Chile: Jugendliche übernehmen die Straße und fordern gerechte Bildungschancen

400.000 Streikende besetzen Schulen
Tony Saunois, CWI, aus Santiago

Vergangene Woche traf der französische Präsident zu einem Staatsbesuch in der chilenischen Hauptstadt Santiago ein. Begrüßt wurde er von Spruchbändern, die mensch in den neuen U-Bahnstationen des 20. Jahrhunderts aufgehängt hatte: „Willkommen, Präsident Jacques Chirac!”. Ziel des Besuchs war, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern zu vertiefen. Als er statt dessen Zeuge davon wurde, wie sich eine neue SchülerInnen- und Studierenden-Bewegung herausbildete, muss Chirac sich gefühlt haben, als habe er Frankreich nie verlassen.

In der Woche, da Chirac Chile besuchte, gingen mehrere zehntausend OberstufenschülerInnen auf die Straße und organisierten Schulbesetzungen, um auf diese Weise ihrer Forderung nach mehr Mitteln für die Bildung Ausdruck zu verleihen. Die letzten Meldungen sprechen von mehr als 400.000 SchülerInnen, die sich am Streik beteiligten und Schulgebäude in allen großen chilenischen Städten besetzten. Darunter die Hauptstadt Santiago de Chile, Concepcion, Valpariso, Puerto Monte. An einer Schule in Santiago befestigten SchülerInnen ein riesiges Transparent mit dem Che Guevara-Zitat: „Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche!“. Über 100.000 SchülerInnen nahmen an den Vorbereitungen für den eintägigen Streik teil.

Andere Slogans, die auf mitgeführten Schildern und an von den besetzten Schulen herabhängenden Transpis zu lesen waren, brachten die Meinung der SchülerInnen klar zum Ausdruck: „Wir sind die Zukunft und wir brauchen gerechte Bildungschancen!“, „Gerechte Bildungschancen - nicht für wirtschaftliche Interessen!“ und „Bildung für die Wirtschaft? – Das ist die andere Seite von La Moneda!“ (La Moneda ist die Bezeichnung für den chilenischen Präsidentenpalast, bedeutet "Münze" aber auch „Medaille“). Am häufigsten war der Spruch zu lesen: „Für gerechte und freie Bildung!“.

Andere richteten sich direkt an die neue chilenische Präsidentin Michelle Bachelet, Mitglied der „Chilenischen Sozialistischen Partei“. Nach nicht einmal drei Monaten im Amt sieht sich ihre Regierungskoalition schon mit einer Serie von Konflikten und Krisen konfrontiert. Bachelets Wahlkampagne stand unter dem Motto: „Estoy contigo“ („Ich bin auf eurer Seite“). Die Transparente der SchülerInnen nahmen dies wieder auf. Aus vielen Schulfenstern hing die Frage: „Bachelet – ¿estas con nosotros?“ („Bachelet – bist du auf unserer Seite?“).

Die Jugendproteste, die 13- bis 16-jährige SchülerInnen einbezogen, stellen eine bedeutsame politische Wende dar. Bisher hinkte Chile im lateinamerikanischen Maßstab noch hinterher, was das Ausmaß von Arbeitskämpfen und SchülerInnen- bzw. Studierenden-Protesten angeht. Vor 16 Jahren noch war der „demokratische Wandel“ erst im Entstehen begriffen. Jetzt erlebt das Land den ersten großen Protest – von einer Generation, die die schwere Last der Pinochet-Diktatur nicht mehr mit sich trägt. Es sind diese Jugendlichen, die in den kommenden Jahren einen Beruf ergreifen wollen und die Gelegenheit haben, den kämpferischen Geist der heutigen Proteste mit ins Arbeitsleben zu nehmen.

Wenn es auch in den vergangenen Jahren schon zu Protesten von OberstufenschülerInnen gekommen ist, so offenbaren die Aktionen dieser Tage eine tiefgründige Entwicklung im politischen Bewusstsein der kämpfenden jungen Generation. Während mensch noch verwirrt von der Vielzahl der von außen hereingetragenen Forderungen und äußerst misstrauisch gegenüber politischen Organisationen und Institutionen ist, verkörpert die neue Bewegung einen vielsagenden Fortschritt. Die Proteste der letzten Jahre verlangten nach kostenlosen Fahrausweisen, einer Steigerung um 10 Pesos im Fahrkarten-Rabattsystem und weiteren Verbesserungen. In diesem Jahr erklärte ein Junge vor einer Schule in Santiago: „Das alles hat nichts gebracht. Jetzt kommt es endlich darauf an, dass wir das gesamte Bildungssystem verändern!“.

