Sa 10.10.2020
Am 10. Oktober jährt sich die Volksabstimmung in Kärnten/Koroška zum 100. Mal. An diesem Tag 1920 Entschied die Bevölkerung im Süden von Kärnten/Koroška mehrheitlich, dass die Region nicht Teil des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS-Königreich, später Jugoslawien), sondern der ersten Österreichischen Republik wird. Die Abstimmung und der militärische Widerstand gegen die Besetzung der Region durch den SHS-Staat werden von der deutsch-österreichischen Propaganda mythisiert und völlig verklärt dargestellt: Als ein Kampf der „deutschen Kärntner“ und ihrer „windischen“ Verbündeten gegen die Fremdherrschaft durch den SHS-Staat und die slowenischsprechenden Bewohner*innen Kärntens/Koroškas. Diese Darstellung findet sich wieder in erzreaktionären Vereinen wie Abwehrkämpfer- und Kameradschaftsbund, Reden von Politiker*innen aller etablierten Parteien und sogar in der 1930 zur Landeshymne hinzugefügten vierten Strophe („…wo man mit Blut die Grenze schrieb…“, gedichtet von der begeisterten Nationalsozialistin Agnes Millonig und bis heute beibehalten). Tatsache ist: Ohne die Aktivitäten großer Teile der slowenischsprechenden Arbeiter*innen und Bauern wären weder „Abwehrkampf“, noch eine Mehrheit für den Verbleib bei Österreich bei der Volksabstimmung möglich gewesen.
Die Kärntner Slowen*innen bis 1920
1335 wurde Kärnten/Koroška dem Habsburger Herzog Albrecht II. übertragen und blieb von da an bis zum Zerfall der Österreich-Ungarischen-Monarchie unter habsburgischer Herrschaft. Unter dieser Herrschaft etablierte sich die deutsche immer mehr als die offizielle und dominante Sprache. Folglich hatten deutschsprechende Kärntner*innen im Vergleich zu slowenischsprechenden bessere soziale Aufstiegschancen. Ein großer Teil der slowenischsprechenden Landwirt*innen produzierte nicht nur für den Eigenbedarf und war von den Handelsbeziehungen in den deutschsprachig dominierten Städten Kärntens/Koroškas abhängig. Das brachte die Notwendigkeit, deutsch zu lernen mit sich.
Mit dem Aufkommen nationalistischer Bewegungen im 19. Jahrhundert nahmen auch in Kärnten/Koroška slowenisch-nationalistische Bewegungen ihren Anfang, waren aber in einer schwachen Position. Zum einen gab es keine breite gemeinsame Plattform der slowenischsprechenden Bevölkerung. Zum anderen untergruben die wichtigen Handelsbeziehungen zu Österreichischen Städten die Unterstützung für die Idee der Abtrennung von Österreich.
Der deutsche Nationalismus war dagegen in einer starken Position. Alleine die Perspektive, dass Kinder, die die deutsche Sprache nicht lernten, kaum Chancen auf Wohlstand und sozialen Aufstieg hatten, übte starken Assimilierungsdruck aus. Eine Fülle von Machtpositionen tat ihr Übriges: Aus diesen bekämpften, blockierten und erschwerten die deutschsprachigen Eliten die Umsetzung beispielsweise der Liberalisierungen im Bildungswesen von 1848, die nationalen Minderheiten das recht auf Unterricht in ihrer Erstsprache garantieren sollten. Wenn es slowenischsprachigen Unterricht gab, dann nur bis zur zweiten oder dritten Schulstufe, danach nur noch deutschsprachigen. Anordnungen aus Wien 1880 und 1891, slowenischsprachigen Unterricht sicherzustellen, wurden von den Behörden vor Ort ignoriert, umgangen und verzögert. All das führte zu einem Rückgang der slowenischen Sprache: 1848 gab es noch 114.000 deklarierte slowenischsprechende Kärntner*innen – 1919 war die Zahl auf 66.436 gesunken. Der slowenische Nationalismus hatte es nicht geschafft, sich in Kärnten/Koroška breit zu verankern.
Einmarsch der SHS-Truppen
Der neu gegründete SHS-Staat verfolgte eine aggressive Expansionspolitik. Der Einmarsch am 5. November 1918 in Kärnten/Koroška und die Besetzung großer Teile des Südens des Landes sollten das Vorhaben vorantreiben, alle Gebiete Kärntens/Koroškas, in denen slowenische Bewohner*innen für 50 Jahre zurückverfolgbar waren, zu übernehmen. Mit dem militärischen Angriff sollten Tatsachen geschaffen werden, die den Vertragsverhandlungen von St. Germain vorgreifen sollten. Im Fall der Untersteiermark/Slovenska Štajerska war das gelungen. Auch dort gab es eine slowenischsprechende Bevölkerungsmehrheit. Im Unterschied zu Kärnten/Koroška kam es aber nicht zum organisierten militärischen Widerstand gegen die SHS-Truppen. Das Gebiet wurde in St. Germain der SHS-Monarchie zugesprochen. Ohne den „Abwehrkampf“ in Kärnten/Koroška wäre das wohl auch in den besetzten Gebieten Kärntens/Koroškas passiert.
Der Einmarsch des SHS-Staats wurde dort von großen Teilen der Bevölkerung als Überfall wahrgenommen – auch von vielen slowenischsprechenden Kärntner*innen. Ein Anschluss an den SHS-Staat war für viele von ihnen die schlechtere Option. Das hatte handfeste wirtschaftliche und politische Gründe.
Neue Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen Monarchie: Was bieten sie den Kärntner Slowen*innen?
Innerhalb der SHS-Monarchie gab es von Beginn an starke Auseinandersetzungen vor allem zwischen serbischem und kroatischem, aber auch slowenischem Nationalismus. Während das Königreich Serbien auf einen gemeinsamen Staat drängte, strebten slowenische und kroatische Eliten nach dem Ende des Habsburgerreiches anfangs jeweils eigene Staatsbildungen an. Eingeschüchtert durch den aggressiven italienischen Imperialismus, der Gebietsansprüche auf Istrien und Dalmatien erhob (und teilweise durchsetzen konnte), schlossen sie sich der Idee eines gemeinsamen Staates mit dem serbischen Königreich an. Von da an drängten die serbischen Eliten innerhalb der SHS-Monarchie auf Zentralismus und Angleichung von Kroat*innen und Slowen*innen an die serbische Kultur. Das führte zu dauerhaften innenpolitischen Spannungen und Krisen. Die gab es auch mit vielen anderen Nationalitäten, die am SHS-Staatsgebiet lebten, aber weder im Staatsnamen, noch im Bewusstsein der dominierenden nationalen Gruppen als solche vorkamen (bosnische Muslim*a, mazedonische Slaw*innen, Montenegriner*innen…).
Bulgarien erkannte die Zugehörigkeit Vardar-Mazedoniens zum SHS-Staat nicht an und unterstütze Terrorgruppen, die in der Region agierten – ein zweiter außenpolitischer Dauerkonflikt neben jenem mit Italien. Diese Konflikte erhöhten aus Sicht der Bevölkerung Kärntens/Koroškas die Gefahr, nach dem sinnlosen Gemetzel des Weltkrieges bald wieder zum Militärdienst eingezogen zu werden, während mit einem Verbleib in der 1. Republik diese Gefahr weit niedriger schien. Hier war das Heer durch den Vertrag von St. Germain stark beschränkt und daher von vorneherein nicht geeignet, um außenpolitische Interessen militärisch durchzusetzen.
Die österreichische Arbeiter*innenbewegung organisierte sich 1918 in Arbeiter*innen- und Soldatenräten. Nach dem Vorbild der russischen Oktoberrevolution begannen die Rätestrukturen damit, die Organisierung des öffentlichen Lebens zu übernehmen. Diese demokratischen Strukturen boten eine Perspektive: Das Elend der kapitalistischen Welt, Krieg, Hunger, Krisen und Unterdrückung, zu überwinden. Die Führung der Sozialdemokratie verhinderte das und proklamierte stattdessen gemeinsam mit den bürgerlichen Parteien die kapitalistische Republik Österreich. Doch selbst die bot vielen unterdrückten Arbeiter*innen und Bauern im Süden Kärntens/Koroškas eine bessere Perspektive, als das SHS-Königreich.
