Fr 31.03.2023
Dieser Artikel wurde am 27. März auf englisch veröffentlicht. Auch wenn sich seither die Ereignisse überschlagen ist diese Analyse weiterhin gültig. Wir veröffentlichen aber laufend Updates.
Dies sind die Folgen der erneuten Machtübernahme eines geschwächten Netanjahu, der ein Bündnis mit den jüdischen Ultraorthodoxen und der extremen Rechten eingegangen ist. Dies ist der schwerwiegendste politische Konflikt in der Geschichte des Staates Israel und stellt die Grundlagen des Systems der Herrschaft über die "offizielle" Bevölkerung in Frage. In diesem System existiert eine Form der diskriminierenden bürgerlichen Demokratie neben verschiedenen Formen der polizeilichen und militärischen Kontrolle über die palästinensische Bevölkerung in den Gebieten von '67.
Es sind die letzten Tage der Winterperiode der Knesset, des israelischen Parlaments. Die neue Regierung von Netanjahu befindet sich teilweise auf dem Rückzug und ist offen zerstritten über ihren geplanten "Justizputsch". Dieser Versuch, nach der Macht zu greifen, ein Element eines "Staatsstreichs von oben", bei dem eine Regierung, die mit weniger als 50 % der Stimmen gewählt wurde, eine Mehrheit von vier Sitzen in der Knesset in Anspruch nimmt, war ursprünglich mit einer Reihe von Gesetzesentwürfen zur Gegenreform der Justiz geplant. Neben anderen reaktionären Gesetzen zielt die Reform im Wesentlichen darauf ab, die Kontrolle der Regierung über die Justiz und insbesondere über den "Obersten Gerichtshof" (Bagatz, dieser übernimmt quasi die Rolle eines Verfassungsgerichts) zu stärken. Damit würde das politische Regime in Israel in eine autoritärere, bonapartistische Richtung gelenkt.
Die unpopuläre, schwache Regierung hat jedoch das Potenzial für eine Widerstandsbewegung unterschätzt. Sie hat eine unermüdliche israelische Massenbewegung losgetreten, die ihrerseits auf eine beispiellosen Gegenwehr der herrschenden kapitalistischen Klasse und des Staatsapparats gestoßen ist. Ein möglicher Konflikt zwischen der Regierung und dem Obersten Gerichtshof hat sie nun an den Rand einer "Verfassungskrise" gebracht. Der Oberste Gerichtshof könnte die von der Regierung erlassenen Gesetze als "verfassungswidrig" aufheben und dann seinerseits von der Regierung ausgehebelt werden. Damit wäre es möglich, dass der Staatsapparat, mitsamt der Streitkräfte, sich auf die Seite des Obersten Gerichtshofs und nicht auf die der Regierung stellen könnte. Unter Druck deutet die Regierung Netanjahu nun an, dass sie sich angeblich an jede Bagatz-Entscheidung bezüglich der von ihr geplanten Gesetze halten würde. Für einige in der Regierung scheint dies ein sicherer Weg zu sein, die Krise zu überwinden und die Regierung zu stabilisieren. Dies könnte jedoch die Regierungskoalition zerreißen, da der Justizminister und andere aus seinem Umfeld, die mehr auf Eskalation setzen, dies als inakzeptables Zugeständnis betrachten würden. Sie gehen davon aus, alle Möglichkeiten ihrer Machtposition voll ausschöpfen zu können.
Netanjahus sechste Regierung ist auch dem wachsenden Druck des US-Imperialismus und seiner regionalen Verbündeten ausgesetzt. Diese fürchten insbesondere die Folgen der von der Regierung eifrig vorangetriebenen Verschärfung der militärischen Besatzung und der kolonialen Besiedlung, nicht zuletzt durch blutige Razzien im Herzen des Westjordanlandes. Diese lösten mehrere breite palästinensische Proteststreiks und Demonstrationen aus, auch vor dem Hintergrund einer steigenden Anzahl von Todesopfern: Seit Anfang 2023 haben israelische Besatzungstruppen etwa 90 Palästinenser*innen im Westjordanland und in Ostjerusalem getötet.
Unterdessen ist die Zahl der im nationalen Konflikt getöteten Israelis auf 14 angestiegen, ohne dass die israelische Massenbewegung dadurch gestoppt worden wäre. Darüber hinaus wurde die israelische Polizei, die zur Unterdrückung israelischer Demonstrierender eingesetzt wurde (mit Wasserwerfern, Blendgranaten, Verhaftungen), immer wieder mit dem Slogan: "Wo wart ihr in Huwara?" empfangen - eine Anspielung auf den pogromartigen Überfall israelischer rechtsextremer Siedler*innen auf die palästinensische Stadt Ḥuwara (حوّارة) im Westjordanland am 26. Februar. Diese Stimmung ist da, obwohl die Führung der Bewegung durch das Finanzkapital, ehemalige Generäle und etablierte Parteien der "Mitte" vereinnahmt worden ist. Das hat zu einem reaktionären Wettstreit in der Bewegung geführt, wer gegenüber der israelischen Regierung die größeren "Patriot*innen" seien. Dazu gehörte das gezielte Überfluten der Proteste mit israelischen Flaggen in einem Ausmaß, das man früher nur von Auftritten der kolonialen Siedlerbewegung kannte. Es kam auch zu Angriffen gegen palästinensische Flaggen bei den Demonstrationen. In diesem Zusammenhang wurde auch ein Mitglied von Socialist Struggle (ISA in Israel-Palästina) von einem Anhänger des "Zentrums" angegriffen, weil wir mit einem gesellschaftsübergreifenden Programm der Arbeiter*innenklasse für die Ausweitung des Kampfes "für Demokratie", gegen die Herrschaft des Kapitals und gegen die Besatzung interveniert haben und auch, weil wir Demonstrierende, die palästinensische Fahnen schwenkten, gegen Angriffe verteidigt haben.
