Landesweite Attacken auf Büros der pro-kurdischen HDP, Diskussionsveranstaltung 15.09.2015

Dieser Artikel erschien zuerst am 9. September auf der englischsprachigen Webseite socialistworld.net

Für den Aufbau einer massenhaften vereinigten Bewegung der ArbeiterInnen zur Beendigung des Krieges!

von Sosyalist Alternatif (Schwesterorganisation der SLP in der Türkei)

Nach ernsthaften Stimmenverlusten bei den Wahlen am 7. Juni, hat Präsident Erdoğan einen brutalen Krieg gegen das kurdische Volk ausgerufen. Dies ist der so genannte „Plan B“ von Erdoğan und seiner regierenden AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung). Ihr Ziel ist es, bei Neuwahlen Anfang November eine Alleinregierung zu stellen, indem sie anti-kurdische Stimmungen anheizen. Dabei soll der pro-kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker) ein Schlag versetzt und Erdoğans autoritäre Macht gestärkt werden. Der Präsident selbst hat seine Ambitionen deutlich klargemacht als er erklärte: „Nichts von dem wäre passiert, wenn wir 400 Sitze im Parlament gewonnen hätten“.

Inzwischen verschlechtert sich die Situation vor Ort täglich. Am 8. September wurden 126 Parteibüros der HDP über das ganze Land verteilt von Banden angegriffen, abgebrannt oder durchwühlt. Die meisten dieser Leute verfügen über Verbindungen zur ultrarechten Partei MHP („Graue Wölfe“), anderen Nationalisten und zur regierenden AKP. Viele einfache KurdInnen und kurdische AktivistInnen waren Angriffen ausgesetzt, die zu einer regelrechten Lynchkampagne ausarteten. Die türkische Polizei, die in den letzten Monaten im großen Stil dazu verwendet wurde, gegen die Aktivitäten der Linken repressiv vorzugehen, hat kaum etwas gegen die Angreifer unternommen.

Diese Angriffe spiegeln den fortlaufenden Krieg wider, den das türkische Regime im kurdischen Südosten entfacht hat. Sie sind das direkte Resultat der provokativen Aussagen und des unverhohlenen Kriegstrommelschlagens von Erdoğans regierender Clique und seiner brutalen Angriffe auf die kurdischen Gebiete. Hunderte von GuerillakämpferInnen der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) wurden getötet, mit ihnen eine wachsende Zahl von ZivilistInnen. Viele junge Wehrpflichtige aus der Arbeiterklasse, die nichts von diesem Krieg haben, starben dabei ebenfalls . Erdoğan und die AKP sind letztlich dabei, mit dem Blut des kurdischen und türkischen Volkes, an der Steigerung ihres eigenen Prestige und der Erfüllung ihrer Machtinteressen zu arbeiten. Dabei riskieren sie das Abdriften des Landes in einen neuen Bürgerkrieg.

Diese Aussicht wird von der überwältigenden Mehrheit sowohl der kurdischen als auch türkischen Bevölkerung abgelehnt. Aber nur eine massenhafte, organisierte und vereinigte Bewegung der türkischen und kurdischen ArbeiterInnen und Jugend kann das fortlaufende Blutvergießen stoppen. Leider spielen die Vergeltungsschläge der PKK in Erdoğans Hände. Sie erschweren die Schaffung einer solchen vereinten Massenbewegung und tragen dazu bei, einen Teil der türkischen Bevölkerung in die Arme von rechten, chauvinistischen und reaktionären Kräften zu treiben. Die HDP muss dringend an der Seite von Gewerkschaften und linken Organisationen Schritte ergreifen, auf den Krieg in großer Art zu reagieren. Sie muss an die Arbeiterklasse, die Armen und die Jugend über ethnische Grenzen hinweg appellieren. Es muss zu Massenprotesten und Streiks aufgerufen werden: gegen den AKP-geführten Krieg, gegen rassistische Angriffe, gegen Polizeigewalt und Terrorismus in all seinen Erscheinungsformen. Multiethnische und demokratisch geführte Initiativen sollten gestartet werden, um die Communities vor zukünftigen Angriffen zu schützen. Die folgende Erklärung, wurde am 6. September von Sosyalist Alternativ (CWI Türkei) veröffentlicht, also zwei Tage vor den landesweiten Angriffen durch rechte Kräfte. (Die Redaktion von socialistworld.net)

Fast jede/r weiß, dass der Plan B Erdoğans, den er vor den Wahlen am 7. Juni verkündete, entfesselt wurde. Erdoğan will durch die Ausnutzung der derzeitigen chaotischen Atmosphäre bei den Neuwahlen am 1. November die Niederlage der AKP vergessen machen.