Das österreichische Bürgertum war völlig desorganisiert. Es hatte den Weltkrieg, den größten Teil seines Staatsgebietes und seinen weltpolitischen Einfluss verloren. Um nicht doch noch von den revolutionären Arbeiter*innen entmachtet zu werden, musste es Zeit gewinnen, um sich neu aufzustellen. Die Sozialdemokratie verschaffte ihm die Möglichkeit dazu, brauchte aber Massive demokratische und soziale Zugeständnisse, um der Arbeiter*innenklasse den revolutionären Wind aus den Segeln zu nehmen: 8-Stunden-Tag, Sonn- und Feiertagsruhe, eine Reihe von Arbeiter*innenschutzgesetzen, die Abschaffung von repressiven Maßnahmen bei Verletzung des Arbeitsvertrags durch Beschäftigte, das internationale Novum eines bezahlten Arbeitsurlaubes für alle Branchen, eine 30-wöchige Unterstützung von Arbeitslosen durch die Arbeitslosenversicherung, Kollektivverträge, das Recht, Betriebsräte zu gründen, der Ausbau von Kranken- und Unfallversicherungen und viele andere Verbesserungen wurden in den ersten Jahren der 1. Republik eingeführt. Die Sozialdemokratie, die wenigstens in ihren Sonntagsreden weiterhin von der Überwindung des Kapitalismus redete, stellte mit Karl Renner den Bundeskanzler – während der SHS-Staat von einem Monarchen und einem schwachen Parlament regiert wurde. Während in Österreich der Klassenkampf tobte und nur von der verräterischen Führung der Sozialdemokratie gebremst werden konnte, spitzten sich im SHS-Staat nationalistische Konflikte zu. All das sprach in den Augen vieler Kärnter Slowen*innen für einen Verbleib bei Österreich.
Die Mehrheit der slowenischsprechenden Kärntner*innen war in der Landwirtschaft beschäftigt (1910: 70,6%). Ein kleiner Teil davon produzierte für den Eigenverbrauch, der Rest war als Landarbeiter*innen beschäftigt oder als Landwirt*innen von den Absatzmärkten in den größeren Städten abhängig. Einige wichtige slowenischsprechende Landwirtschaftsbetriebe lagen nördlich der Drau/Drava zwischen Klagenfurt/Celovec und Griffen/Grebinj. Die Produkte dieser Betriebe wurden vor allem in Klagenfurt/Celovec und Völkermarkt/Velikovec verkauft.
Während der rund 12-monatigen Besetzung durch SHS-Truppen waren sie von ihren gewohnten Absatzmärkten abgeschnitten. Sie mussten zum Teil eine lange Reise über den Loibl-Pass/Prelaz Ljubelj oder eine teure Eisenbahnfahrt durch den Karawankentunnel/Predor Karavanke unternehmen, um auf die Märkte auf SHS-Territorium zu gelangen. Dort wurden sie in die Konkurrenz mit kroatischen und serbischen Bauern und ihre weit niedrigeren Preise gezwungen, nachdem ihnen die Lebensmittelknappheit auf den österreichischen Märkten Preisvorteile verschafft hatte (die Lebensmmittelknappheit in Österreich hatte sogar dazu geführt, dass die Bundesregierung zögerte, den Kärntner Abwehrkampf offiziell zu unterstützen, weil sie von Lebensmittellieferungen aus dem SHS-Staat abhängig war). Das führte zu großen Einkommensverlusten bei der slowenischsprechenden Landbevölkerung und spielte eine zentrale Rolle bei der Volksabstimmung. Gerade den oben genannten mehrheitlich slowenischsprachigen Landgemeinden waren die Ergebnisse für einen Verbleib bei Österreich besonders hoch (Tainach/Tinje 85,9%, Grafenstein/Grabštajn 88,1%), sogar höher als in manchen mehrheitlich deutschsprachigen (Völkermarkt/Velikovec 83,4%).