Die Krise des Besatzungsregimes verschärft sich
Die Regierung Biden hat die Netanjahu-Regierung offen aufgefordert, ihre Justizreform zu stoppen und ihre provokativen Aktionen gegen die Palästinenser*innen zu unterlassen. Im Januar hat Biden für eine Reihe von Besuchen in Israel gesorgt - durch US-Außenminister Blinken, den nationalen Sicherheitsberater Sullivan und den CIA-Direktors Burns. Berichten zufolge boten sie Netanjahu einen Deal an: die Einstellung der Justizreform, die Beibehaltung des Status quo in Al-Haram Al-Sharif/Tempelberg (dem Gelände der Al-Aqsa-Moschee) und die Einschränkung der Siedlungsaktivitäten im Abtausch gegen eine verstärkte Zusammenarbeit bei Maßnahmen gegen den Iran und bei der israelisch-saudischen Normalisierung. Der US-Botschafter in Israel, Nides, bestätigte diese Linie. Ohne Erfolg. Nach der Erklärung Israels zu umfangreichen Bautätigkeiten in den kolonialen Siedlungen und der offiziellen Legalisierung von neun ehemals illegalen Siedlungs-"Außenposten" - ein bedeutender Schritt der schleichenden Annexion - unterzeichneten die USA eine sanfte Kritik durch den UN-"Sicherheitsrat". Dies geschah jedoch anstelle einer formellen Abstimmung über eine von den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) vorgeschlagene offene Resolution zur Verurteilung der Vorgänge - jener VAE, die im Jahr 2020 an der Spitze der Normalisierung ihrer Beziehungen zum israelischen Kapitalismus gestanden hatte.
In Aqaba (26. Februar) und Sharm El-Sheikh (19. März) wurden zwei Dringlichkeitsgipfel einberufen, bei denen Abgesandte der USA, Ägyptens, Jordaniens und der Palästinensischen Autonomiebehörde, die quasi im Schlepptau mitgenommen worden war, Vertreter*innen Netanjahus – nicht seiner Regierung – und des israelischen Sicherheitsapparats direkt unter Druck setzten.
Das Gipfeltreffen in Akaba entpuppte sich innerhalb weniger Stunden als große Farce. Die Vertreter*innen Netanjahus verpflichteten sich zu dem zynischen, hohlen Zugeständnis, den neuen kolonialen Siedlungsbaus für vier Monate einzufrieren (mit Ausnahme des oben erwähnten umfangreichen Baus, der genehmigt worden war), woraufhin der rechtsextreme israelische Minister für Finanzen und Siedlungen, Bezalel Smotrich, twitterte, dass nichts dergleichen geschehen werde. Nach dem Amoklauf rechtsextremer israelischer Siedler*innen in Huwara am selben Abend erklärte er, dass "das Dorf Huwara ausgelöscht werden sollte, ich denke, dass der Staat Israel das tun sollte". Daraufhin boykottierte die Biden-Administration seinen Besuch in den USA, da sie trotz ihrer entscheidenden praktischen Hilfe bei der Unterdrückung von Millionen Palästinenser*innen nicht zulassen kann, dass sie unmittelbar mit solchen Elementen in Verbindung gebracht wird. Diese offene Erklärung, die die Logik des zionistischen Chauvinismus auf die Spitze treibt, befeuerte ihrerseits die Welle von Drohungen seitens israelischer Militärpilot*innen und Eliteeinheiten, den Dienst zu verweigern, was wiederum die Legitimationskrise der israelischen Regierung noch verschärfte. Ein ähnlicher Trend könnte sich bei einem Teil der einfachen Reservist*innen entwickeln, auch im Falle einer militärischen Eskalation.
Das Gipfeltreffen in Sharm El-Sheikh, kurz vor Beginn des Ramadan (23. März), endete mit dem erneuten leeren Versprechen eines viermonatigen Einfrierens der Siedlungsaktivitäten als Zeichen der "Verpflichtung". Smotrich, der sich gezwungen sah, sich mit rhetorischen Verdrehungen von seinen früheren Äußerungen zu Huwara zu distanzieren, lehnte diesen Schritt nicht offen ab. Stattdessen hielt er bei einer Konferenz in Paris eine Rede auf einem Podium, wo eine Karte einer maximalistischen Version von "Groß-Israel" abgebildet war, die das historische Palästina und das heutige Jordanien umfasst, und erklärte, dass "es so etwas wie ein palästinensisches Volk nicht gibt... Diese Wahrheit sollte hier im Élysée-Palast gehört werden, sie sollte auch vom jüdischen Volk im Staat Israel gehört werden, das ein wenig verwirrt ist, und diese Wahrheit sollte im Weißen Haus in Washington gehört werden". Offiziell wurde diese Äußerung in Statements aus den USA, der EU, China, Jordanien, Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien verurteilt. Das jordanische Parlament stimmte in einer Sitzung, in der eine Karte mit der jordanischen Flagge und dem historischen Palästina gezeigt wurde, für die Ausweisung des israelischen Botschafters. Die saudische Monarchie verschärfte ihre Rhetorik, um "die rassistischen Äußerungen eines Spitzenbeamten der israelischen Besatzungsregierung gegen das palästinensische Volk anzuprangern". Nur einen Tag nach dieser Rede verabschiedete die von der israelischen Regierung kontrollierte Knesset ein Gesetz, das es Siedler*innen erlaubt, in die 2005 "geräumten" Gebiete im nördlichen Westjordanland zurückzukehren.
Erschwerend kam hinzu, dass die saudisch-iranischen Verhandlungen in einer Entspannung und der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen gipfelten, was in Peking verkündet wurde - eine Aufwertung der regionalen Rolle des chinesischen Imperialismus. Diesem Abkommen soll ein Gipfeltreffen zwischen dem Iran und dem Golf-Kooperationsrat (GCC) in Peking folgen. Obwohl Washington zuvor neue Sanktionen gegen Firmen, auch aus China, verhängt hat, die den iranischen Export fossiler Brennstoffe erleichtern, wird durch diese neue Verschiebung in den regionalen Beziehungen der frühere iranische "Atomdeal" (JCPOA) noch tiefer begraben und die vom israelischen Imperialismus unter US-imperialistischer Schirmherrschaft angestrebte "anti-iranische Front" in der Region weiter abgebaut. Dies würde die geostrategischen Bestrebungen des israelischen Regimes nach Normalisierung mit Saudi-Arabien und einen möglichen israelischen Militärschlag gegen iranische Atomanlagen erschweren.
