Fr 14.01.2011
Diese Welle an Aufständen, die in den westlichen Vorstädten von Algier begonnen hat, griff schnell auf andere Städte wie Oran, Blida, Bouira, Tizi Ouzou, Dejlfa, Ouargla, Constantine über und erfasste auch viele andere Teile des Landes. Die meisten betroffenen Regionen haben Unrhuhen diesen Ausmaßes schon seit über 20 Jahren nicht mehr gesehen. Selbst die Regierung muss in den Zahlen, die sie nennt - wenn ihnen Glauben geschenkt werden kann – zugeben, dass ungefähr 24 wilayas (Regionen) von der Bewegung getroffen wurden – Mit anderen Worten das halbe Land.
Tag und Nacht liefern sich Gruppen von Jugendlichen Straßenschlachten mit der Polizei und blockieren Straßen mit brennenden Reifen oder Baumstümpfen. Manchmal werden auch öffentliche Gebäude und alles, was die Autorität des Staates oder den Reichtum der Besitzenden symbolisiert, attackiert. Auch wenn in Algerien Unruhen keineswegs ein neues Phänomen sind: Das aktuelle Ausmaß die schnelle geographische Ausweitung, die ihnen einen landesweiten Charakter gibt, könnte ein Zeichen für Explosionen noch größeren Ausmaßes in der nahen Zukunft sein.
In der Vergangenheit konnte das Regime solche Explosionen als vereinzelte Vorfälle isolieren. Jetzt sieht es so aus, als ob sich ein Spalt geöffnet hat, und große Teile der ArbeiterInnenklasse blicken mit Sympathie und Inspiration auf die Jugendlichen, obwohl sie nicht immer ihre Methoden gutheißen, insbesondere bei Plünderungen oder Zerstörungen. Berichten zufolge haben sich die BewohnerInnen mancher Regionen organisiert, um Jugendliche von kontraproduktiven Akten des Vand
Ein Klima wie vor 1988
Aber diese Aktionen, ausgeführt von einer Minderheit, können die allumfassende Bedeutsamkeit dieser Aufstände nicht in den Hintergrund rücken. Die Menschenrechtsseite „Algeria Watch“ berichtet: „Sehr wenige AlgerierInnen sind gegen die Mobilisierungen der Jugendlichen; In Gesprächen auf der Straße finden es die meisten legitim, in einem Land, in dem andere Auswege blockiert sind und die normalen Mittel der Meinungsfreiheit nicht existieren. Die Parallelen mit den Ereignissen des Oktober 1988 werden von den älteren oft aufgezeigt.“ 1988 führte eine massive soziale Krise zu einer Serie an Aufständen und Streiks, die zum Fall der monolithischen Ein-Parteien-Regierung der FLN führte. Die blutige Repression der Armee kostete mehrere Hundert Tote. Das Fehlen einer unabhängigen, linken Kraft der ArbeiterInnenklasse, die die Revolte vorwärts treiben könnte, wurde von rektionären islamistischen Kräften ausgenutzt, die das Land in einen zehn Jahre dauernden BürgerInnenkrieg stürzten.
Wie das benachbarte Tunesien zeigt, können die reignisse eine extrem explosive Richtung bekommen, wenn die Energie der so lange aufgestauten Opposition und Frustration sich vom eisernen Griff eines repressiven Regimes und dem Fehlen grundlegender demokratischer Rechte befreit.
Mohamed Zitout, ein ehemaliger algerischer Diplomat meinte gegenüber Al Jazeera: „Es ist eine Revolte, vielleicht eine Revolution, unterdrückter Massen, die über 50 Jahre auf Wohnraum, Arbeitspätze und ein menschenwürdiges Leben warten mussten, und das in einem sehr reichen Land.“ Wenn es noch keine Revolution ist, die Möglichkeit, dass die aktuelle Bewegung revolutionäre Dimensionen annimmt, ist eindeutig vorhanden in einem Land, in dem der Widerstand der Unterdrückten lange Tradition hat. Die Ausrichtung der ArbeiterInnenklasse, die die Bühne als solche noch nicht betreten hat, wird für die weitere Entwicklung der Proteste entscheidend sein.
Der aufgestaute Ärger ist simultan in vielen Regionen ausgebrochen, unterstützt durch moderne Kommunikationsmittel wir Facebook, Youtube oder Twitter. Das machte es für den Staat unmöglich, das Ausmaß der Geschehnisse zu vertuschen. Wie in Tunesien, wo bereits 20 Menschen bei Demonstrationen erschossen wurden, half die gewalttätige Repression des Regimes nur, den Ärger der Leute weiter zu entzünden. Bis jetzt wurden bei den Unruhen mindestens 5 Menschen von der Regierung getötet. Es ist keine Überraschung, dass die gewalttätige Repression vom Schweigen und der Komplizenschaft der westlichen „demokratischen“ Regierungen, die höchstens ihre „Besorgnis“ ausdrücken, profitiert.