In anderen Teilen des Landes stimmte wiederum eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung für eine Zugehörigkeit zum SHS-Staat. Daraus können wir nicht schließen, dass dort die stumpfe, jugoslawisch-nationalistische, antideutsche Propaganda auf fruchtbareren Boden gefallen wäre. Viele, die für den SHS-Staat stimmten, wollten die rückständigere Staatsform, das Fehlen vieler demokratischer Rechte und die größere Instabilität in Kauf nehmen, um der befürchteten nationalen Unterdrückung durch das deutschnationale Bürgertum und der sozialen Schlechterstellung in Österreich zu entkommen. Die weitere Geschichte hat gezeigt, dass diese Sorgen berechtigt waren. Bekannte Unterstützer*innen einer Zugehörigkeit zum SHS-Staat wurden nach der Volksabstimmung schikaniert, verloren ihre Arbeitsplätze, wurden bedroht. Viele davon wanderten in der Folge aus Österreich aus, um der Unterdrückung zu entkommen.
Der Abwehrkampf – gemeinsamer Widerstand slowenisch- und deutschsprechender Kärntner*innen
Auf einen gemeinsame Antrag aller Landtagsparteien beschloss die Kärntner Landesregierung am 5. Dezember militärischen Widerstand gegen ein weiteres Vordringen der SHS-Truppen. Diese hatten bereits Gailtal/Ziljska Dolina, Rosental/Rož und das südliche Lavanttal/Labotska Dolina besetzt und waren bis Ferlach/Borovlje und Völkermarkt/Velikovec vorgestoßen. Zum Landesbefehlshaber wurde Ludwig Hülgerth ernannt. Er wurde im Austrofaschismus Landeshauptmann von Kärnten/Koroška und Vizekanzler bis zum Anschluss an Nazi-Deutschland. Truppenführer wurde Hans Steinacher, der lange vor dem Anschluss offen als Nazi auftrat, von vielen Nazis als bester Kandidat für den Vorsitz der österreichischen NSDAP gesehen wurde, 1934 in seinem „Verein für das Deutschtum im Ausland“ den Hitlergruß als offiziellen Gruß einführte und über diesen Verein ab 1935 die österreichische „illegale“ NSDAP stark mitfinanzierte. Rückblickend sagte er über die Volksabstimmung: „Es war mir stets eine unumstößliche Selbstverständlichkeit, den Abstimmungskampf nicht um den Anschluss an Österreich, sondern um die großdeutsche Zukunft zu führen“. Gerade für ihn enthüllte der Kärntner Heimatdienst am 3. Oktober 2020, anlässlich des nahenden 100-jährigen Jubiläums der Volksabstimmung ein Denkmal in Miklautzhof/Miklavčevo. Ein Hinweis auf die Rolle der slowenischsprechenden Bevölkerung im Abwehrkampf und bei der Volksabstimmung fehlt.