Der von der gegenwärtigen israelischen Regierung eingeschlagene Kurs heizt die internationale öffentliche Meinung gegen die israelische Besatzung weiter an. Aus einer Gallup-Umfrage (16. März) geht hervor, dass zum ersten Mal in diesem Jahrhundert die Anhänger*innen der Demokratischen Partei in den USA, nach einem Jahrzehnt abnehmender Sympathien für Israel, nun mit den Palästinenser*innen sympathisieren. Diese Entwicklung trägt dazu bei, dass die Unterstützung des US-Imperialismus für das israelische Regime relativ stark zurückgeht. Das ist ein Beispiel dafür, wie Netanjahus Regierungskoalition mit der extremen Rechten, die aus einer Systemkrise hervorgegangen ist, den israelischen Kapitalismus ins Chaos stürzt. Der Hungerstreik der palästinensischen Gefangenen, der von einem Gefangenenkomitee für den Beginn des Ramadan geplant war, nachdem der rechtsextreme Minister für "Nationale Sicherheit" Ben-Gvir eine Verschlechterung ihrer Haftbedingungen diktiert hatte, ist derzeit aufgrund von Zugeständnissen der ängstlichen israelischen Gefängnisbehörde ausgesetzt.
Das israelische "Institut für Nationale Sicherheitsstudien" (INSS) hat eine außerordentliche "Strategische Warnung" herausgegeben, in der es die israelische Regierung auffordert, ihre reaktionäre Justizreform zu stoppen, da sie ihrer Ansicht nach die Fähigkeit des Staates behindert, mit "einer unheilvollen Kombination aus schwerwiegenden Bedrohungen für seine nationale Sicherheit, sich ausweitenden Rissen in seinen Beziehungen zu den USA und zunehmenden wirtschaftlichen Risiken inmitten der globalen Wirtschaftskrise" fertig zu werden. Zuvor hatte sich der Generalsekretär der rechtspopulistischen Hisbollah im Libanon, Nasrallah, über die Krise des israelischen Regimes lustig gemacht und erklärt, dass "das strategische Umfeld und die derzeitige törichte Regierung die Dinge in zwei große Zusammenstöße treiben, den ersten innerhalb Israels und den zweiten mit den Palästinenser*innen, und das kann sich auf die gesamte Region ausweiten”. Spekulationen zufolge handelte es sich um ein gemeinsames Unternehmen der Hisbollah und der Hamas, als eine aus dem Libanon kommende Bombe im Norden Israels gezündet und ein palästinensischer Bürger Israels verletzt wurde (13. März). Innerhalb weniger Tage fanden Treffen zwischen Nasrallah und der Führung des Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ) und der Hamas statt, wobei ein PIJ-Kommandeur in Syrien ermordet wurde, offenbar durch den Mossad (israelischer Auslandsgeheimdienst).
Die verstärkten staatlichen Terrormaßnahmen Israels gegen die Palästinenser*innen im Westjordanland und in Ostjerusalem könnten zu einem erneuten Aufflammen des Widerstands und militärischer Konfrontationen während des Ramadan führen, bis hin zu einer größeren israelischen Militäroffensive, wie sie im Mai 2021 stattfand. Der Druck wird durch die drohende ethnische Säuberung von 12 Dörfern in Masafer Yatta im Westjordanland, die vom israelischen "Obersten Gerichtshof" genehmigt wurde, und die Zwangsräumungen in Sheikh Jarah noch verstärkt. Das israelische Militär hat mit zynischen, dürftigen zivilen Hilfsmaßnahmen für einen Teil der palästinensischen Bevölkerung, die unter der militärischen Besatzung und Belagerung in den Gebieten von '67 steht, versucht, die Situation taktisch einzudämmen. Dies verblasst jedoch gegenüber dem chauvinistischen Speichel von Elementen in der derzeitigen israelischen Regierung, die darauf aus sind, eine große nationalistische Konfrontation und einen "Sicherheits"-Konflikt auszulösen, der, in gewisser Weise, die israelische Massenbewegung brechen könnte. Provokationen rund um die Al-Aqsa-Moschee oder die böswillige Ausnutzung einzelner terroristischer Anschläge gegen israelische Zivilist*innen, um militärische Aktionen oder welche von rechtsextremen Siedler*innen auszulösen, können ein Pulverfass zum Explodieren bringen.
Die Zunahme des wahllosen Raketenbeschusses durch den PIJ aus dem belagerten Gazastreifen in diesem Jahr deutet auf das Potenzial einer militärischen Eskalation in mehreren Stadien hin. Der relative Anstieg der palästinensischen Mobilisierung für Proteststreiks und Demonstrationen gegen die Besatzung sowie die verstärkten organisierten Aktionen der Arbeiter*innen, einschließlich des jüngsten palästinensischen Lehrer*innenstreiks, und der palästinensischen Jugendlichen, die nach Methoden der Verteidigung durch politischen Kampf suchen, spiegeln jedoch alle den Aufbau eines konkreten Potenzials für einen von Großteilen der Bevölkerung ausgehenden oder sogar Massenkampf gegen die Besatzung wider.
Opposition der israelischen herrschenden Klasse
Der Versuch der 6. Regierung Netanjahu, die Macht in der Justiz an sich zu reißen, weist Parallelen zu den Gegenreformen in der Justiz auf, die in den letzten zehn Jahren in verschiedenen Ländern durchgeführt wurden, um mehr Macht in der Regierung zu konzentrieren und die politischen Regime in eine bonapartistische Richtung zu verändern. In ihrem Bestreben, die Macht zu konzentrieren, sind Netanjahu und seine Regierung jedoch eine Antithese zu den Modellen des "starken Führers" und der "starken Regierung", die Erdoğan, Orban, Putin oder die polnische PiS auf dem Höhepunkt ihrer Macht repräsentierten. Anders als diese hat Netanjahu keinen bedeutenden Flügel der herrschenden Klasse hinter sich. Er wird sogar in einer noch nie dagewesenen Weise vom Kapital, dem Staatsapparat und der Militär- und Sicherheitselite offen bekämpft.
Der Präsident des “Obersten Gerichtshofs” wetterte öffentlich gegen die Agenda der Regierung. Der Generalstaatsanwalt stellte die Rechtsgrundlage für mehrere Maßnahmen der Regierung in Frage und verärgerte damit die Minister*innen, die u. a. einen Versuch des Ministers für "nationale Sicherheit" Ben-Gvir vereitelten, den Polizeichef der Region Tel Aviv zu entlassen, weil er angeblich nicht hart genug gegen Demonstrationen vorgegangen war. Auf Druck des Mossad und des Militärs wurde erklärt, dass alle außer hochrangigen Offizier*innen an der Bewegung gegen den "Justizputsch" teilnehmen können.