Eine zentrale Forderung der Bewegung ist die Abschaffung des LOCE (Bildungsgesetz), das Bestandteil der Verfassung ist. Dieses Gesetz wurde noch von der Pinochet-Diktatur eingeführt, um bildungspolitische Aufgaben an regionale Organe mit geringen finanziellen Mitteln zu übertragen und damit die Privatisierung der Bildung voranzutreiben. Mit der Forderung, dieses Gesetz außer Kraft zu setzen, sind sich die SchülerInnen sehr wohl darüber bewusst, dass sie damit für die Rücknahme eines Haupt-Bestandteils neoliberaler Politik des kapitalistischen Bündnisses der sogenannten Concertacion von Christdemokraten und Sozialistischer Partei kämpfen. Um dies zu erreichen, müsste nicht nur die Verfassung, sondern auch die Politik der Parlamentsmehrheit geändert werden. Und eine solche Kehrtwende in der Politik der regierenden Klasse Chiles verlangt natürlich nach einer weit stärkeren Protestbewegung, die auch die Arbeiterklasse mit einbeziehen müsste.

Brutale Unterdrückung

Das Maß und die Schnelligkeit, in der sich die Bewegung entwickelt, hat die Regierung schon jetzt dazu gebracht, nervös zu werden. Sie reagierte mit brutaler Repression und überschritt damit einen Markstein. Eine überwältigende Opposition gegen die Polizei-Aggression war die Folge dieses Verhaltens. Während Gruppen von Jugendlichen mit Plakaten und Transpis für bessere Bildung durch die Straßen zogen, wurden sie verprügelt, mit Tränengas attackiert und von Wasserwerfern angegriffen. Es war dieselbe Situation, in der sich die junge Generation unter dem verhassten Pinochet-Regime befunden hat.

Auf den Kundgebungen kam es seitens der Jugendlichen weder zu Gewalt an Menschen noch wurden irgendwelche Sachen zerstört. Trotzdem ging die Polizei mit hoher Aggressivität und ohne Einschränkungen auch gegen 13-, 14-jährige vor, die für mehr LehrerInnen, kleinere Klassen, Schulmensen, Bücher und andere Dinge auf die Straßen gegangen waren.

Während das chilenische „Wirtschaftswunder“ von einem Aufschwung in den Bereichen Infrastruktur und Transport und einer Ausdehnung im Bausektor herrührt, geht ein gewaltiger Großteil der Gewinne aus diesem Boom auf die Depotkonten der herrschenden Klasse. Die 20% reichsten ChilenInnen nehmen 62% des landesweit erwirtschafteten Einkommens ein, und die ärmsten 20% der Bevölkerung müssen mit einem Anteil von nur 3,3% des Gesamteinkommens existieren. Die Gesundheitsversorgung und der Bildungssektor haben vom Wachstum kaum oder gar nicht profitiert.

Die Regierung Bachelets machte unterdessen bereits deutlich, dass sie mit der neoliberalen Politik ihrer Vorgänger-Regierung des konservativen Präsidenten Lagos fortfahren will. Der Charakter der jetzigen „sozialistischen“ Regierung offenbarte sich bereits in einem ganz bestimmten Vorfall: Auf einer Busfahrt wurde der junge Aktivist Jorge Gonzalez Zeuge, wie die Polizei rücksichtslos eine Gruppe Jugendlicher zusammenschlug. Er mischte sich ein, um zu fragen welches Recht sich die Beamten herausnähmen so zu handeln. Daraufhin wurde auch er festgenommen und mit etwa 100 weiteren verhafteten Studierenden auf Anweisung des Innenministeriums unverzüglich aus dem Land abgeschoben. Nachdem man ihm das Recht auf einen Anwalt verweigert hatte, wurde er zur argentinischen Grenze gebracht und ohne Ausweis und Geld dort zurückgelassen. Zur selben Zeit, da dies geschah, hob ein chilenisches Gericht den Hausarrest gegen den nach Chile geflohenen peruanischen Ex-Präsidenten Fujimori auf und verhinderte damit seine Anklage in Lima.

Am Dienstag, dem 30. Mai, fand dann ein landesweiter Streik im Bildungssektor statt, an dem sich auch die Universitäten beteiligten. Der Ausstand wurde ausgerufen, um sich solidarisch mit den von LehrerInnen und Eltern unterstützten Studierenden und SchülerInnen zu erklären. Die Polizei erlaubte es den SchülerInnen dabei jedoch nicht, im Parque O’Higgins eine Kundgebung anzumelden.