Die Stimmung in diesen Kampfverbänden muss von deutschnationalem, antislowenischen Chauvinismus geprägt gewesen sein. Wenn die Publikationen des rechtsextremen Kärntner Abwerkämpferbundes, der aus diesen Truppen als „Gedenkverein“ hervorging, die Atmosphäre in den Truppen widerspiegelt, kann man davon ausgehen, dass diese Truppen für jede faschistische Regierung zu den politisch zuverlässigsten gehört hätten. Der Aufruf der Kärntner Landesregierung, sich freiwillig zu den Kampfverbänden zu melden war wenig erfolgreich: Nur 3% der Menschen, die in Frage kamen, meldeten sich. Trotz der Schwäche dieser offiziellen Truppen wurde der SHS-Angriff auf Klagenfurt/Celovec am 14. Dezember und in der Folge eine weitere Offensive abgewehrt. Die SHS-Verbände wurden bis Anfang Jänner bis zur alten Grenze und darüber hinaus zurückgedrängt. Das lag ganz stark daran, dass die Zivilbevölkerung selbstorganisiert aktiv wurde. Sie ging mit Guerillaaktionen gegen die SHS-Truppen vor. Dabei spielte die nationale Zugehörigkeit keine große Rolle. Die politischen und wirtschaftlichen Gründe führten dazu, dass slowenischsprechende wie detuschsprechende Bäuer*innen, Landarbeiter*innen und Arbeiter*innen eine Zugehörigkeit zum SHS-Staat in weiten Teilen ablehnten. Die Frage von nationaler Unterdrückung war für Kärntner Slowen*innen damit nicht vom Tisch. Der Kampf für ihre nationalen Rechte innerhalb der Republik Österreich war aber für viele offenbar die bessere Option als ein zurück-auf-Null im Kampf für demokratische Rechte und soziale Verbesserungen. Die brutale Repression des SHS-Staats in den Gebieten, die er kontrollierte, richtete sich besonders, aber nicht nur gegen die deutschsprechende Bevölkerung. Jede (vermutete) Opposition wurde mit Hausdurchsuchungen und Verhaftungen beantwortet. Diese Repression half dabei, Slowen*innen für den Abwehrkampf zu gewinnen. Die Aktionen dieser freiwilligen, zivilen Truppen verschafften den schwachen offiziellen Verbänden den entscheidenden Vorteil in der ersten und zweiten Phase des Abwehrkampfes. Die Kämpfe zur Rückeroberung des Rosentals/Rož sind ein gutes Beispiel dafür. Sie begannen am 5. Jänner in Arnoldstein/Podklošter. Der erste Angriff erfolgte von slowenischsprechenden Kämpfern aus dem Gailtal/Ziljska Dolina. Am 6. und 7. Jänner 1919 gelang es zivilen Truppen innerhalb von 36 Stunden, die SHS-Truppen nach zwei Monaten Besetzung zu verjagen. Am 8. Jänner wurde Ferlach/Borovlje zurückerobet, es folgte ein Waffenstilland.
Nach der Festlegung der Volksabstimmung im Vertrag von St. Germain marschierte eine SHS-Armee mit erdrückender zahlenmäßiger Überlegenheit Ende Mai 1919 ein drittes Mal in Kärnten/Koroška ein und besetzte am 6. Juni auch Klagenfurt/Celovec. Die Stadt musste nach Aufforderung des Obersten Rats der Alliierten in Paris wieder geräumt werden, die Gebiete, in denen abgestimmt wurde, blieben bis zum 10. Oktober unter Kontrolle des SHS-Staates, überwacht durch italienische Truppen. Mit dieser erneuten Besetzung endeten die bewaffneten Auseinandersetzungen – der Kampf verlagerte sich nun auf die Ebene der Propaganda für die Volksabstimmung.
Die Volksabstimmung am 10. Oktober 1920
Die strittigen Gebiete wurden in zwei Zonen eingeteilt. Die größere Zone A mit einer slowenischsprechenden Bevölkerungsmehrheit von etwa 70% und besetzt vom SHS-Staat stimmte am 10. Oktober ab. Weit über ein Jahr hatte der SHS-Staat also Zeit, die Bevölkerung davon zu überzeugen, sich ihm anzuschließen. Er hatte ganz klar die Propagada-Hoheit. Pro-Österreichische Flugblätter, Plakate und Sticker mussten in die Abstimmungszone geschmuggelt und unter der Hand verbreitet werden. Trotzdem tauchten sie überall und massenhaft auf. Der deutschnationale Chauvinismus hielt sich in dieser Zeit zurück. Plakate in slowenischer Sprache und lokalen Dialekten wurden gedruckt. Sie nahmen Bezug nicht nur auf gemeinsame Geschichte, Traditionen und Kultur: „Abtrennung von Klagenfurt und Villach bedeutet unseren wirtschaftlichen Tod. Wir wollen nicht auf diese Art verkümmern. Wir wollen als freie slowenische Kärntner in einem vereinten und friedlichen Kärnten leben“, oder: „Der SHS-Staat kennt keine Arbeiterfürsorge“ war auf Plakaten zu lesen. Sie setzten dort an, wo der SHS-Staat das alltägliche Leben störte und den Lebensstandard verschlechterte.