Die wichtigsten Kapitalverbände forderten offen, dass die Regierung ihre juristischen Maßnahmen zurücknimmt. High-Tech-Unternehmen drohten mit Kapitalflucht, die einige Dutzend in begrenztem Umfang durchgeführt haben, wobei schätzungsweise mehrere Milliarden USD ins Ausland transferiert wurden. Dies hat zum Teil auch mit der Schwächung des Schekels gegenüber dem US-Dollar zu tun, die die Kosten für Importe in Zeiten der Lebenshaltungskostenkrise in die Höhe treibt.
Der High-Tech-Sektor macht den größten Teil der israelischen Exporte und etwa 15 % des BIP aus, was dem kapitalistischen Branding des israelischen Kapitalismus als "Start-up-Nation" diente. Jetzt ist der politische Konflikt ein Katalysator für eine wirtschaftliche Verlangsamung, die durch eine Verlangsamung des globalen Technologiesektors und der Wirtschaft im Allgemeinen verstärkt wird. Obwohl die israelischen Banken im vergangenen Jahr dank steigender Zinsen einen Rekordgewinn von über 22 Milliarden Schekel erzielten und nicht so dereguliert und gefährdet sind wie ihre US-amerikanischen Pendants, stellen sich ihre Tycoon-Eigentümer auch offen gegen den Justizplan der israelischen Regierung und sind besorgt über die weitreichenden Auswirkungen auf das Finanzkapital in Israel, die mögliche Herabstufung durch die Rating-Agenturen, den Rückgang ausländischer Investitionen und ein Rezessionsszenario. Der Gouverneur der Zentralbank warnte, dass jederzeit eine Wirtschaftskrise ausbrechen könne. Das Großkapital traf sich mit Netanjahu und Spitzenpolitiker*innen des Likud, um vor den Auswirkungen des Justizplans zu warnen. Dies und der Druck innerhalb des Militärs und einer fragenden und schwindenden Wähler*innenbasis haben die Spaltung an der Spitze des Likud verschärft, wobei einige darauf drängen, die Gesetzgebung einzufrieren. Sicherheitsminister Galant, ein ranghohes Likud-Mitglied, rief dazu auf, den Gesetzgebungsprozess zu stoppen, und wurde von Netanjahu entlassen, um die Gesetzgebung voranzutreiben, was jedoch nur noch mehr Öl ins Feuer goss.
Zuvor hatte Staatspräsident Herzog einen "Kompromiss" vorgeschlagen, der von der Regierung umgehend abgelehnt wurde, aber die Unterstützung der herrschenden Klasse fand. Sein Programmentwurf war ein Versuch, dem israelischen Kapitalismus einen stabilisierenden Weg aus der akuten politischen Krise zu bieten. Es enthielt Elemente aus dem Regierungsprogramm, nämlich die Stärkung der Regierung gegenüber der Justiz sowie ein komplexeres Verfahren für die Verabschiedung der "Grundgesetze", die als Quasi-Verfassung in der Entstehung zu begreifen sind.
Natürlich geht es diesen Verfechter*innen der Diktatur des Kapitals und der Diktatur der Besatzung nicht darum, die demokratischen Rechte der Arbeiter*innenklasse und der Unterdrückten zu verteidigen. Ihnen geht es vor allem darum, dass die Macht in den Händen der kleinbürgerlichen, rechtspopulistischen und rechtsextremen politischen Kräfte konzentriert wird, die derzeit die Regierung steuern.
Von der "Verfassungsrevolution" zum "Justizputsch"
Je mehr sich das politische Regime Israels destabilisierte, desto mehr übernahm der Bagatz eine größere Rolle als Regulator des politischen und legislativen Prozesses. Dies geschah vor allem seit den 1980er Jahren, als die Hegemonie der "Labor"-Partei zusammenbrach, die neoliberale Konterrevolution aufkam, sich der Widerstand der Arbeiter*innenklasse entwickelte, die Hyperinflation zunahm, der verheerende Libanonkrieg von 1982 und die Antikriegsbewegung stattfand, die neofaschistische Kahan-Bewegung aufkam und sich schließlich der palästinensische Aufstand der ersten Intifada ereignete. Der Bagatz war natürlich nie eine fortschrittliche Hochburg, da es im Grunde ein Apparat zur Aufrechterhaltung der Gesetze des Kapitalismus und des zionistischen Chauvinismus ist. Obwohl er von Zeit zu Zeit eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der Regierung zuließ, diente er immer wieder als Stempel für brutale Angriffe gegen die Arbeiter*innenklasse und die Unterdrückten und um die Verbrechen der Besatzung und der Enteignung der palästinensischen Massen zu beschönigen.
Die Hinwendung des Bagatz zum "juristischen Aktivismus" wurde 1992 vor dem Hintergrund der sich verschärfenden politischen Krise mit der Verabschiedung des "Grundgesetz: Freiheit der Arbeit" und "Grundgesetz: Menschenwürde und Freiheit" in der Knesset, sowie durch das kurzlebige Experiment zur Direktwahl des Ministerpräsidenten deutlich.
Die sehr dünnen Bürger*innenrechts-"Verfassungs"-Gesetze kamen nach Jahrzehnten, in denen keine "Charta der Freiheiten" verabschiedet werden konnte. Der Staat Israel hat aufgrund der nationalen und religiösen Widersprüche, auf denen er gegründet wurde, kein offizielles Verfassungsdokument. Nach 1948 und der barbarischen Nakba, als die palästinensischen Bürger*innen Israels noch unter Militärherrschaft standen, wurde in der Erklärung des Staates Israel ursprünglich angeordnet, dass die verfassunggebende Versammlung eine Verfassung ausarbeiten sollte. Doch Ben-Gurion entschied sich schnell dagegen. Er behauptete, man brauche keine "Erklärung der Freiheiten", sondern ein "Gesetz der Pflichten", und war besorgt, dass die Justiz dazu benutzt werden könnte, "verfassungsmäßige" Gesetze aufrechtzuerhalten und Regierungsmaßnahmen abzuwürgen - insbesondere infolge von Klagen palästinensischer Bürger*innen Israels oder oppositioneller Minderheitselemente auf Seite der Linken ("Kommunistische Partei") und der Rechten (Herut, der Vorgänger des Likud). Der historische Führer der Herut, Menachem Begin, stand an der Spitze einer schwachen Opposition auf der rechten Seite der Regierung und verlangte im Gegensatz zur heutigen Propaganda des Likud, dass die Justiz in der Lage sein sollte, Gesetze aufzuheben, die gegen die Bürger*innenrechte verstoßen, die in den Worten der Verfassungsgesetze versprochen werden. Ein Kompromiss bestand darin, dass die Knesset schrittweise "Grundgesetze" erlassen würde, die als angebliche Grundlage für eine künftige Verfassung gelten sollten, obwohl diese zunächst nur einen semantischen Unterschied zur normalen Gesetzgebung darstellten.
