Deutschland: Eine Viertelmillion im Bildungsstreik

Lucy Redler, CWI-Deutschland

250.000 SchülerInnen und Studierende: So viele wie seit langem nicht mehr streikten an einem Tag gemeinsam für bessere Bildung. In 80 Städten wurde demonstriert gegen Studiengebühren, Lernstress durch Turboabi und Bachelor/Master, Selektion und übervolle Klassen und Hörsäale.

Überall war die Wut darüber zu spüren, dass marode Banken mit Milliarden gerettet werden, während die Lernbedingungen an Schulen und Unis immer schlechter werden.

„Reiche Eltern für alle“, „Bologna stinkt“ oder „Ich bin mehr als vier Module“ stand auf selbstgemalten Schildern in Berlin. „Bildung für alle, sonst gibt’s Krawalle“ war der beliebteste Slogan in Köln.

Bereits im November 2008 fand mit 100.000 TeilnehmerInnen ein großer Schülerstreik statt. Der jetzige Bildungsstreik bedeutet eine enorme Steigerung und ein wichtiger Erfolg. In vielen Städten war die Zahl größer als im letzten Jahr, weil diesmal auch die Studierenden dabei waren. Aber auch viele SchülerInnen nahmen das erste Mal an einem Streik teil. So berichtete Fin Langner, Schüler der Fichtenberg-Oberschule aus Berlin-Steglitz, dass an seiner Schule 120 SchülerInnen an einer Veranstaltung des Streikkomitees nach Schulschluss teilgenommen hätten.

Nach Berlin mit weit über 20.000 fanden die größten Demos in Stuttgart (15.000), Hamburg (13.000), Bremen (12.500) Göttingen (10.000), Braunschweig (9000) und Heidelberg (7000) statt. In vielen anderen Städten wurden zwischen 2.000 und 6.000 Streikenden gemeldet: Rostock, Erfurt, Dresden, Leipzig, Essen, Köln, Bonn, Bochum, Kassel, Frankfurt, Freiburg, Würzburg, München, Nürnberg und viele weitere Orte.

Blockaden und Besetzungen

An kreativen Aktionen mangelte es nicht: Straßen, Autobahnen und Kreuzungen wurden blockiert wie zum Beispiel in Marburg, Konstanz, Köln und Tübingen. In Bielefeld wurde der Nahverkehr lahm gelegt. Eine Deutsche-Bank-Filiale wurde in Minden blockiert. In Mainz zog die Demonstration nicht nur vor, sondern in das Abgeordnetenhaus!

Auch in Dortmund wurde das Rathaus nicht verschont. Viele Unis sind teilweise besetzt und es werden alternative Seminare, Veranstaltungen, Versammlungen und Streikpartys organisiert – so auch an der Uni in Jena und Leipzig. In Jena wurden Luftballons in die Luft gelassen, mit der Aufschrift „Konjunkturpaket II – nur heiße Luft“.

Beteiligung von Beschäftigten

In Stuttgart und Leipzig beteiligten sich die streikenden ErzieherInnen. 1400 Kita-Beschäftigte wurden von der Gewerkschaft ver.di in Stuttgart zum Bildungsstreik mobilisiert. Bernd Riexinger, Geschäftsführer von ver.di-Stuttgart, hielt eine der Hauptreden bei der Kundgebung. Das war ein wichtiges Signal in Richtung gemeinsamer Kampf von SchülerInnen, Studierenden und Beschäftigten.

In Berlin hatte die GEW die angestellten LehrerInnen aufgerufen, sich am Streik zu beteiligen.

Das sind einzelne positive Beispiele, die jedoch leider die Ausnahme blieben. Hätte die Gewerkschaftsführung ernsthaft Beschäftigte und Azubis mobilisiert, wäre deutlich mehr drin gewesen.

Praktische Solidarität wurde in einigen Städten von unten geübt. Bei der Demo in Wuppertal gab es eine spontane Sitzblockade vor ESB (ein Betrieb, der Elektroanlagen produziert), der von KollegInnen bestreikt wird, um den Abbau von Arbeitsplätzen zu verhindern.