In Marseille demonstrierten am Sonntag 300 Menschen mit tunesischem oder algerischem Migrationshintergrund gegen die Repression im Maghreb (Begriff für die drei nordwestafrikansichen Staaten Tunesien, Algerien und Marokko). Das CWI fordert die sofortige Freilassung all jener, die wegen ihrer Teilnahme an den Protesten in Algerien und Tunesien verhaftet wurden und regt zu ähnlichen Aktionen wo immer es möglich ist, an.
Es geht nicht nur ums Essen
Dieser Tsunami kommt nicht wie ein Blitz von heiterem Himmel. Schon seit Monaten gärt eine Revolte in Algerien. Der täglichen Tageszeitung „Liberté“ zufolge fanden im Durchschnitt fast 9000 Unruhen und Aufstände jeden Monat statt. Über Monate hinweg gingen die ArbeiterInnen verschiedener Firmen in den Streik. Im März letzten Jahres schrieben wir: „Streik auf Streik, Protest auf Protest machen das Land zu einem sozialen Kessel, der jederzeit explodieren kann.“ Das wurde von den letzten Ereignissen bestätigt. Der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte, war der dramatische Anstieg der Nahrungsmittelpreise, die seit Anfang des Monats um bis zu 30% gestiegen sind. Besonders dramatisch ist es bei Öl, Mehl und insbesondere Zucker, dessen Preis in den letzten drei Monaten um 80% gestiegen ist.
Die Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst, die nach Jahren des Kampfes erreicht wurden, bleiben lächerlich. Sie sind noch nicht einmal flächendeckend eingeführt, und dort, wo sie es sind, werden sie von den steigenden Preisen zunichte gemacht. Im privaten Sektor ist es noch schlimmer. Das Einkaufen, um die Familie zu ernähren wird zu einem täglichen Kampf, für die ständig mehr werdenden Arbeitslosen ist es eine Mission Impossible. Die Unsicherheit des Lebens und die tobende Misere haben die AlgerierInnen davon überzeugt, dass die Maßnahmen zur Preiskontrolle absolut unnütz sind und Spekulanten und Monopolisten die absolute Freiheit geben, ihre Profite auf Kosten der Ärmsten, einschließlich Kleinladen-BesitzerInnen und StraßenverkäuferInnen, zu maximieren. In den Straßen des ArbeiterInnenklassenviertels Bab El-Qued in Algier, das eine symbolische Bastion des Widerstands geworden ist, wiederholen die Leute immer wieder: „50% Lohnerhöhung für die Bullen! Und was ist mit uns?“ Tatsächlich, der einzige Sektor, der von einer signifikanten Lohnerhöhung profitieren konnte, war die Polizei. Das war ein bewusster Versuch des Staates, aus Angst vor den kommenden Protesten, die Vertrauenswürdigkeit seiner bewaffneten Kräfte zu erhöhen.
Aus Angst, die Kontrolle zu verlieren, kamen die MinisterInnen letztes Wochenende zu einer Notstandssitzung zusammen. Sie einigten sich auf eine Reihe von Maßnahmen, um den Preis von Zucker und Kochöl zu reduzieren. Aber das wird kaum genug sein, um die Situation zu befrieden, noch weniger werden die Maßnahmen den großen Ärger über die Regierung abkühlen. Auch wenn die steigenden Lebenskosten ein wichtiges Element der aktuellen Revolte sind, in Wahrheit liegen die Gründe dafür viel tiefer. Was die Jugendlichen auf den Straßen ausdrücken ist Teil eines generellen Unmuts „Teures Leben, keine annehmbaren Wohnbedingungen, Arbeitslosigkeit, Drogen, Marginalisierung.“ So summieren die BewohnerInnen von Oran, Algeriens zweitgrößter Stadt, die Gründe für ihren Protest.