Die Grundgesetze von 1992 basierten auf einem Kompromiss der "liberalen" bürgerlichen Kräfte mit den Parteien der jüdischen religiösen Rechten und waren Teil eines Versuchs, das politische Regime Israels zu stabilisieren und zu "normalisieren". Obwohl in der Gesetzgebung taktisch ausgelassen wurde, dass die Justiz ermächtigt werden sollte, "verfassungswidrige" Gesetze aufzuheben, war dies das von den Hauptinitiator*innen, den etablierten Parteien einschließlich eines Flügels des Likud, aus beabsichtigte Ergebnis. Der Bagatz hat diese Rolle seit 1995 übernommen, in einer vom damaligen Präsidenten des Obersten Gerichtshofs ausgerufenen "Verfassungsrevolution", die in Wirklichkeit eine blutarme Reform war. Bislang wurden 22 Gesetze für ungültig erklärt.
Diese Verfassungsreform versprach formell einige Rechte, wie das Recht auf Menschenwürde (angesichts von zwei Millionen Bürger*innen in Armut und Millionen weiterer unter schlimmen Bedingungen unter der Besatzung) oder das Recht, nicht willkürlich inhaftiert zu werden (während Israel regelmäßig Palästinenser*innen ohne Gerichtsverfahren in "Verwaltungshaft" nimmt). Mit der Reform wurde aber auch die Macht der religiösen Gerichte verewigt, und zum ersten Mal wurde in der Gesetzgebung die Formulierung "jüdischer und demokratischer Staat" verwendet, um zu unterstreichen, dass die liberalen Versprechen entsprechend den Interessen der herrschenden Klasse national-religiösen ideologischen Erwägungen unterworfen würden. Die Grundgesetze verteidigen gegen die Schädigung des "Eigentums", im Wesentlichen für die Besitzenden gegen die Besitzlosen, und für die Freiheit der Arbeit, im Wesentlichen für Arbeitgeber*innen und Selbstständige, räumten aber nicht einmal nominell das Recht ein, sich zu organisieren und zu streiken, ganz zu schweigen von den sozialen und materiellen Rechten.
In den folgenden Jahren, als der Bagatz seine Autorität als Selbstverteidigungsmechanismus des israelischen Kapitalismus gegen eine Destabilisierung weiter ausbauen konnte, wurde die lange Kampagne von rechtsradikalen, ultraorthodoxen und rechtsextremen Elementen zur Rückgängigmachung der Reform und zur Wiederherstellung der Regierung über den Bagatz immer deutlicher. Nach dem "Rückzugsplan" aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 und der zunehmenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Destabilisierung hat sich diese Kampagne beschleunigt und in den letzten Jahren ein neues Ausmaß erreicht. Akzeptierte Appelle an den Bagatz gegen einige der unverblümteren Angriffe auf zum Sündenbock gemachte Minderheiten werden dann demagogisch als Behinderung von Lösungen für soziale oder "Sicherheits"-Probleme dargestellt, wie z. B. Urteile zur Begrenzung der Masseninhaftierung von Asylbewerber*innen aus dem Sudan und Eritrea. Die Destabilisierungstendenzen haben dazu geführt, dass die Regierungen dazu neigen, mehr "verfassungsmäßige" Erfindungen anzustreben, die häufiger in den Grundgesetzen verankert sind, wie etwa der halbjährliche Staatshaushalt oder, auf dem Höhepunkt der Covid-Krise und nach einem parlamentarischen Stillstand, eine "gleichgestellte" gemeinsame Regierung. 2018, als Netanjahu bereits mit Anti-Korruptions-Protesten konfrontiert war und zu rechtspopulistischen Angriffen auf die Justiz überging, gab es neue Versuche, die Macht des Bagatz zurückzuerobern. In diesem Jahr wurde auch das "Staatsangehörigkeitsgesetz" als "Grundgesetz" verabschiedet. Das Gegenteil eines liberalen, abstrakten Versprechens von Bürger*innenrechten, es verankerte die nationale Diskriminierung. Der Bagatz hatte noch nie ein Grundgesetz für ungültig erklärt, aber er begann, den Boden für ein solches Szenario zu bereiten, und damit in Frage stellte, wie herrschende Koalitionen Grundgesetze nutzen, um Gesetze vor einer gerichtlichen Überprüfung zu immunisieren.
Lenin erklärte, dass "eine demokratische Republik die bestmögliche politische Hülle für den Kapitalismus ist" (Staat und Revolution), da sie das höchste Maß an Flexibilität des Systems erlaubt. In dem Maße, in dem jedmögliche Variante des Systems von den Interessen der herrschenden Klasse ausreichend kontrolliert werden kann, würde sie wahrscheinlich vom Kapital bevorzugt werden. Doch gerade die Aushöhlung der bürgerlichen Kontrolle über die politischen Prozesse in dieser Ära hat die "demokratischen" Regimes seit dem letzten Jahrzehnt in stärkerem Maße in eine bonapartistische Richtung getrieben. Die herrschende Klasse Israels ist zwar gegen die Machtübernahme durch die derzeitige Regierung Netanjahu, aber verschiedene Sprecher*innen der herrschenden Klasse haben deutlich gemacht, dass sie es vorziehen würden, wenn die derzeitige politische Krise in einem "Kompromiss" enden würde, der den Vorstellungen des Staatspräsidenten entspricht, dass der Versuch einer Stabilisierung Elemente enthalten würde, die die Regierung stärken und gleichzeitig die Grundgesetze verschärfen würden.
