurde, der es explizit verbot, einer Person das Wahlrecht aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu entziehen. […] Das ist der neue Normalzustand.“ (The New Jim Crow, S. 180f, Übersetzung vom Autor)

Alle 28 Stunden wird eine schwarze Person von der Polizei erschossen. Jeglicher Keim von Widerstand bekämpft. Sie erschossen sie Martin Luther King und Fred Hampton, sperrten Mumia Abu Jamal lebenslang hinter Gitter. Sie gründeten COINTELPRO und SWAT, um die Black Panther Party zu zerstören. Sie schicken hochmilitarisierte Polizeieinheiten in die schwarzen Viertel nach jedem Mord der Polizei, um Proteste zu ersticken. Die National Guard war in Ferguson schneller auf der Straße, um auf Leute zu schießen, als nach dem Hurricane Katrina in New Orleans, einer mehrheitlich armen und schwarzen Stadt, um Leuten zu helfen. George Zimmerman, der weiße Mörder von Trayvon Martin, einem schwarzen Jugendlichen, wird freigesprochen, weil er „sich von ihm bedroht fühlte“ (Trayvon ging auf dem Gehsteig, an seinem Haus vorbei, am Rückweg vom Einkaufen). Die schwarze Frau Marissa Alexander, die einen Warnschuss in eine Hauswand gegen ihren gewalttätigen Ehemann abgab, wird zu 20 Jahren Haft verurteilt. Die Beispiele lassen sich endlos fortsetzen. Der Rassismus braucht gar nicht mehr in den Gesetzbüchern zu stehen, er ist im Alltag sichtbar genug.

„We can't breathe“ (Wir können nicht atmen)
Die Entscheidung, Darren Wilson, einen weißen Polizisten, der den schwarzen Jugendlichen Mike Brown im schwarzen ArbeiterInnenviertel Ferguson erschoss, nicht einmal anzuklagen, brachte die aufgestauten, unterdrückten Träume zum explodieren. Demonstrationen breiteten sich aus. In über 500 Städten in den USA fluteten schwarze ArbeiterInnen und Jugendliche, aber auch immer mehr Weiße und Latinos, die Straßen. Sie protestierten gegen Polizeigewalt, gegen Armut und Perspektivenlosigkeit. Alle Versuche, die Proteste, als „Krawalle“ abzustempeln scheiterten kläglich an der Masse und ihren Forderungen. Doch die staatliche Tötungsmaschine rollte weiter. Als bekannt wurde, dass auch die Mörder Eric Garners, wieder weiße Polizisten, nicht vor Gericht gestellt würden, erreichte die Wut eine neue Qualität.

Eric Garner war ein herzkranker Mann, Familienvater von 5 Kindern. Die Familie war arm, Eric versuchte, sie über Wasser zu halten, indem er einzelne Zigaretten auf der Straße verkaufte, was, warum auch immer, illegal ist. Er wurde auf offener Straße von 6 Polizisten in New York erwürgt. Seine letzten Worte waren:

„Jedes mal, wenn Sie mich sehen, wollen Sie mich fertig machen. Ich habe genug davon. Heute ist Schluss damit. […] Ich kümmere mich nur um meine Angelegenheiten, Officer, Ich kümmere mich nur um meine Angelegenheiten. Ich habe es Ihnen schon letztes Mal gesagt, bitte lassen Sie mich alleine. Bitte. Bitte, fassen sie mich nicht an. Fassen Sie mich nicht an. Ich kann nicht atmen. Ich kann nicht atmen. Ich kann nicht atmen. Ich kann nicht atmen. Ich kann nicht atmen. Ich kann nicht atmen. Ich kann nicht atmen. Ich kann nicht atmen. Ich kann nicht atmen.“
Der Mord wurde auf Video von einem Passanten festgehalten – er war die einzige Person, der nach dem Mord der Prozess gemacht wurde.

Eric Garners letzte Worte fassen auf erdrückende Weise die Stimmung der schwarzen ArbeiterInnenklasse zusammen. Das Gefühl, in dieser Gesellschaft nicht atmen zu können. Weil es keine Perspektive gibt, aus dem Kreislauf aus Armut, Arbeitslosigkeit, Gewalt und Polizeibrutalität rauszukommen. Weil an jeder Ecke ein Polizist wartet, der nur darauf aus ist, dich hinter Gitter zu bringen. Weil in jedem Büro Anzugtypen sitzen, die eher Weiße mit stabilem Lebenslauf einstellen. Weil die gesamten Medien dich aufgrund deiner Hautfarbe als Verbrecher stempelt. Garners letzte Worte „I can't breathe“ (Ich kann nicht mehr atmen) wurden zum neuen Schlachtruf der Bewegung: „We can't breathe“. Auf die Proteste angesprochen sagte eine Tochter Eric Garners: „Diese Leute fühlen dasselbe wie ich, sie machen dasselbe durch wie ich.“

Es geht ums Ganze
Der Journalist Chris Hedges bezeichnete die USA jüngst als ein gigantisches Pulverfass. Die Lunte zu dem Fass wurde nun gezündet. Denn nicht nur erwacht gerade vor unseren Augen eine neue, radikalere Auflage der Bürgerrechtsbewegung. Gleichzeitig kämpfen MindestlohnarbeiterInnen in bisher unbekanntem Ausmaß für ihre Rechte und einen 15$-Mindestlohn. Die Huffington Post bezeichnete im Sommer den Kampf für 15$ als die heutige Version des Kampfes für den 8-Stundentag. Die Bewegungen laufen nicht parallel oder gar in Konkurrenz zueinander, im Gegenteil. Sie ergänzen sich, sind im Prinzip eine, sich rasend ausbreitende, Bewegung. Denn es sind genau diejenigen, die von rassistischer Polizeigewalt betroffen sind, die bei McDonalds für 7,25$ pro Stunde (5,6€) hinter dem Schalter stehen. Ein Siebentel der US-Bevölkerung ist von Essensmarken abhängig, überproportional viele davon sind nicht-weiß. Der Handelsriese Walmart zahlt seinen ArbeiterInnen Mindestlohn und verteilt gnädigerweise gleich die Antragsformulare für Essensmarken an sie aus. Die Wut hat einen Pegel erreicht, an dem sie die Schranken aus Angst, Isolation und Scham durchbricht. Die Menschen sehen, dass sie nicht alleine sind. Nicht nur sie selbst können nicht atmen. Der ganzen ArbeiterInnenklasse fehlt die Luft. Das System versucht verzweifelt, „moderate“ an die Spitze der Proteste zu manövrieren, eine Spezialität der Demokraten. Doch es misslingt mehr und mehr. Wie der Aktivist von Socialist Alternative (Schwesterorganisation der SLP), Eljeer Hawkins bei einer Veranstaltung in Ferguson klarstellte, kann jetzt nicht mehr stehen geblieben werden. Das ganze System ist schuldig, der Kampf muss verallgemeinert werden. Ein Beispiel der Macht geeinter ArbeiterInnen zeigte sich kürzlich in Minneapolis: Dort bestreikten schwarze und weiße ArbeiterInnen des Transportunternehmens UPS die Lieferung von Aufstandsbekämpfungs-Ausrüstung an die Polizei in Ferguson. In New York blockierten Massendemonstrationen die Brücken nach Manhattan. Am 4. Dezember streikten Fast-Food ArbeiterInnen in über 190 Städten, und das nur knapp 2 Jahre nach den ersten vereinzelten Fast-Food Streiks. Die USA sind in eine neue Periode von sozialen Kämpfen eingetreten. Die SozialistInnen von Socialist Alternative befinden sich in der ersten Reihe der Proteste. Sie trägt Forderungen wie die Verbindung des Kämpfe gegen Polizeigewalt und für 15$ in die Bewegung, ebenso wie die Forderung nach demokratischer Kontrolle über die Polizei und eine Untersuchung der Morde durch VertreterInnen schwarzer Organisationen und der ArbeiterInnenbewegung. Die neue Bewegung hat das Potential, das System, das der großen Mehrheit der Bevölkerung nichts als Armut und Gewalt zu bieten hat, in seinen Grundfesten zu erschüttern. Notwendig ist der Aufbau einer neuen schwarzen Freiheitsbewegung, und im Zusammenhang damit der Aufbau einer neuen, multiethnischen ArbeiterInnenpartei, die den zwei Parteien der Wall Street den Kampf ansagen kann. Wie Socialist Alternative- Stadträtin in Seattle Kshama Sawant nach dem erfolgreichen Kampf für einen 15$-Mindestlohn in Seattle gesagt hat: „Dies ist nur der Anfang. Wir haben eine Welt zu gewinnen.“