Mo 25.06.2007
In der Türkei sind im April und Mai bis zu einer Million Menschen gegen die gemäßigt-islamistische Regierung der AKP unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan auf die Straße gegangen.
Welchen Charakter hat diese Massenbewegung – ist es eine pro-westliche Bewegung gegen die Islamisierung oder gar eine linke Bewegung? Oder sind die DemonstrantInnen die Hilfstruppen der alten Eliten aus Militär und Bürokratie, welche eine demokratisch gewählte Regierung mit undemokratischen Tricks, sogar einem Putsch, beseitigen wollen? Um es kurz zu sagen: Die Bewegung beinhaltet all diese Elemente.
Anlass für die Proteste war der Versuch der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung), ihren Außenminister Abdullah Gül im Parlament zum Staatschef wählen zu lassen. Dieser scheiterte mehrmals, da die Opposition die Wahl boykottierte und die AKP nicht über die notwendige Zweidrittel-Mehrheit verfügt.
Die Position des Staatspräsidenten ist traditionell die Hochburg des Laizismus, der Trennung von Staat und Religion. Der Laizismus bildet seit der Republik-Gründung durch Kemal Atatürk den Grundpfeiler des türkischen Staates. Gül wäre der erste Staatspräsident gewesen, dessen Frau ein Kopftuch trägt.
Neuwahlen sind jetzt für den 22. Juli ausgeschrieben. Die Verfassung soll so geändert werden, dass auch der Staatspräsident direkt vom Volk gewählt wird.
Krise der alten Eliten
Die AKP-Regierung ist die erste halbwegs stabile Regierung seit dem Militärputsch 1980. Zuvor waren in wechselnder Zusammensetzung die traditionellen Parteien an der Regierung. Diese sind weniger bürgerliche Parteien europäischer Prägung, eher Cliquen mit engen Verbindungen zum Militär und Geheimdiensten sowie zum organisierten Verbrechen. Die türkische Bevölkerung, vor allem die arme Bevölkerung auf dem Land und in den Massensiedlungen am Rande der Großstädte, den „Gecekondus“, hatte von dieser Mafia genug, als 2001 die türkische Wirtschaft zusammenbrach. Die AKP erzielte einen Erdrutschsieg.
Die konservative DYP, die nationalliberale ANAP, die kemalistischen CHP und DSP sowie die faschistische MHP haben aller Voraussicht nach bei den kommenden Wahlen keine Chance, die Regierung zu stellen, die AKP ist der klare Favorit.
Schleichende Islamierung
Die AKP hat die Islamisierung noch nicht sehr weit getrieben. Das heißt nicht, dass sie untätig ist. So ist zwar der Alkohol-Ausschank nicht verboten, aber Restaurants bekommen in vielen türkischen Städten keine Schank-Lizenzen mehr. Die Regierung versucht, die Darstellung von Sexualität aus der Öffentlichkeit zu verbannen.
Vor allem großstädtische Frauen aus der ArbeiterInnenklasse und den Mittelschichten fühlen sich durch die AKP bedroht. Sie fürchten zu Recht, dass ihre Errungenschaften unter Beschuss kommen. An dieser Stimmung versuchen auch die Oppositionsparteien anzuknüpfen.
Dabei ist der Anti-Islamismus der Militärs und der alten Eliten verlogen. Während sie sich heute als Hüter der weltlichen Republik aufspielen, haben sie in den Jahren vor und nach dem Putsch 1980 den politischen Islam bewusst gefördert, in Schulen und Gesellschaft verbreitet, um ein Gegengewicht zur starken türkischen Linken zu schaffen, die sie als Bedrohung ihrer Herrschaft gesehen haben. Jetzt können die Zauberer die Geister, die sie einst riefen, nicht mehr kontrollieren.
Die Massenproteste sind keineswegs pro-westlich. Sie richten sich sogar ausdrücklich gegen die wirtschaftliche Ausplünderung der Türkei durch europäische und US-amerikanische Konzerne. Die islamische AKP ist paradoxerweise nicht der Gegenspieler der EU, sondern deren bester Partner. Sie hat die Öffnung der Wirtschaft für ausländische Konzerne vorangetrieben, Privatisierung und Deregulierung beschleunigt.