Der Rechtspopulismus nährt sich aus dem Misstrauen der Masse gegenüber der Judikative. Das Vertrauen in den Obersten Gerichtshof wird unter jüdischen Bürger*innen auf 42 % und unter arabischen Bürger*innen auf 39 % geschätzt, während die Vertrauenswerte für die Regierung, die Knesset und die politischen Parteien noch niedriger sind. Die Richter*innen im Elfenbeinturm leben von sehr hohen Gehältern, bis zu 102.000 Schekel (26.000 Euro) pro Monat für die Leiter*innen des Obersten Gerichtshofs und des obersten Arbeitsgerichts - derzeit etwa das 19-fache des Mindestlohns. Der Begriff der Diversifizierung der Richterschaft war in den letzten Jahren ein falscher Deckmantel für rechtsradikale Elemente, die sich für eine Stärkung der Regierung gegenüber des Bagatz einsetzen. Sie meinen damit nicht eine stärkere arabisch-palästinensische Vertretung, die heute lediglich 9 % aller Posten ausmacht, sondern in erster Linie Nicht-Aschkenasische Jüd*innen. Unter einem millionenschweren, korrupten aschkenasischen Premierminister will diese Regierung jedoch zum ersten Mal seit 1953 wieder die volle Kontrolle über die Ernennung von Richter*innen übernehmen, um leichter konservative Richter*innen zur Durchsetzung ihrer Politik ernennen zu können, deren mögliche Auswirkungen in den letzten Jahren in Polen, der Türkei oder den USA beispielhaft vorgeführt wurden. Eine echte Reform des Justizwesens im Interesse der Arbeiter*innenklasse und der Unterdrückten aller Bevölkerungsgruppen müsste radikal sein und darf natürlich nicht der Stärkung einer reaktionären Regierung oder einer bloßen "Diversifizierung" dienen.
Es ist von entscheidender Bedeutung, sich dem gefährlichen "Justizputsch" entgegenzustellen, aber auch zu warnen, dass unabhängig vom Kräfteverhältnis zwischen Justiz und Regierung die Justiz als richterlicher Arm des kapitalistischen Staates, der für die Auslegung der in der Regel von der Regierung erlassenen Gesetze durch eine ausgewählte Elite zuständig ist, niemals grundlegend unabhängig von der Regierung ist. Marx bemerkte, wie in der Revolution der Pariser Kommune von 1871 "die Justizfunktionäre jener Scheinunabhängigkeit beraubt werden sollten, die nur dazu diente, ihre erbärmliche Unterwürfigkeit gegenüber allen nachfolgenden Regierungen zu verschleiern, denen sie ihrerseits den Treueeid geschworen und gebrochen hatten. Wie die übrigen Staatsbediensteten sollten auch die Richter und Staatsanwälte wählbar, verantwortlich und widerrufbar sein." ("Der Bürgerkrieg in Frankreich").
Parallel zu den Militärgerichten, die im Rahmen der richterlichen Apartheid unter der militärischen Besatzung im Westjordanland über die Palästinenser*innen verhängt wurden, fehlt es den israelischen Zivilgerichten an elementaren demokratischen Bestandteilen wie dem Recht auf Geschworene oder sogar einer begrenzten Wahl der Richter*innen durch das Volk. Natürlich setzt die herrschende Klasse im Kapitalismus ihre geballte soziale Kraft ein, um alle demokratischen Mechanismen in der Gesellschaft zu deformieren. Lenin stellte fest, dass die systematische Auswahl der Geschworenen zu seiner Zeit bedeutete, dass "wegen des Ausschlusses der Arbeiter*innen die meisten Geschworenen oft besonders reaktionäre Kleinbürger*innen sind. Diesem Übel muss abgeholfen werden, indem die Demokratie zu ihrer konsequenten und integralen Form weiterentwickelt wird, und nicht, indem die Demokratie grundsätzlich abgelehnt wird" (1912).
Eine grundlegende Skizze, die aufzeigen soll, wie eine alternative, echte israelische Justizreform im Interesse der Arbeiter*innenklasse aussehen könnte, könnte wie folgt aussehen:
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Stoppt den Netanjahu-Levin-Plan. Nein zum Kapern der Macht, um die demokratischen Freiheiten zu beschneiden, nein zu einem autoritären Regime. Kämpfen für die Ausweitung des demokratischen Raums und für eine tiefgreifende Veränderung der Lebenswirklichkeit zugunsten der Arbeiter*innenklasse und der diskriminierten Schichten.
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Schluss mit der Überlastung der und Aufschiebungen in den Gerichten. Die Einstellung von Verwaltungsangestellten, Hilfs- und Unterstützungskräfte etc. und Richter*innen zu einem existenzsichernden Lohn als Grundlage. Investitionen in Infrastruktur und Technologie. Angemessene öffentliche Finanzierung, u. a. durch die Erhöhung der Gerichtsgebühren für Großunternehmen und eine Abgabe für Großkanzleien.
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Ein gleichberechtigteres Gerichtsverfahren. Förderung einer angemessenen Ausbildung und demokratischer Aufsicht über die Polizei, die Staatsanwaltschaft, die Gerichte und den Strafvollzug im Hinblick auf ein gerechteres, rechenschaftspflichtigeres Verfahren als Teil der Bekämpfung von Klassenvorurteilen gegenüber arbeitenden und armen Menschen sowie von sexistischen, rassistischen oder gegen LGBTQI+ Personen gerichteten Vorurteilen. Einrichtung eines Tribunals für Sexualdelikte.
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Demokratische Justizrechte. Anwendung des (nicht vorhandenen) demokratischen Rechts auf Geschworene in israelischen Gerichten - Gewährleistung einer Zusammensetzung die die gesellschaftliche, geschlechtermässige und national gemischten Zusammensetzung der Gesellschaft widerspiegel, mit der Möglichkeit einer Anhörung zur Disqualifizierung wegen Befangenheit. Ausweitung der Dienstleistungen des Amts für Pflichtverteidigung und Begrenzung der Honorare für Anwält*innen. Abschaffung der Freiheitsstrafe als Ersatz für eine Geldstrafe.
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Demokratische Wahlen. Ersetzung der Kommission für die "Wahl" von Richter*innen. Ein substanzielles demokratisches Verfahren für die Wahl und die Möglichkeit der Amtsenthebung, wie z.B. eine Wahlversammlung, die gleichberechtigt und repräsentativ für Minderheiten ist und aus Delegierten besteht, die in allgemeinen Wahlen von jeder lokalen Behörde, von der organisierten Arbeiterschaft und von kommunalen Rechtsorganisationen gewählt werden.
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Demokratisierung des Arbeitsgerichts. Direkte demokratische Wahl der Vertreter*innen der Arbeiter*innenklasse im gerichtlichen Gremium, neben der bereits erwähnten Abhängigkeit aller Richter*innen von demokratischen Wahlverfahren und die Möglichkeit der Amtsenthebung. Ausweitung des Streikrechts, Nein zu Unterlassungsanordnungen.
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Nein zur Ausweitung der Befugnisse der Religionsgerichte. Das Recht auf Zivilehe und Scheidung, auch für gleichgeschlechtliche Paare. Trennung der religiösen Gerichte vom Staat und Betrieb als unabhängige Gemeinschaftsinstitutionen ohne gerichtliche Befugnisse, nur mit unabhängiger Gemeinschaftsfinanzierung. Garantie der Religionsfreiheit und der Trennung von Religion und Staat.
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Nein zu einer "Außerkraftsetzungsklausel", die die Außerkraftsetzung von Grundrechten erlauben würde. Verfassungsmäßige Anerkennung des Rechts auf Gleichberechtigung, Organisations-, Meinungs- und Streikfreiheit sowie des Rechts auf Wohnung, Bildung, Gesundheit, Nahrungsmittelsicherheit und Sozialhilfe. Nein zum Schutz der Eigentumsrechte von Kapitalist*innen auf Kosten der öffentlichen Interesses. Schluss mit der Vertreibung und Enteignung von Einwohner*innen zugunsten von Immobilienmagnaten oder Siedler*innen. Abschaffung des "Nationalitätengesetzes".
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Beendigung der Verwaltungshaft. Schluss mit willkürlichen Verhaftungen und Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren. Schutz des Rechts aller Gefangener auf einen Rechtsbeistand, auf Kenntnis der gegen sie erhobenen Vorwürfe und auf ein faires Verfahren. Abschaffung der Militärgerichte im Westjordanland, ein Ende der Diktatur der Besatzer. Ja zu einem unabhängigen, demokratischen, sozialistischen und gleichberechtigten palästinensischen Staat mit der Hauptstadt Ost-Jerusalem an der Seite eines sozialistischen und demokratischen Israels, das echte Gleichberechtigung für alle garantiert, als Teil des Kampfes für eine sozialistische Veränderung und für den Frieden im Nahen Osten.
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Bekämpfung von antisozialer Kriminalität und Ungleichheit. Umfangreiche Investitionen in die Rehabilitation von Gefangenen und in lokale Gerichte. Verstaatlichung der Banken und der wichtigsten Ressourcen in der Wirtschaft, um die hohen Lebenshaltungskosten und Armut zu bekämpfen, und für qualitativ hochwertige Arbeitsplätze, angemessenen öffentlichen Wohnungsbau sowie gesundheitliche und psychologische Unterstützungsdienste, zusammen mit Sozialhilfe, Bildungs- und Freizeitsangeboten. Übergang zu einer sozialistischen Wirtschaft, die über eine demokratische Planung strukturiert ist, um Ungleichheit und die Herrschaft des Kapitals zu beseitigen und das Wohlergehen aller zu sichern.
Die zentrale Bedeutung der Idee des Generalstreiks
In dieser klassenübergreifenden Bewegung hat das Finanzkapital zusammen mit dem Staatsapparat und der Militär- und Sicherheitselite in außergewöhnlicher Weise energisch interveniert, um sich auf einen Massenkampf und wirtschaftliche Störungen zu stützen, wobei Elemente eines Teilstreiks des Kapitals mit einigen Aufrufen zu einem Arbeiter*innenstreik kombiniert wurden. Dazu gehörte auch der Druck auf die Allgemeine Histadrut, die ultra-zentralistische und gleichzeitig größte Arbeiter*innenorganisation, sich zu mobilisieren. Die rechte Büokratie des Histadrut hatte sich in der aktuellen Eskalation auch in der 13. Woche der Bewegung verweigert.
Dies ist nicht nur ein Versuch der herrschenden Klasse, Teile der Arbeiter*innenklasse und der Mittelschichten für ihre eigenen Ziele zu mobilisieren, sondern auch ein starker Impuls für eine Massenmobilisierung von unten in der bisher umfassendsten und dauerhaftesten israelischen Massenbewegung. Als Indiz für eine Mobilisierung von unten bildeten sich Protestgruppen, die nicht nur aus relativ gut situierten Hightech-Angestellten und Ärzt*innen, sondern auch aus Sozialarbeiter*innen, Krankenpfleger*innen und Lehrer*innen bestanden. Einige Gewerkschaftler*innen haben sich gegen den "Justizputsch" ausgesprochen. Der relativ kleine, aber wichtige unabhängige demokratische Gewerkschaftsverband "Power to the Workers" hat auf seiner Delegiertenversammlung beschlossen, eine Kampagne gegen die Bedrohung des Streikrechts durch rechtsextreme Elemente in der Regierung zu starten, auch wenn er sich nicht offen gegen diesen Plan ausspricht.
In einem Land, in dem "politische Streiks" sogar durch die Entscheidungen der Bagatz selbst verboten sind, war die Idee, einen Arbeiter*innenstreik als Mittel im aktuellen politischen Kampf einzusetzen, von zentraler Bedeutung für die Bewegung. Die Idee eines Streiks im Allgemeinen findet ihren Widerhall in den massenhaften koordinierten Straßenblockaden während der Aktionstage - eine davon zwang Netanjahu dazu, auf seinem Weg zu einem Besuch bei der rechtsextremen italienischen Regierung mit einem Hubschrauber zu einem belagerten Flughafen gebracht zu werden. Sie ist auch bei Student*innengruppen beliebt. Sie spiegelt sich sogar im kleinbürgerlich-nationalistischen Ungehorsam von Reserve-Eliteoffizier*innen im Militär und bei Arbeiter*innen in der Rüstungsindustrie wider, die den Zugang zu ihrer Fabrik blockierten. Obwohl dies an sich nicht fortschrittlich ist, wenn es nicht mit dem Widerstand gegen die Besatzung und die von der Kriegsmaschinerie des israelischen Kapitalismus betriebene Politik verbunden ist, ist es ein Hinweis auf die Tiefe der Legitimitätskrise der gegenwärtigen Regierung und auf das Potenzial für künftige Entwicklungen einer populäreren und weitreichenderen Form des Widerstands im Kontext fortgeschrittener politischer Kämpfe.
Während ein Teil der Kapitalist*innen vorsichtiger ist, als einen Generalstreik explizit zu unterstützen, war die Bourgeoisie im Allgemeinen verzweifelt bemüht, die Idee selbst in den Raum zu stellen. Das ist nicht nur ein Zeichen für ihr Vertrauen in die rechte Führung der Histadrut, der sie zutraut, diese Prozesse zu kontrollieren und zu bändigen. Es schürt auch ungewollt das Gefühl für die Kraft des Massenkampfes und letztlich den Hinweis auf die Macht der Arbeiter*innenklasse, was die künftigen Angriffe der Bourgeoisie gegen "politische Streiks" untergräbt. Anfänglich wurden unter Umgehung der Histadrut-Bürokratie tagelange, begrenzte Proteststreiks nach dem Muster von "Streiks der Bürger*innen" auf individueller Basis organisiert. Jetzt wird in dramatischer Weise ein organisierter, nicht genehmigter Generalstreik der Arbeiter*innen eingeleitet.
Dieser defensive politische Massenkampf mobilisiert sich vor allem aus dem Drang heraus, ein autoritäreres Regime und eine nationalistisch-religiöse Reaktion zu verhindern, die mit Angriffen auf Frauen und LGBTQI+-Personen, religiösem Zwang und unverhohlenem Rassismus einhergehen würde. Pride-Flaggen, feministische Plakate und Performance-Kunst auf der Grundlage der Fernsehserie “The Handmaid's Tale” haben diese Gefühle unterstrichen. Diese sind in der Bewegung natürlich ebenso vertreten wie konservativere, ältere Mittelschichten, die Anhänger*innnen der "politischen Mitte". Obwohl der Klassenantagonismus im Vergleich zur offensiven Massenbewegung gegen die Lebenshaltungskosten im Jahr 2011 etwas zurückgedrängt wurde, hat er sich in gewisser Hinsicht auf einem höheren Niveau entwickelt, mit weniger Naivität gegenüber der Regierung und mit dem Sprung im Verständnis des Potenzials der Waffe des Arbeiter*innenstreiks. Die Proteste schwollen an und entwickelten sich nicht nur in der Metropole Tel Aviv und in Jerusalem, sondern auch in den anderen großen Städten, einschließlich großer Proteste in Haifa und Be`er Sheva, wo es etwas mehr Raum für linke Elemente gab, um zu intervenieren, wobei ausnahmsweise und nicht ohne Gegendruck Redner*innen beteiligt waren, die palästinensische Bürger*innen Israels sind und sich gegen die Besatzung und die nationale Unterdrückung aussprachen.
Das sträfliche Ausweichen der rechten Histadrut-Führung, an der leider auch die linke Hadash/AlJabha (KP-Front) festhält, hat die Bewegung geschwächt. Auch wenn wir nicht in eine Sackgasse geraten sind, bleibt es dabei, dass die Regierung nicht besiegt worden ist. Und die Bourgeoisie hatte relativ freie Hand, ihre eigene Agenda in der Bewegung zu diktieren. Der Histadrut-Vorsitzende behauptete sogar in einer Rede mit dem Verkehrsminister, dass die Regierung keine Bedrohung für die Arbeitnehmer*innen darstelle, kurz bevor er einen sehr schwachen Tarifvertrag für den öffentlichen Sektor abschloss. Zuvor hatte die Histadrut-Führung sogar ihre anämische Kampagne gegen die hohen Lebenshaltungskosten auf Eis gelegt, und das auf dem Höhepunkt einer Lebenshaltungskostenkrise, die durch die steigenden Zinssätze noch verschärft wurde - wo Berichten zufolge 22% der Bürger*innen im letzten Jahr gezwungen waren, auf Medikamente und lebensnotwendige Lebensmittel zu verzichten; 44% verzichteten auf medizinische Dienstleistungen; und unter den arabisch-palästinensischen Bürger*innen verzichteten 77% auf medizinische Produkte oder Dienstleistungen. Hätte eine Führung mit dem Schwerpunkt auf diesem brennenden Problem interveniert, die Regierung und die Großkonzerne bloßgestellt und gleichzeitig gegen die Bedrohungen durch die von der Regierung vorgeschlagenen Gesetze mobilisiert, hätte sie eine auf der Arbeiter*innenklasse basierende Agenda in den Vordergrund der Bewegung stellen und die Ausbreitung der Bewegung und den Rückzug der Regierung beschleunigen können. Stattdessen haben die bürgerlichen Elemente an der Spitze der Bewegung in einem reaktionären "Teile und herrsche"-Schritt das Feuer auf die arme Haredi (religiöse ultraorthodoxe) Bevölkerung gerichtet.
Die schwache Regierung befindet sich derzeit auf dem Rückzug und könnte möglicherweise gestürzt werden. Obwohl die letzte Wahl im November (und die fünfte seit 2019) angesichts des ungebremsten Vorstoßes von Netanjahu stattfand, gibt es jetzt eine wachsende Stimmung, die sich zu einem allgemeinen Kampf gegen die Legitimität von Netanjahu und seiner Regierung wendet. Die Spaltungen an der Spitze der Regierungskoalition deuten ohnehin darauf hin, dass sie "von innen" zerbrechen könnte. Diese erzreaktionäre Regierung ist ein politisches Erbe der vorherigen, außerordentlich kapitalistischen Koalitionsregierung des Status quo unter Lapid und Bennet, die sich selbst als "Regierung des Wandels" bezeichnete. Mit ihrer Verteidigung des Kapitalismus und der Besatzung ebnete sie den Weg für die Rückkehr Netanjahus an die Macht mit einer wiedererstarkten extremen Rechten. Dies ist ein Warnzeichen dafür, dass in der gegenwärtigen Bewegung die Idee einer gesellschaftsübergreifenden politischen Alternative für die Arbeiter*innenklasse - basierend auf einem sozialistischen Programm, sowohl der Regierung als auch den unpopulären pro-kapitalistischen etablierten Parteien der "Mitte" vorgelegt werden muss.