Als ersten Schritt machte Erdoğan Neuwahlen sicher, indem er die Möglichkeit einer Koalition der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) mit anderen bürgerlichen Parteien verunmöglichte. Parallel dazu löste er die militärischen und politischen Operationen gegen die PKK aus. Mehr als 100 Distrikte (alle in der kurdischen Region) wurden zu „Sicherheitszonen“ erklärt. In vielen Städten, wie Varto, Yuksekova, Cizre u. a., werden immer noch Ausgangssperren verhängt. Mehr als 150 Soldaten, PolizistInnen, GuerillakämpferInnen und ZivilistInnen verloren schon ihr Leben. Tausende wurden verhaftet. Hunderte davon befinden sich immer noch in den Gefängnissen und warten auf ihre Gerichtsverhandlungen. Evakuierungen von Dörfern in den Gebieten halten an. Doch es wird nicht eingegriffen, um die sich ausbreitenden Flächenbrände zu bekämpfen, die durch Flächenbombardements der Luftwaffe ausbrachen – Regierungskräfte hielten sogar die Feuerwehrleute bewusst davon ab, ihre Arbeit zu tun. In den Stadtzentren der betreffenden Gebiete sah man Straßenkämpfe, die denen in Syrien ähneln.

Das Scheitern einer Regierungsbildung und die Beerdigungen von Soldaten aus der Westtürkei, die in den bewaffneten Kämpfen starben, stärken das „Das liegt daran, dass wir kein Präsidialsystem haben“-Argument, welches Erdoğan und seine UnterstützerInnen den Massen vortragen, die nun einem neuen inneren Krieg in die Augen sehen. Das Ziel der AKP und Erdoğans ist durch Anheizen des türkischen Nationalismus, Massenunterstützung zu erhalten. Mittel dafür sind zum einen Soldatenbegräbnisse und zum anderen die Schwächung der HDP auf der Wahlebene sowie ihre politische Diskreditierung.

Erdoğan hat zwei Jahre der Abrüstung und des Friedensverhandlungen durch eine scharfe 180 Grad-Wendung im letzten März beendet. Nur ein paar Tage bevor die Verhandlungen auf Befehl Erdoğans beendet wurden, wurde ein Konsens über die „Roadmap“ erklärt, sowohl von der Regierung als auch vom „Pressesprecher“ des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan. Das war am 28. Februar, im Domabahçe-Palast. Nach diesem Treffen stellte Erdoğan sofort zufrieden fest, dass es jetzt „keine kurdische Frage mehr“ in der Türkei gäbe. Es ist sehr gut bekannt, dass der Grund für diesen Geistesblitz darin zu suchen war, dass Meinungsumfragen gerade darauf hindeuteten, dass es eine Wegbewegung kurdischer WählerInnen von der AKP hin zur pro-kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker) geben würde.

Die AKP benutzte die „friedliche Lösung“ der kurdischen Frage während der 13 Jahre andauernden AKP-Regierungszeit, um die kritischen Phasen der lokalen und landesweiten Wahlen zu bestehen. Sie machte dies, indem sie mit kleinen Zugeständnissen an die KurdInnen deren demokratische Forderungen zu zähmen suchte. Die Wahl vom 7. Juni war die letzte Hürde die Erdoğan nehmen musste, bevor er die Umwandlung des Landes in ein Präsidialsystem komfortabel einleiten konnte, die ihm autokratische Befugnisse gegeben hätte. Aber massenhafte Opposition entwickelte sich, besonders in den letzten drei Jahren, gegen die korrupte, unterdrückerische und antidemokratische Regierung. Dies verhinderte die Umsetzung von Erdoğans gewünschter Strategie. Dass die AKP die zweitstärkste Partei in den kurdischen Städten war, war über die 13 Jahre ihrer Herrschaft ein stützender Faktor für sie. Aber die anti-kurdische Haltung der AKP, besonders gegen Rojava, hat sie entlarvt und hat Illusionen unter ihren kurdischen UnterstützerInnen zerstört.

Am 20. Juli wurden 33 junge Leute in Suruç von IS-Leuten massakriert, wenn auch der IS sich nie offiziell dazu bekannt hat. Die jüngsten Entwicklungen haben den Verdacht geschürt, dass dieses Massaker der Startpunkt von Erdoğans Plan B war. Die AKP-Übergangsregierung (bis zur Neuwahl) hat sofort eine Militäroperation gegen die PKK, den IS und eine kleine linke terroristische Gruppe namens DHKP/C gestartet. Hunderte wurden inhaftiert. Die provisorische AKP-Regierung hat erfolgreich die Wahrnehmung geschaffen, dass die Türkei zur Zielscheibe von Terroristen geworden sei und dass sein Ziel sei, alle terroristischen Organisationen auszulöschen. Doch nach einer oder zwei scheinbar großen Luftschlägen gegen IS-Kräfte, richteten sich alle Bombardements gegen die Gebiete der PKK.

Die militärischen Angriffe der PKK treiben die Arbeiterklasse in die Hände der rechten Nationalisten

In Ceylanpınar, nahe Kobane, wurden zwei Tage nach dem Massaker in Suruç zwei Polizisten in ihrem Bett getötet. Die PKK hat diese Angriffe ausgeführt, aber ihre Beteiligung später bestritten. Doch es war zu spät. Darauffolgend übte die PKK einen Selbstmordanschlag mit einem Auto aus, nach Art der Vorgehensweise islamistischer terroristischer Organisationen, wie IS oder Al Quaida. Manche KommentatorInnen merken an, dass die PKK die terroristischen Methoden des IS kopiert. Jeden Tag gibt es neue Berichte über Tote auf Grund der folgenden Auseinandersetzungen. Die Medien zeigen die Situation in den kurdischen Städten mit einer einseitigen Perspektive und geben ihnen wenig Beachtung. Aber es gibt viele Berichte über Beerdigungen von Soldaten und Polizisten, mit dem Ziel, die Emotionen der ZuschauerInnen zu nutzen. Wenn die Medien über zivile Tote berichten, verschweigen sie wer die Angreifer waren. So entsteht der falsche und einseitige Eindruck, dass die PKK für alle zivilen Toten verantwortlich sei. Dies schafft wachsende Wut auf die PKK und diese Wut richtet sich auch gegen allen gewöhnlichen KurdInnen.

Die Wut auf die AKP wächst ebenfalls und wurde auch sichtbar bei den jüngsten Beerdigungen von Armee- und Polizeiangehörigen. Aber diese Wut wird auch von ultrarechten Nationalisten ausgenutzt, die den Krieg gegen das kurdische Volk unterstützen. Diese NationalistInnen kritisieren die AKP, aber nicht wegen der Beendigung der Friedensverhandlungen, sondern wegen der Konzessionen, die sie gegenüber den KurdInnen gemacht hat und dafür, nicht hart genug gegen sie vorzugehen. Alle sprechen über die nahende Gefahr des Bürgerkrieges.

Wir sprechen dabei von einem Bürgerkrieg, der dem in Jugoslawien nahe kommen könnte, also einhergehend mit ethnischem Abschlachten zwischen der türkischen und kurdischen Arbeiterklasse. Diese Art von Schlächterei kann nur durch Einheit der Arbeiterklasse abgewendet werden. Jedoch unterminiert die Taktik der PKK solch eine Einheit. Obwohl sie jüngst erklärt hat, dass diese Art von Angriffen nicht akzeptabel seien, halten gewöhnliche Menschen diese Beteuerungen nicht für überzeugend.

Der beste Weg, die fortlaufenden Angriffe der türkischen Streitkräfte aufzuhalten, liegt im Aufbau einer vereinten Massenbewegung aus beiden Nationalitäten. Durch das Versäumnis der PKK, solch einen gemeinsamen Kampf einzufordern und durch die Fortsetzung ihrer gezielten Tötungen, müssen ihre Appelle an die türkische Arbeiterklasse und an die Armen in der Türkei, den Wehrdienst zu verweigern, auf taube Ohren stoßen.

Sosyalist Alternatif unterstützt bedingungslos die demokratischen Forderungen der KurdInnen. Dies beinhaltet das Recht auf Lostrennung. Doch egal ob sie Lostrennung oder ein Verbleiben im türkischen Staatsverband bevorzugen – einzige Verbündete im Kampf ist die türkische Arbeiterklasse. Es gibt nur einen Weg, diese Allianz zu schaffen: nämlich die politische Gewinnung der türkischen Arbeiterklasse. Zwei Jahre ohne Konflikte haben den Weg dafür bereitet. Die Gezi-Bewegung war ein Beispiel für diese Allianz; der sensationelle Wahlsieg der HDP war ein weiteres Beispiel. Was jetzt zu tun ist, ist den Kampf auf dieser Basis zu organisieren. „Die Reichen werden weder Soldaten noch Märtyrer werden“ wurde von einem Soldaten gesagt, während er der Mutter eines anderen Soldaten, die ihren Sohn verloren hatte, auf einem Gefallenenbegräbnis Trost spendete. Dieses Klassenverständnis existiert in großen Teilen der Gesellschaft, selbst wenn es in dieser Phase noch in einem intuitiven Stadium verbleibt. Der kurdische Befreiungskampf muss mit dem Kampf der türkischen Arbeiterklasse vereint werden. Ein Handeln nach dieser Linie in der Türkei kann ein Lichtstrahl werden, der aus der gegenwärtige herrschenden Düsternis in Nahost hinausführt.

Wir sagen:

• Nein zum AKP-geführten Krieg – sofortige Beendigung aller militärischen Operationen!

• Nein zu rassistischen Angriffen auf die KurdInnen – die wirklichen Feinde sind die, die das Land regieren!

• Die PKK sollte sofort alle ihre Angriffe beenden!

• Bauen wir eine Massenbewegung gegen die Krieg von Unten auf, in der demokratische und soziale Forderungen der Arbeiterklasse vereinigt werden

• Nein zur Schaffung einer imperialistischen Pufferzone durch die Türkei und die USA!

• Stopp der Unterstützung dschihadistischer Gruppen durch die Türkei!

• Beginnt den gemeinsamen Kampf der türkischen und kurdischen Arbeiterklasse gegen dschihadistische Angriffe und gegen die kriegstreiberische AKP-Regierung!

• Kampf für eine demokratische und sozialistische Föderation des Nahen Ostens, auf einer freiwilligen Basis. Gegen Unterdrückung und Kapitalismus!