Neoliberale Wirtschaftspolitik
„Trotz des durchschnittlichen Wirtschaftswachstums von 7,3 Prozent und die niedrigsten Inflationsraten seit über 30 Jahren haben Beamte, Rentner und Bauern nicht mehr Geld in der Tasche als früher. In vielen staatlichen Betrieben geht die Angst vor Privatisierung und um den Arbeitsplatz um. Im Wirtschaftszentrum Istanbul sind als Folge des Aufschwungs die Mieten explodiert“, schreibt das St. Galler Tageblatt am 15. Mai.
Viele ArbeitnehmerInnen sehen die AKP als Erfüllungsgehilfen der EU, der gegen sie ausländische Konzerninteressen durchsetzt. Die Organisatoren haben das aufgegriffen, indem sie Parolen gegen EU und USA verbreitet haben.
Es gibt viele gute Gründe, gegen die AKP-Regierung zu demonstrieren. Die AKP ist eine kapitalistische Partei und treibt zudem vorsichtig, aber stetig die Islamisierung der Türkei voran. Die Organisatoren und Redner der Demonstrationen haben jedoch keine ehrlichen Motive. Die korrupten Altparteien und Militärs fürchten um ihre Posten in der Bürokratie, um Einfluss und Geldquellen. Sie versuchen, die Wahlchancen der nicht-religiösen Parteien zu verbessern.
Die ArbeiterInnenklasse, die ländlichen und städtischen Armen, die Frauen und die Jugend sollten auf die Straße gehen, sich jedoch unabhängig von den herrschenden Cliquen organisieren. Das ist vielen klar, auf der Demonstration Ende April tauchte der Slogan „Nein zum Putsch, nein zur Scharia“ auf.
Die türkische ArbeiterInnenklasse braucht ihre eigene Partei, unabhängig und sozialistisch, um eine Alternative zu den falschen Versprechungen der Islamisten, der Kemalisten und der Armee zu haben.
Claus Ludwig, Mitglied im SAV-Bundesvorstand, sitzt für das ggs (gemeinsam gegen Sozialraub) im Kölner Stadtrat
Krieg in Kurdistan
Der Krieg im türkischen Teil Kurdistans ist seit Jahren nicht mehr in den Schlagzeilen der Medien. Aber er dauert an und wird vom türkischen Militär wieder verschärft. Die zahlreichen von der kurdischen Guerilla ausgerufenen Waffenstillstände wurden ignoriert.
Nichts hat sich verändert. Die wirtschaftliche Lage in den kurdischen Provinzen im Südosten der Türkei ist schlecht, Armee und Polizei agieren als Besatzungsmacht. Immer wieder werden kurdische Politiker ermordet.
Das türkische Militär hatte gehofft, den kurdischen Widerstand im Gefolge der Entführung und Verurteilung des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan zu brechen. Aber die militärischen Einheiten des kurdischen Widerstandes, die „Volksverteidigungskräfte“ (HPG), sind wieder erstarkt – die tägliche Unterdrückung führt dazu, dass sich immer wieder junge Menschen der Guerilla anschließen.
Die SLP und das CWI verteidigen das Recht der KurdInnen auf Selbstbestimmung und die Befreiung von der Besatzung. Wir lehnen allerdings die Beschränkung des Widerstandes auf die nationale Befreiung ab. Eine echte Befreiung für die kurdischen Massen kann es nur geben, wenn Großgrundbesitz und Kapitalismus und damit Unterentwicklung und Armut abgeschafft werden. Wir treten dafür ein, dass der kurdische Widerstand sich an die ArbeiterInnenklasse und die Armen in der Türkei und den anderen Nachbarländern wendet und zum gemeinsamen Kampf der Unterdrückten und Ausgebeuteten aufruft.
Wir treten für ein sozialistisches Kurdistan und eine sozialistische Türkei als Teil einer freiwilligen sozialistischen Föderation von Staaten sowie für die internationale Kooperation bei voller Wahrung der Rechte aller Minderheiten ein.