Auch anderswo bildet dieser Cocktail aus Faktoren, eingerahmt in einen Polizeistaat, der jede ernsthafte Opposition mundtot macht und die Clique von reichen und korrupten Gangstern an der Macht verteidigt, den Hintergrund der aktuellen Ereignisse. Die soziale Ungleichheit zwischen den Armen und der regierenden Elite ist in Proprtionen gewachsen, die seit der Unabhängigikeit nicht gesehen wurden.. Während das algerische BIP sich in den letzten zehn Jahren verdreifachte, gingen die gigantischen Öl-Einnahmen, das für den größten Teil des Aufschwungs verantwortlich ist, nur in die Taschen und Konten einiger Weniger, die dem regierenden Clan nahestehen. Die Mehrheit der Bevölkerung leidet derweilen unter Unterernährung oder sogar Hungersnöten. Die sich vermehrenden Fälle von Geldwäsche und Korruption betreffen alle Sektoren und alle Entscheidungsebenen und haben dazu beigetragen, den kontinuierlichen Diebstahl des Vermögens eines ganzen Landes für den Reichtum und den Luxus einiger Weniger aufzuzeigen.
In der Zeitung „El Watan“ fasst ein junger Demonstrant die Situation wunderbar zusammen: „Nichts wird uns diesmal zurückhalten. Das Leben ist zu teuer und eine Hungersnot bedroht unsere Familien, während Apparatschicks Milliarden beiseite schaffen und auf unsere Kosten reich werden. Wir haben keine Lust mehr auf dieses Hundeleben. Wir wollen unseren Anteil am Reichtum dieses Landes.
Frustrierte Jugend
2001 riefen junge algerische DemonstrantInnen der scharf schießenden Polizei zu: „Ihr könnt uns nicht umbringen, wir sind schon tot!“ Derselbe Geist des „Nichts-zu-verlieren-habens“ treibt die aktuelle Rebellion der Jugend an. Tatsächlich gibt es keine Perspektive für diese Generation, die schwer von Arbeitslosigkeit getroffen ist und auf das Überleben von Tag zu Tag angewiesen ist. Die offizielle Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 21.3%, die Realität wahrscheinlich noch schlimmer, da alle Statistiken vom Staat geschönt werden. Manche gehen sogar von einer Arbeitslosigkeit von 60% bei den unter 30-Jährigen aus. Auch ein Großteil der Studierenden steht am Ende des Studiums ohne Job da. Für junge AlgerierInnen hält die Zukunft nur Gefängnis oder Exil bereit, die Selbstmordraten schießen in den Himmel. Die „Festung Europa“ und ihre repressiven Maßnahme gegen Flüchtlinge bedeuten, dass es keine andere Möglichkeit für diese Jugendlichen gibt, als den Weg des Kampfes und der kollektiven Aktion zu gehen.
Die aktuelle Bewegung wird bis jetzt von Jugendlichen aus den Armenvierteln getragen und hat noch nicht zu einer aktiven Mobilisierung der Massen geführt. Das Einsteigen der ArbeiterInnenklasse ist notwendig, um der Bewegung einen organisierten Massencharakter zu geben, um zu verhindern, dass sie bei kleinen unorganisierten Aktionen vom Staat aufgerieben wird.
In Tunesien solidarisieren sich die Gewerkschaften mit den Aufständen und halfen durch den Ruf nach Aktionen. Die algerischen ArbeiterInnen können sich nicht auf den algerischen Gewerkschaftsbund UGTA verlassen, der ein unglaubliches Level an Korruption und Verrat und Unterwürfigkeit gegenüber dem Bouteflika-Regime erreicht hat. Die bis jetzt einzige offizielle Stellungnahme der Gewerkschaftsführung hat auf widerliche Art und Weise die Regierungslinie wiedergegeben. Diese Linie hat die UGTA schon seit Jahren von ganzen Sektoren von GewerkschafterInnen abgeschnitten, die sie verlassen haben, um kämpferischen und unabhängigen Gewerkschaften beizutreten. Diese zu vitalisieren, demokratisieren und zu vereinigen ist eine der wichtigsten Aufgaben für die algerische ArbeiterInnenklasse zur Zeit.
Die Gründung von lokalen Widerstands-Komitees in den Nachbarschaften und Arbeitsplätzen kann ein sehr nützliches Werkzeug sein, um den Kampf der Jugendlichen zu unterstützen, um den Rest der Bevölkerung in Massenaktionen miteinzubeziehen und mit unabhängigen Gewerkschaften Streiks auf einem landesweiten Level zu organisieren. Manche Sektoren, wie die HafenarbeiterInnen von Algier oder ArbeiterInnen im Gesundheitswesen reden schon davon, sich in die Revolte durch Streiks einzuklinken. Das ist von großer Wichtigkeit, die Ausweitung solcher aktionen kann der Situation ganz anderen Charakter geben. Der Ruf nach einem Generalstreik in Unterstützung der Jugendbewegung würde breite Unterstützung finden und helfen, die existierende Frustration und Wut in eine starke Bewegung zu verwandeln, die dieses verrottete Regime zu Fall bringen und den Weg für einen wirklich demokratischen und sozialistischen Wandel ebnen kann.