In Hamburg ging die Demo an einer Karstadtfiliale vorbei. Die Streikenden zeigten sich solidarisch mit den Karstadt-Beschäftigten, die um ihre Arbeitsplätze bangen. Vom Lautsprecherwagen und Demoteilnehmern wurde lautstark skandiert: „Streik in der Schule, Streik im Betrieb - das ist unsere Antwort auf eure Politik!“

Die Antwort der Politiker auf den Bildungsstreik war eine andere: Die CDU-Bildungsministerin Schavan (CDU) bezeichnete die Forderungen der Studierenden als "zum Teil gestrig". Die SPD begrüßte die Forderungen und versuchte damit davon abzulenken, dass sie selbst in der Regierung dafür verantwortlich ist, dass bisher keine einzige der beim Bildungsgipfel 2008 gemachten Versprechungen umgesetzt wurde.

Anfang einer Bewegung?

Deutlich wurde beim Bildungsstreik, dass es ein tiefes Misstrauen in die etablierten Parteien gibt und dass sich Erfolge von unten gemeinsam erkämpft werden müssen.

Es ist möglich, dass der heutige Streiktag der Beginn einer Bewegung an den Unis ist, die sich im Herbst oder in einigen Städten bereits früher fortsetzen könnte. Gerade an den Unis wird die Lernsituation vor dem Hintergrund der Krise immer unhaltbarer. Das verschulte Studium in kürzerer Zeit mit Anwesenheitspflicht und Studiengebühren erhöhen den Druck enorm. Für viele Studierende, die nebenbei arbeiten müssen, geht es um die Frage, ob sie ihr Studium zu diesen Bedingungen fortsetzen können oder abbrechen müssen.

Auch an den Schulen ist die Stimmung angesichts großer Klassen, zu wenig Lehrkräften und gestiegenem Leistungsdruck weiterhin von großem Unmut geprägt.

Wie weiter?

Unmittelbar geht es darum, die Selbstorganisation an Schulen und Unis zu stärken. An allen Unis und Schulen sollten spätestens Anfang kommender Woche Vollversammlungen stattfinden, um den Streik auszuwerten und darüber zu sprechen, wie der Widerstand weiter aufgebaut werden kann. Die Bildung von Widerstandskomitees an Unis und Schulen kann helfen, die nächste Runde im Widerstand vorzubereiten und die politischen Diskussionen weiter zu führen.

Eine Zuspitzung der Forderungen, besonders im Schülerbereich, ist notwendig. Statt allgemein kleinere Klassen, mehr LehrerInnen und mehr Geld für Bildung könnten Forderungen wie die Einstellung von 100.000 LehrerInnen, Klassengrößen von 15 SchülerInnen oder beispielsweise die Forderung von ver.di von jährlich 30 Milliarden Euro zusätzlichen Investitionen in Bildung mobilisierend wirken. Solche Forderungen sollte DIE LINKE unmittelbar im Bundestag einbringen.

Gemeinsam kämpfen

Neben der Stärkung der Selbstorganisation ist gerade in der tiefsten Krise seit Jahrzehnten der gemeinsame Kampf mit Lohnabhängigen, die zu Millionen von der Krise betroffen sein werden, notwendig. Die Arbeitsplätze, die jetzt in der Krise kampflos verloren gehen, werden den SchülerInnen, Studierenden und Azubis in den nächsten Monaten und Jahren fehlen. Die Idee von einem gemeinsamen Streiktag aller Betroffenen, einem Generalstreik wie in Frankreich, kam bei Streiks in verschiedenen Städten enorm gut an. SchülerInnen und Studierende könnten nach dem Streik als nächsten Schritt von Arbeitsplatzabbau betroffenen Belegschaften oder den streikenden Kita-Beschäftigten einen Besuch abstatten und über die Frage des gemeinsamen Widerstands und Möglichkeiten von Soliarbeit diskutieren.

Spätestens nach der Bundestagswahl ist mit der nächsten Welle von Angriffen im Bildungsbereich und anderswo zu rechnen. Darauf müssen wir uns jetzt gemeinsam vorbereiten und den Druck auf die Gewerkschaftsführung erhöhen, endlich auch in Deutschland einen zunächst eintägigen Generalstreik vorzubereiten. Nötig ist der Aufbau einer breiten Streik- und Protestbewegung. Dazu können lokale gemeinsame Widerstandsbündnisse eine Hilfe sein. Bei der Widerstandskonferenz am 27./28. Juni in Kassel werden weitere gemeinsame Schritte diskutiert. Dort findet u.a. auch ein Arbeitskreis zum Thema „Wie weiter nach dem Bildungsstreik“ statt.

Kapitalismus killt Zukunft

Aber gerade zu Krisenzeiten wird immer deutlicher, dass es nicht ausreicht, sich gegen Bildungsabbau zu wehren. Viele haben das beim Streiktag zum Ausdruck gebracht, als sie sich über die Milliardenpakete für die Banken aufgeregt haben. Für immer mehr wird deutlich, dass die Regierung die Profite der Bankenbesitzer und Konzernherren schützt und nicht auf der Seite der SchülerInnen und Studierenden steht. In der Krise wird Millionen von Jugendlichen die letzten Zukunftschancen verbaut.

Um bessere und selbstbestimmte Bildung für alle dauerhaft zu erkämpfen, muss die Macht der Banken und Konzerne gebrochen und der Kapitalismus abgeschafft werden.

1968 gab es in allen großen Unis Debatten über gesellschaftliche Alternativen. Nicht nur Bildung, sondern Repression, Krieg und Imperialismus waren zentrale Themen für Jugendliche. Damals waren Jugendliche europaweit Vorbote für massive gesellschaftliche Erschütterungen. In Frankreich folgten auf die Studierendenproteste ein wochenlanger Generalstreik, an dem sich auf dem Höhepunkt zehn Millionen Menschen beteiligten.

Get organized

Auch heute ist es wichtig, sich mit den gesellschaftlichen Ursachen auseinanderzusetzen, die dazu führen, dass bei der Bildung gespart, demokratische Rechte eingeschränkt werden und die Reichen trotzdem reicher werden. Die SAV wird in den nächsten Tagen dazu Diskussionsveranstaltungen anbieten. Wenn du Lust hast, mit uns zu diskutieren und auch für eine sozialistische Zukunft kämpfen willst, meld dich bei uns (info[at]sav-online.de oder 030/24723802).

Mitglieder der SAV sind auch bei Linksjugend["solid] aktiv, um gemeinsam mit anderen eine breite sozialistische Jugendorganisation von vielen Tausenden aufzubauen.

Forderungen der SAV zum Bildungsstreik

  • Kostenlose Bildung für alle! Rücknahme von jeglichen Studiengebühren und Büchergeld
  • Verkleinerung der Klassen auf 15 SchülerInnen
  • Schaffung von 100.000 neuen Lehrerstellen sofort
  • Rücknahme des Turboabis (G8)
  • Weg mit dem dreigliedrigen Schulsystem! - Eine Schule für alle
  • Abschaffung des Bachelor/Mastersystems
  • Keine Zulassungsbeschränkungen
  • Einführung einer elternunabhängigen Grundsicherung für SchülerInnen und Studierende ab 16 Jahre von 500 Euro plus Warmmiete
  • Für jeden einen Ausbildungs- beziehungsweise Studienplatz nach seiner Wahl
  • Ausbildung raus aus Unternehmerhand: Wer nicht ausbildet, muss zahlen - von den Geldern können Ausbildungsplätze im Öffentlichen Dienst geschaffen werden.
  • Garantierte und unbefristete Übernahme in Vollzeitbeschäftigung im erlernten Beruf – deshalb Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden pro Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich
  • Demokratische Verwaltung von Schulen und Hochschulen, Gestaltung der Lehrpläne durch gewählte Komitees von allen an Schule und Hochschule Beteiligten, ob SchülerInnen, StudentInnen, Lehrende oder andere Beschäftigte
  • Überführung der Banken und Konzerne in Gemeineigentum. Demokratische Kontrolle und Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung
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