Unglücklicherweise tun Teile aus der Führung der Bewegung und darüber hinaus ihr Bestes, um die Bewegung zurückzuhalten und eine Weiterentwicklung zu verhindern. Wie auch von der Regierung selbst, wird hier versucht, eine Spaltungslinie zwischen den SchülerInnen aufzubauen, die Schulgebäude besetzt hatten und denen, die sich bisher nicht an Besetzungen beteiligt haben. Am 30. Mai, als es keine Genehmigung für eine Kundgebung gegeben hatte, rief die Führung des LehrerInnen-Verbandes (Colegio de Profesores) einen „Tag der Reflexion“ aus, um den SchülerInnen, wie verlautbart wurde, Unterstützung zukommen zu lassen. Es handelte sich hierbei um den eindeutigen Versuch, eine Fortentwicklung der Proteste zu behindern. In Santiago hingegen organisierte der Stadtverband der LehrerInnengewerkschaft eine Kundgebung auf dem Plaza de Las Armas. Tausende LehrerInnen und SchülerInnen nahmen daran teil und versuchten im Anschluss Richtung Stadtzentrum zu marschieren. Überall in der Stadt traf mensch auf SchülerInnen-Gruppen, die „Schüler und Lehrer zusammen Seit an Seit“ skandierten. Wie unter der Pinochet-Diktatur war Tränengas darauf die Antwort. Die Polizei feuerte auch Tränengas in von SchülerInnen besetzte Schulgebäude im Stadtzentrum. Abends sangen Gruppen von SchülerInnen und UnterstützerInnen: „¿Donde esta Bachelet?” („Wo ist Bachelet?“).

Der brutale Gewalteinsatz führte auch zu Beschwerden von JournalistInnen, die ebenfalls die Schlagstöcke zu spüren bekommen hatten. Die Unterstützung für die Proteste wurde damit noch größer.

Organisationsgrad

Wenn die Bewegung erfolgreich sein will, ist es dringend erforderlich, dass sie noch besser organisiert wird. Dazu muss auch eine Ausweitung der Proteste auf alle anderen Teile der Arbeiterklasse erfolgen. In den besetzten Schulen kam es dazu, dass nur einer bestimmten Anzahl von SchülerInnen erlaubt wurde, an den Blockaden teilzunehmen. Obwohl die SchülerInnen bei ihren Besetzungsaktionen gut organisiert waren, gibt es bisher keine demokratische Struktur bei der Führung der Kämpfe insgesamt. In einer Schule, die von GenossInnen von Socialismo Revolucionario (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Chile) besucht wurde, organisierten die SchülerInnen Ausschüsse für Lebensmittel, die Sicherheit und sogar für die tägliche Belieferung mit Zeitungen.

Aktions-Komitees müssen in allen Schulen gewählt werden und zunächst stadtweit, dann über das ganze Land miteinander vernetzt werden, um den Streik auszurichten und Strategie und Taktik auszuarbeiten. Wenn die Bewegung anhält und sich weiter entwickelt, muss der Kampf ausgeweitet werden und weitere Teile der Arbeiterklasse müssen einbezogen werden. Die Jugend darf in ihrem Kampf nicht allein gelassen werden.

Dies ist die Lehre aus den Kämpfen der Studierenden-Bewegung in Frankreich, die Mitglieder von Socialismo Revolucionario (Sektion des CWI in Chile) dieser Tage über Flugblätter in Chile verbreiten. Ein von den Gewerkschaften getragener 24-stündiger Generalstreik ist essentiell, um weitere Unterstützung für die OberstufenschülerInnen zu mobilisieren und die Regierung zur Rücknahme des verhassten LOCE zu bringen. Der Kampf der OberstufenschülerInnen eröffnet eine neue Phase an Kämpfen der chilenischen Jugendlichen und der ArbeiterInnenklasse.

Nachbemerkung

Seitdem sich der Streik an den Schulen ausgebreitet hat, wuchs als Ergebnis aus den Polizei-Übergriffen die Empörung. Am Mittwoch, dem 31. Mai, kam es zwischen 13 Uhr und 19 Uhr abends zu durchgehenden Auseinandersetzungen zwischen SchülerInnen und der Polizei, bei denen mehr als 700 Personen festgenommen wurden.

Etliche JournalistInnen wurden dabei verprügelt und ihre Fotoausrüstungen zerstört. Die Gewalt wird sogar von wohlhabenderen Schichten der chilenischen Gesellschaft beklagt. Die Verurteilung der Ereignisse durch die Öffentlichkeit führte zur Entlassung des Leiters der Sondereinsatzkräfte. Es handelt sich bei den Auseinandersetzungen um den ersten Erfolg seit langem gegen die Regierung – eingefahren von einer Bewegung aus ArbeiterInnen und Jugendlichen.

Mehr zum Thema: