Di 30.10.2018
Bereits im Bus nach Trelew, einer Kleinstadt im argentinischen Teil von Patagonien, merkt man eine spezielle Stimmung. Am Busbahnhof angekommen sieht man sich Massen von Frauen in grün, der Farbe der Kampagne für die Legalisierung von Abtreibung, gegenüber. Kaum eine Frau hat kein grünes Pañuelo irgendwo an ihrem Körper oder ihrer Tasche befestigt. Das Pañuelo, das mit Tuch übersetzt werden kann, geht auf eine Gruppe von Frauen zurück (Madres de la Plaza de Mayo), die während der letzten Militärdiktatur gegen das Verschwinden ihrer Kinder protestiert haben.
Das Encuentro Nacional de las Mujeres (ENM = Nationales Frauentreffen) findet von 13. bis 15. Oktober in der Stadt Trelew, Provinz Chubut in Argentinien statt. Die Stadt, die kaum 100.000 EinwohnerInnen aufweist, wird von mehr als 50.000 Frauen für dieses lange Wochenende mit Beschlag belegt um zum 33-mal in Folge das ENM abzuhalten. Seit dem ersten Treffen 1985 änderte es jedes Jahr seinen Standort, um Frauen aus unterschiedlichen Regionen eine Chance zur Teilnahme zu geben. Seit dem Auftreten von Ni Una Menos (Keine Weniger) 2015, wo in massiven Protesten ein Ende von Frauenmorden und Gewalt gegen Frauen gefordert wird, ist die Teilnehmerinnenzahl explodiert. Auch heuer sind einige das ersten Mal dort. International kamen Frauen unter anderen aus Mexiko, Paraguay, Chile, Bolivien, Frankreich, Spanien, wobei diese wegen der Massen an Argentinierinnen kaum auffallen.
Für viele bedeutet das Treffen einen Einschnitt in ihr Leben: Die Solidarität und das Gefühl, man ist mit seinen Forderungen nach einer Welt ohne Patriarchat und sexistischer Diskriminierung nicht alleine. Das bildet die gemeinsame Basis der Masse an Teilnehmerinnen. Sie bezeichnen sich allesamt als Feministinnen und das revolutionäre Potenzial der Frau wird betont. Allerdings sind auch unterschiedlichste Gruppierungen, Organisationen und Parteien vertreten, die durchaus auch unterschiedliche Positionen und Interessen haben.
Gemeinsam bringen wir das Patriarchat zu Fall
Diese Vielfalt und Diversität wurde vor allem in den jeweiligen Workshops sichtbar. In mehr als 70 verschiedenen Arbeitskreisen zu unterschiedlichen Themen wie Feminismus und Aktivismus, lesbischer Aktivismus, nächste Strategien im Kampf für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen etc. teilen und diskutieren in den drei Abschnitten Frauen ihre Erfahrungen. Grundsätzlich ist die Idee, von Anfang bis zum Ende bei einem einzigen Workshop zu sein, um gemeinsam in der letzten Einheit Grundaussagen und -forderungen stellen zu können. Gerade in diesem Teil merkt man die unterschiedliche methodische und ideologische Herangehensweise der jeweiligen Teilnehmerinnen, die es verständlicherweise schwer machen, ein einheitliches Ergebnis zu erlangen. Die Auseinandersetzungen reichen vom Formalen (Wie wird der Workshop strukturiert? Wie wird der Ort für das Treffen des kommenden Jahrs ausgewählt?) zum Inhaltlichen (Welche Forderungen vertreten wird?).
Die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen wurde im argentinischen Parlament am 8. August mit einer knappen Mehrheit abgelehnt. Der Kampf auf der Straße gilt aber bereits als gewonnen. Eine breite Masse spricht sich dafür aus (die SenatorInnen, die dafür abgestimmt hatten, repräsentierten mehr als jene, die dagegen abgestimmt hatten), Abtreibungen wurden enttabuisiert und Betroffene begannen ihre Erfahrungen zu teilen. Wegen des großen Einflusses der katholischen Kirche und ihrer massenhaften Mobilisierung im Vorfeld des 8. August ist für viele der nächste Schritt die Trennung von Staat und Kirche und das daraus resultierende Ende der staatlichen Finanzierung der katholischen Kirche. Diese Kampagne, die sich gerade in ihren Anfängen befindet, nimmt sich ein oranges Pañuelo zum Symbol.
Demos erschüttern die Stadt
Transvestiten und Transsexuelle machen auf Trans- & Travestifemicidios (Morde an Transsexuellen und Transvestiten), ihr Verschwinden, die Gewalt, der sie täglich ausgesetzt sind, und ihre geringe Lebenserwartung aufmerksam. Unter diesem Titel schließen sich Tausende am Samstagabend auf den Straßen der Stadt zusammen. Am Abend des nächsten Tages wird die Abschlussdemo abgehalten. Wieder gehen Tausende von Leuten in einem großen Bogen durch die Stadt. Später wird von einer Demozuglänge von mehr als fünf Kilometern berichtet. Von angrenzenden Häuser aus drückten BewohnerInnen ihre Solidarität aus und zeigen ihr grünes Pañuelo. In dieser Demo mit einer unglaublich beeindruckenden Stimmung finden zahlreiche Forderungen und Transparente ihren Platz: von der Ablehnung des aktuellen IWF-Kredites, über die Forderungen nach der Legalisierung von Abtreibung über ein Ende von Frauenmorde und dem Sichtbarmachen von verschwundenen Frauen bis hin zur Forderung der Verbesserung des Gesetzes von Educación Sexual Integral (ESI = umfangreiche Sexualaufklärung), das durch die Abstimmung über die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in den öffentlichen Fokus gerückt ist. AbtreibungsgegnerInnen argumentierten vor der Abstimmung mit ESI als Mittel zur Verhinderung von Abtreibung. Jetzt, wo die Überarbeitung des bereits existierenden Gesetzes zu ESI gefordert wird, sprechen sich dieselben AbtreibungsgegnerInnen dagegen aus und bezeichnen diese als „ideología de genero“ (Ideologie der Geschlechter).
Ein bleibender Eindruck für Trelew
Aufgrund einer monatelangen Panikmache in den Medien, die das ENM in ein schlechtes Licht rückte, waren viele BewohnerInnen von Trelew skeptisch. Diese negative Grundstimmung drückt sich in einigen Zwischenfällen aus, bei denen Steine auf Schulen geworfen wurden, wo Teilnehmerinnen untergebracht waren. Der Gipfel der Repression wird am Sonntag nach der Demonstration erreicht. Ein paar Teilnehmerinnen werden von der Polizei grundlos verhaftet und für ein paar Stunden festgehalten. Dem gegenüber stehen jene Bewohnerinnen von Trelew, die am ENM teilnehmen und mit einem durchaus positiven Erlebnis nach Hause gehen. Das Treffen und die Organisierung haben der feministische Bewegung vor Ort den Rücken gestärkt.