Der Wunsch, radikale Lösungen zu vermeiden und das System zu reformieren, ist alt

Von Arbeiterschaft und Intelligenz; oder Proleten und Hirnwichsern
Ken Horvath

Im Juni 1998 wurde in Frankreich ATTAC gegründet. Seither bietet es einen Attraktionspol für jene, die dem internationalen Kapital den Kampf ansagen wollen. Ausgangspunkt zur Gründung des Netzwerkes war ein Artikel in Le Monde Diplomatique aus dem Dezember 1997. Darin skizzierte Ingacio Ramonet Motivation, Stoßrichtung und die Arbeitsweise von ATTAC. Unter dem Eindruck der Südasien-Krise wird die Anarchie der vom Finanzkapital dominierten Weltwirtschaft angeprangert. Die Antwort auf Spekulation und ungebändigtes globalisiertes Finanzkapital lautet dabei: Tobin Tax, „altruistischer Protektionismus“ und Demokratisierung internationaler Finanzorganisationen (soll heißen IWF, Weltbank & Co.).

In den letzten Jahren haben sich in rund 30 Ländern ATTAC-Gruppen gebildet. Ihre soziale Zusammensetzung ist unterschiedlich. Jugendliche, UmweltaktivistInnen und Teile der (traditionellen) ArbeiterInnenbewegung haben sich den Forderungen von ATTAC angeschlossen. Die programmatische Grundlage ist reformistisch. Es wird keine grundsätzliche Alternative gesucht, sondern es soll lediglich der Einfluss des Finanzkapitals z.B. mittels Tobin Tax beschnitten werden. Das theoretische Rüstzeug liefern bürgerliche KapitalismuskritikerInnen wie Pierre Bourdieu, Viviane Forrester oder Paul Krugman.
Dass derartige Initiativen von bürgerlich-intellektueller Seite kommen, ist keine neuartige Escheinung. Seit Bestehen des Kapitalismus sind immer wieder sozialreformerische Ideen aufgekommen – auch und anfangs vor allem in bürgerlichen Kreisen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: der „ungezügelte“ Kapitalismus zeigt nicht nur selbstzerstörende Tendenzen in Form von Krisen, sondern lässt auch die Klassenwidersprüche hervortreten und provoziert so Reaktionen des Proletariats. Die ersten Sozialreformer haben beide Tendenzen als Gefahren für die bürgerliche Gesellschaft erkannt.

Sozialforschung versus Maschinenstürmer

Schon die Herausbildung der bürgerlichen und der ArbeiterInnenklasse – der Prozess der ursprünglichen Akkumulation – war mit schweren sozialen Folgen verbunden. Menschen wurden aus ihren bäuerlichen Lebensverhältnissen gerissen und in die Lohnabhängigkeit getrieben. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte die kapitalistische Ausbeutung schließlich Ausmaße angenommen, die dem System den Boden unter den Füßen wegzuziehen drohte.
Kinderarbeit, miserable hygienische Zustände, Unterernährung und überlange Arbeitstage waren Ausdruck einer blinden Ausbeutung und führten zu hoher Kindersterblichkeit, niedriger Lebenserwartung und körperlicher Schwäche. Die Reproduktion der ArbeiterInnenklasse wurde dadurch massiv gefährdet. Zur Zerstörung der Ware Arbeitskraft kam der beginnende Kampf der ArbeiterInnen gegen diese Zustände.
Der erste bedeutende „Gehversuch“ des Proletariats war die Maschinensturm-Bewegung in Britannien um 1811. Die ArbeiterInnen sahen im voranschreitendem Einsatz von Maschinen ihre Existenz gefährdet. Als Folge davon richtete sich ihr Kampf hauptsächlich auf die Zerstörung von Maschinen. Es war ein Versuch, das Rad der Zeit zurückzudrehen.
Bis in die 1830er hatte einerseits eine erste tatsächliche Organisierung stattgefunden. Andererseits blieben die spontanen Erhebungen dieser Zeit noch innerhalb der Grenzen des Systems. Nichts- destotrotz stand das englische Bürgertum vor einer Herausforderung. Die Antwort kam von intellektueller, bürgerlicher Seite: die Sozialforschung wurde etabliert und mit ihr die bürgerliche Sozialpolitik. Die MaschinenstürmerInnen können als die proletarische, die englischen Sozialreformer als die bürgerliche Seite eines erstmals aufkeimenden Reformismus gelten.

Sozialgesetzgebung in wessen Interesse?

Obwohl aus heutiger Sicht inhaltlich wenig radikal, mussten die Sozialreformer gewaltigen Widerstand aus der eigenen Klasse hinnehmen. Insofern hatten sie durchaus Bedeutung: sie bereiteten auf wissenschaftlicher Ebene den Boden für die ersten sozialpolitischen Untersuchungen des englischen Parlaments.
So beschloss das Parlament zwischen 1833 und 1850 vier „Factory Acts“. Sie waren alle mehr oder weniger sozialreformerisch geprägt. Auch um dem Druck aus der eigenen, der bürgerlichen Klasse gegen diese Maßnahmen etwas entgegensetzen zu können, waren die „Acts“ von umfassenden Untersuchungen begleitet. Im eigenen Interesse sollte das Bürgertum von den Vorteilen der Sozialreformen überzeugt werden.
Führt man/frau sich die gewissenhafte Arbeit der zuständigen „Inspektoren“ vor Augen, könnte das eigentliche Ziel dieser Maßnahmen fast in Vergessenheit geraten. Ohne offensichtliche Rücksicht auf Unternehmer wurden Missstände aufgezeigt. Diese „social surveys“ sind heute fast in Vergessenheit geraten. Für die Arbeiten von Marx und Engels waren sie von großer Bedeutung. In ihren Werken wie der „Lage der arbeitenden Klasse in England“ oder dem „Kapital“ konnten sie darauf zurückgreifen. Denn: „In dem Maße, in dem die Resultate sozialwissenschaftlicher Forschung die Funktion wissensmäßiger Voraussetzungen für die Stabilität und Steuerung der bürgerlichen Gesellschaft gewinnen – eine Rolle, die sie bei den englischen Enqueten bereits erhalten hatten –, in dem Maße muss bürgerliche Sozialforschung auch Richtiges über ihren Gegenstand, die bürgerliche Gesellschaft sagen.“
Natürlich bleibt sie dennoch bürgerlichen Interessen entsprechend beschränkt, aber wir haben hier einen ersten (historischen) Schnittpunkt zwischen bürgerlichen Reformern und der ArbeiterInnenklasse. Die revolutionäre Aufgabe bestand für Marx und Engels darin, Erkenntnisse gegen das Interesse zu richten, aus dem sie entstanden waren: den Erhalt der kapitalistischen Ordnung.

Kathedersozialismus

Verlassen wir das viktorianische England und wenden uns dem Deutschland der 1860er zu. Erheblich verzögert, dafür aber umso schneller vollzog sich auch in Deutschland die Entwicklung zur Industriegesellschaft. Fast automatisch kam auch hier die soziale Frage aufs Tapet.
Um den Uniprofessor Gustav Schmoller formte sich die „Jüngere Historische Schule der Nationalökonomie“. Ihr organisierter Ausdruck war der „Verein für Sozialpolitik“. Im Gründungsdokument von 1873 lesen wir: „In gleicher Weise sollen die übrigen sozialen und ökonomischen Probleme der Zeit, wie Gesundheits- und Unterrichtswesen, Verkehrs-, Aktien- und Steuerwesen, in Betracht gezogen werden. Wir sind der Überzeugung, dass das unbeschränkte Walten teilweise entgegengesetzter und ungleich starker Einzelinteressen das Wohl der Gesamtheit nicht verbürgt, dass vielmehr die Forderungen des Gemeinsinns und der Humanität auch im wirtschaftlichen Leben ihre Geltung behaupten müssen, und dass das wohlerwogene Eingreifen des Staates zum Schutz der berechtigten Interessen aller Beteiligten zeitig wachzurufen ist (…) In ernster Durchführung dieser Aufgaben wird sich der Egoismus des Einzelnen und das nächste Interesse der Klassen der dauernden und höheren Bestimmung des Ganzen unterordnen“. Kurz: der Verein für Sozialpolitik stellte sich gegen den um sich greifenden Wirtschaftsliberalismus, wie er sich auch gegen die organisierte ArbeiterInnenklasse stellte. Und er hatte auch schon die entscheidende Instanz ausgemacht: „das wohlerwogene Eingreifen des Staates“. Der systemerhaltende Anspruch tritt klar hervor. Nichtsdestotrotz wurde in der bürgerlichen Presse das Schlagwort des „Kathedersozialismus“ geprägt. Als solcher wurden die Vorstellungen des Vereins für Sozialpolitik schließlich bekannt.

ATTAC – neu?

Vieles an Programm und Politik von ATTAC weist hier Parallelen auf. Da wäre zum ersten die Orientierung auf bürgerliche Institutionen, wie den Staat. So werden IWF und Weltbank nicht an sich in Frage gestellt. Es wird bloß ihre Demokratisierung gefordert. Die Einführung der Tobinsteuer – die Kernforderung von ATTAC – soll primär über Appelle an die EU erreicht werden.
Zugrunde liegt dem der Glaube an einen vernünftigen Kapitalismus. Soll heißen einen, der Stabilität, Friede und Wohlstand für alle bringt. Doch wie entscheidet sich die „Vernunft“, wenn unversöhnliche Interessen aufeinander stoßen? Der grundsätzliche Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital lässt sich eben auch durch eine Besteuerung des Finanzkapitals nicht lösen.
Auch die soziale Zusammensetzung zeigt Übereinstimmungen. Wie bei den englischen Sozialreformern und dem Verein für Sozialpolitik sind auch bei ATTAC die führenden Persönlichkeiten Intellektuelle, seien es JournalistInnen oder UniversitätsprofessorInnen. Eine gewisse Weitsichtigkeit führt zur Formulierung reformistischer Programme – die Einfluss auf Teile der ArbeiterInnenklasse ausüben.
Ein Unterschied tritt trotz allem hervor. Für die frühen Sozialreformer war die moralische Entartung des „Manchesterliberalismus“ das Grundübel. Für moderne KapitalismuskritikerInnen ist die Wurzel aller Missstände eine andere: das Finanzkapital. Auch das ist freilich keine neue Vorstellung. Spätestens seit der Imperialismusdebatte vor dem ersten Weltkrieg hat die Trennung in “gutes= produktives” und “böses=spekulatives” Kapital bis tief in die ArbeiterInnenbewegung große Bedeutung.

Vernünftiger Kapitalismus?

Die Spekulation hat tatsächlich ungeheure Maße angenommen. Jeden Tag werden an den Devisenbörsen 1,8 Billionen US-Dollar an Kapital umgesetzt. Davon 97% zu reinen Spekulationszwecken. Anders ausgedrückt: lediglich 3% der täglichen Geldflüsse dienen dem Handel oder der Investition in die Produktion. Bürgerliche wittern hier nicht zu Unrecht eine Gefahr. Den spekulativen Werten entspricht schließlich kein tatsächlich Vorhandener. Was passiert, wenn diese Blase an virtuellen Werten platzt? Davon gaben die Asienkrise und die japanische Wirtschaftsentwicklung einen Vorgeschmack.
Doch auch in der ArbeiterInnenbewegung regt sich Unmut. Produktives Kapital wird mit Arbeitsplätzen verbunden – Finanzkapital mit dem ungeheuren Reichtum von Bill Gates & Co. Das Problem: eine klare Trennlinie ist nicht zu ziehen. Nokia hat im vergangenen Jahr mehr an Dividende an AktionärInnen als an Löhnen an ArbeiterInnen gezahlt. Die Global Players auf den Finanzmärkten sitzen auch in den Chefetagen der Multis, Banken und Konzerne sind längst zu einem großen Geflecht verschmolzen. Am Wesen der kapitalistischen Mehrwertproduktion hat sich trotz der Dominanz der Spekulation nichts geändert. Zentral ist immer noch die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.
Eines zeigt der Spekulationswahn eindeutig: „vernünftige“ Lösungen gibt es im Kapitalismus nicht. Für den einzelnen Kapitalisten kann Spekulation und „Finanzkapital“ zur Quelle großen Reichtums werden. Für den Kapitalismus als System wird die Spekulationsblase zu einer zunehmend existentiellen Gefahr. Trotzdem ist das Finanzkapital aber ein integraler Bestandteil des Kapitalismus und nicht etwa eine beseitigbare Fehlentwicklung. Seit den 70er Jahren wurden Finanzmärkte liberalisiert, um dem Kapital neue, profitablere Anlagemöglichkeiten zu schaffen. Die explodierende Spekulation ist die Konsequenz aus der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus.

Bürgerlicher Reformismus & die Arbeiterinnenbewegung

Ein Aspekt verdient unsere Aufmerksamkeit: Offensichtlich kommen ArbeiterInnen und Bürgerliche – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven – auf reformistischer Grundlage zu übereinstimmenden Schlussfolgerungen. Das macht den widersprüchlichen Charakter von Formationen wie ATTAC aus. In welche Richtung sich diese entwickeln, hängt vor allem von der Stärke der ArbeiterInnenbewegung ab. Bürgerliche haben immer wieder Einfluss auf die ArbeiterInnenbewegung gewonnen. Das mutet seltsam an: hat die ArbeiterInnenklasse doch an allem anderen Interesse denn am Erhalt kapitalistischer Ausbeutung. Nicht der Versuch, das System zu stabilisieren, macht proletarischen Reformismus aus, sondern die Idee, innerhalb des bürgerlichen Staates genau dieses System zu überwinden. Diese inhaltliche Definition erklärt aber nicht die historische Entwicklung reformistischer Ideen. Lenin beschreibt, wie diese von bürgerlichen Vorstellungen beeinflusst wurde.
So haben die ersten spontanen Aktionen der ArbeiterInnenbewegung zwar zur Gründung von Gewerkschaften geführt (daher Lenins Bezeichnung: „Trade-Unionismus“), sich aber für bürgerliche Ideologie anfällig gezeigt. Fehlt eine organisierte Kraft der ArbeiterInnenklasse, erscheint für Lenin die Anfälligkeit für bürgerliche Reformideen als logische Konsequenz. Aus spontanen Aktionen allein entsteht kein sozialistisches Bewusstsein.

Sozialdemokratie als Extrembeispiel

Das Aufkommen reformistischer Gedanken in der ArbeiterInnenbewegung ist eine Konsequenz der Schwäche der revolutionären Kräfte in ihr. Auch eine starke ArbeiterInnenbewegung ist nicht vor Verbürgerlichung gefeit. Die Entstehung der Sozialdemokratien – idealtypisch der deutschen – zeigt ein Zusammenwirken von bürgerlicher Ideologie und ArbeiterInnenbewegung auf einem hohen Niveau. Teile der ArbeiterInnenbewegung konnten ins bürgerliche Establishment integriert werden, andere blieben bei reformistischen Forderungen stecken, da der reformistische Weg stets der leichtere zu sein scheint. . So eindeutig die systemstabilisierende Funktion der Sozialdemokratien in späterer Zeit zu Tage trat: der Reformismus wurde nicht einfach von außen in die ArbeiterInnenklasse hinein getragen.
Lenin meint zu diesem Entwicklungsprozess: „Der Opportunismus wurde im Laufe von Jahrzehnten durch die Besonderheiten jener Entwicklungsepoche des Kapitalismus hervorgebracht, in der die verhältnismäßig friedliche und zivilisierte Existenz einer Schicht privilegierter Arbeiter diese , ihnen Brocken von den Profiten des eigenen nationalen Kapitals zukommen ließ und sie von dem Elend, den Leiden und den revolutionären Stimmungen der verelendeten und bettelarmen Masse losriss.“ Was die gesellschaftliche Funktion des Reformismus anbelangt, gibt es keinen Zweifel: „Opportunismus bedeutet, dass die grundlegenden Interessen der Masse den vorübergehenden Interessen einer verschwindenden Minderheit von Arbeitern zum Opfer gebracht werden oder, anders ausgedrückt, dass ein Teil der Arbeiter mit der Bourgeoisie ein Bündnis gegen die Masse des Proletariats eingeht.“ (LW 21 237 ff.)
Die ArbeiterInnenbewegung ruhig zu halten bzw. im gegeben Fall relevante Teile aktiv einzubinden und den selbstvernichtenden Tendenzen des Kapitalismus entgegenzuwirken, sind die zwei wesentlichen Funktionen eines bürgerlichen Reformismus. Was dabei im Vordergrund steht, hängt vor allem vom Kräfteverhältnisse der Klassen ab. Eine starke ArbeiterInnenbewegung zwingt zu einem Schwergewicht auf den Klassenfrieden oder radikalen Lösungen wie den Faschismus. Sind die ökonomischen Spielräume vorhanden, werden Zugeständnisse in Form von Reformen notwendig und möglich. Das erklärt die Integration großer ArbeiterInnenformationen in den bürgerlichen Staat nach dem 2. Weltkrieg im Gegensatz zum 1. Weltkrieg.
Der Reformismus entfaltet sich im Kräftespiel der Klassen. Es wurde bemerkt, dass bürgerlich-reformistische Ideen häufig von Intellektuellen außerhalb der ArbeiterInnenklasse entwickelt wurden. Deren mögliche Bedeutung auch für das Proletariat selbst, soll kurz beleuchtet werden.

Schlüsselrolle der Intelligenz

Die Kritische Theorie rund um Max Horkheimer und Theoder Adorno hat der Intelligenz de facto die Rolle eines revolutionären Subjekts zugeschrieben. Sie sah in intellektuellen TheoretikerInnen Schlüsselfiguren in der Überwindung kapitalistischer Ausbeutung.
In seinem Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ (1937) erläutert Horkheimer seinen Ansatz. Die traditionelle bürgerliche Wissenschaft hat sich auf ein bloßes Beschreiben natürlicher und gesellschaftlicher Abläufe beschränkt – und dabei eines übersehen: dass sie selber historisch entstanden und damit Produkt der Gesellschaft ist. Eine kritische Theorie berücksichtigt diesen Aspekt und entdeckt die eigene Verpflichtung, gesellschaftlich Stellung zu beziehen. Für Horkheimer heißt das: das kapitalistische System überwinden helfen.
Die Intelligenz sei die einzige Instanz, auf die Verlass ist. Auch das Proletariat kommt, so Horkheimer, nicht von selbst zur wahren Erkenntnis. So sehr hier die Rolle der bürgerlichen Intelligenz überschätzt wird, trifft sie doch einen wahren Kern. Das Proletariat kommt nicht revolutionär zur Welt. Es braucht einen subjektiven Faktor, in Form einer revolutionären Führung. Dass diese sich im Laufe der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung zu einem sehr großem Teil aus ursprünglich bürgerlichen Elementen zusammensetzte ist kein Zufall. Der Grund liegt darin, dass sich die ArbeiterInnenklasse aufgrund ihrer vollkommenen Unterdrückung nicht selbst kulturell emanzipieren kann. Sie ist somit auf die Unterstützung von bürgerlichen Intellektuellen angewiesen.
Der grundsätzliche Fehler liegt nun darin, diese Unterstützung außerhalb der ArbeiterInnenklasse – z.B. in einer vorgetäuschten unabhängigen Wissenschaft – zu suchen. Vielmehr geht es aber darum, dass sich Teile der Intelligenz vollends in den Dienst des Proletariats stellen und ihr bewusstester Teil (eben die revolutionäre Führung) werden. Angeregt und vorangetrieben diesen Schritt zu vollziehen, wird die Intelligenz durch die sich formierende ArbeiterInnenbewegung bzw. ihre Kämpfe. In diesem Sinn werden Intelligenz und ArbeiterInnenklasse zur dialektischen Einheit in der revolutionären Partei. Nicht nur die ArbeiterInnenklasse kann von der Intelligenz lernen, auch die Intelligenz von der ArbeiterInnenklasse, z.B. was Organisierung, kollektives Agieren und Solidarität angeht.
Auch Lenin hat dem Wechselspiel von Intelligenz und ArbeiterInnenklasse seine Aufmerksamkeit geschenkt. In „Was tun?“ schreibt er dazu: „Die Lehre des Sozialismus ist (…) aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an. Ebenso entstand auch in Russland die theoretische Lehre der Sozialdemokratie ganz unabhängig von dem spontanen Anwachsen der Arbeiterbewegung, entstand als natürliches und unvermeidliches Ergebnis der ideologischen Entwicklung der revolutionären sozialistischen Intelligenz“.
Dieses mangelnde Vertrauen in die ArbeiterInnenklasse und ihre Fähigkeit bewußte Kämpfe zu führen finden wir in verschiedenen Strukturen wieder, die das Proletariat bestenfalls zu StatistInnen machen. Die praktische Konsequenz einer solchen Herangehensweise ist die Ablehnung des Klassenkampfes. Diese Wechselwirkung zwischen Intelligenz und ArbeiterInnenbewegung ausblendend, kann Horkheimer schließlich nur „appellieren“. Im Endeffekt ist der Sozialismus für ihn so auf eine Frage der Vernunft reduziert worden.

ATTAC, abgehobene Kapitalismuskritik und Seattle

Die antikapitalistische Bewegung, die seit Seattle wiederholt Ausdruck gefunden hat, ist ein zentrales Merkmal des beginnenden Jahrtausends. Nirgends können sich Kapitalisten und Regierungen ohne den Schutz von Tränengas, Wasserwerfern und Schusswaffen treffen. Ganze Orte müssen in Festungen verwandelt werden, die eigenen Verträge – wie z.B. das Schengener Abkommen – werden aufgehoben. Das ist schön. Es zeigt, wie viel vom proklamierten Ende der Geschichte zu halten ist.
Der neue Antikapitalismus spiegelt Veränderungen im Bewußtsein wieder. In diesem Prozess spielen intellektuelle KapitalismuskritikerInnen eine wichtige Rolle. Peter Taaffe, Generalsekretär der Socialist Party von England und Wales, meint zu diesem Spannungsfeld: „Die Demonstrationen sind zum Teil die spontane und instinktive Reaktion auf neoliberale Horrorszenarien. Ein anderer Faktor besteht aber in der ideologischen Herausforderung, die AutorInnen, AktivistInnen, PhilosophInnen und ÖkonomInnen stellen.“
Die Stärke intellektueller Kapitalismuskritik liegt in der Analyse herrschender Ungerechtigkeit. Sie kann so die Herausbildung eines antikapitalistischen Bewusstseins fördern. Doch es zeigen sich auch die Schwächen: Viviane Forrester – eine der exponiertesten KapitalismuskritikerInnen – meint, dass ihr eigentlich keine Alternative zum jetzigen System einfällt. Andere verwenden ihre Energie darauf, für die Demokratisierung von IWF & Weltbank zu kämpfen.
Warum stoßen viele Intellektuelle an ihre Grenzen, wenn es um die Frage nach der Alternative zu kapitalistischer Ausbeutung geht? Teilweise lässt sich dies mit der Integration ins bürgerliche System begründen. Nicht umsonst werden im Vorfeld zu Gipfeln regelmäßig Treffen zwischen RegierungsvertreterInnen und NGOs abgehalten. Erinnert sei an das Treffen zwischen ATTAC und VertreterInnen des Weltwirtschaftsforum in Salzburg Anfang des Sommers. Das neue Hoffnungsprojekt so manch kritischer Stimme, die Zivilgesellschaft, wird so zum Integrationspunkt zwischen Establishment und KritikerInnen. Es ist wieder der Glaube an die Versöhnlichkeit der kapitalistischen Widersprüche, der mancheN aufrechteN SystemkritikerIn zum Teil des Systems macht.
ohne die organisierte arbeiterinnenbewegung geht nichts
Ein zweiter Faktor ist der fehlende Druck einer organisierten ArbeiterInnenklasse, die vorhandene Kapitalismuskritik aufzunehmen und zu integrieren. Humanistische Ideen, Klasseninteressen und intellektuelle Kritik haben in der Vergangenheit immer wieder ein Reformismusgebräu abgegeben. Die ArbeiterInnenklasse konnte dies teilweise zum eigenen Vorteil nutzen, teilweise zog sie aber auch objektiv Schaden daraus.
Dass ArbeiterInnen, Jugendliche und Frauen heute ohne organisierte Kraft dastehen, hat dem neoliberalen Umbau den Boden bereitet. Doch auch dieser bleibt nicht folgenlos: Eine neue Runde von Systemkritik und Protesten wurde eingeläutet. Antikapitalistische Stimmungen unter Jugendlichen paaren sich mit Ansätzen zu neuen sozialen Kämpfen und Diskussionen unter Intellektuellen verschiedener Zugänge. Kurz: Neoliberalismus und antikapitalistische Bewegungen stecken den Rahmen ab, in dem neue Formationsprozesse stattfinden können.
Mittlerweile fehlen die wirtschaftlichen Spielräume, um dem aufkeimenden Widerstand mit breiten Zugeständnissen in Form von Reformen zu begegnen. Es bleibt die offene Repression. Und die wird umso schwerer fallen, je stärker die Verbindung zwischen den antikapitalistischen Protesten und den unmittelbaren Kämpfen der ArbeiterInnenklasse wird. Die Herstellung und Festigung dieser Verbindung im Kleinen wie im Großen ist die nächste Aufgabe in der Neuformierung von ArbeiterInnen, Jugendlichen und Frauen. Formationen wie ATTAC können hier vor allem mangels tatsächlicher Alternativen kurz- und mittelfristig Bedeutung erlangen. Um aber der neoliberalen Offensive tatsächlich standhalten zu können wird es mehr als „Appelle“ an Institutionen wie IWF und Weltbank brauchen. Dazu braucht es die organisierte Kraft der ArbeiterInnenbewegung. Deshalb sieht die SLP als Sektion des „Komitees für eine ArbeiterInneninternationale“ ihre vorangigste Aufgabe im Wiederaufbau einer sozialistischen ArbeiterInnenpartei. Auch in einer solchen wird es reformistische Ideen geben. Wie stark diese sein werden und ob sie sich durchsetzen werden hängt, wie schon in der Vergangenheit, von der Stärke der RevolutionärInnen in einer solchen Entwicklung ab. Denn die Vergangenheit hat gezeigt: Der vermeintlich leichtere Weg führt letztlich zu keiner Lösung.

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