Sowenischsprechender Klerus und Eliten, vor allem Grundbesitzer, propagierten die Zugehörigkeit zur SHS-Monarchie. Neben ideologisch-nationalistischen Gründen vor allem auch, weil dieser Staat für ihre Herrschaft und Privilegien den besseren Schutz zu bieten schien als das von Klassenkämpfen überrollte Österreich. Die Propaganda beschränkte sich weitgehend auf aggressiven antideutschen, jugoslawischen Nationalismus. Diskriminierungen gegen und Vertreibungen detuschsprechender Kärntner*innen brachte der slowenische Bevölkerung aber keine Verbesserungen. Nahrungsmittellieferungen und der Bau von Straßen durch den SHS-Staat konnten die Störungen und Verschlechterungen in den Augen vieler nicht aufwiegen.
Von der slowenischsprechenden Bevölkerungsmehrheit, die etwa 70% der Bevölkerung in der Abstimmungszone A ausmachte, haben sich 40-50% gegen den SHS-Staat entschieden. Gemeinsam mit den Deutschsprechenden, die fast ausschließlich für Österreich stimmten, ergab das ein Ergebnis von 59,04% für den Verbleib bei Österreich.
Neben den verschiedenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gründen spielte auch der Modus der Abstimmung eine Rolle dabei, wie das Ergebnis zustande kam. Die Interessenlage der imperialistischen Siegermächte des 1. Weltkrieges nahm hier Einfluss. In St. Germain wurden das Mießtal/Mežiška Dolina, Unterdrauburg/Dravograd und die Gemeinde Seeland im Kankertal/Jezersko ohne Abstimmung dem SHS-Staat zugesprochen. Diese mehrheitlich slowenischsprachige Gebiete, von denen man annehmen kann, dass sie mehrheitlich für den SHS-Staat gestimmt hätten, konnten damit keinen Einfluss mehr auf die Abstimmung nehmen. Gleichzeitig wich die Grenzziehung zwischen den Abstimmungszonen A (mehrheitlich slowenischsprechende Bevölkerung) und B (mehrheitlich deutschsprechende Bevölkerung, sehr hohe Wahrscheinlichkeit für eine Abstimmung pro-Österreich, sollte sich Zone A für den SHS-Staat entscheiden) kaum von der natürlichen Grenzlinie der Drau/Drava ab. Aber eine große Ausnahme wurde mit Völkermarkt/Velikovec gemacht. Obwohl es nördlich der Drau lag, zählte es zur Zone A. Bei dieser recht bevölkerungsreichen Stadt mit einem traditionell starken deutschnationalen Bürgertum war davon auszugehen, dass ein großer Teil der Bevölkerung für Österreich stimmen würde. Das geschah dann auch. Damit waren für die Abstimmung aus österreichischer Sicht von vornherein günstige Bedingungen geschaffen worden.
Die Entscheidung, mehrsprachige Teile Kärntens/Koroškas ohne Abstimmung bestimmten Staaten
zuzusprechen, zeigt auch, wie unernst es den Siegermächten mit der nationalen Selbstbestimmung war. Abgesehen von den Gebieten Kärntens/Koroškas, die an den SHS-Staat angeschlossen wurden, fiel das Kanaltal per Beschluss in St. Germain an den italienischen Staat – der im Weltkrieg auf die Seite der Entente gewechselt war, somit zu den Siegermächten zählte und dafür auch belohnt wurde.
Durch das Ergebnis für den Verbleib bei Österreich in Zone A entfiel die Abstimmung in Zone B.
Der rechtsextreme Mythos von den „Windischen“
Dass die Mehrheit der Südkärntner Bevölkerung nicht deutschsprachig war, lässt sich auch von den gröbsten rechtsextremen Geschichtsfälscher*innen nicht weglügen. Um die Rolle der Kärntner Slowen*innen aus der Geschichte zu streichen, brauchte die deutschnationale Rechte einen anderen Ausweg: Nicht die Kärntner Slowen*innen hätten demnach gemeinsam mit deutschsprechenden Kärtner*innen gegen den SHS-Staat gekämpft, sondern die „Windischen“, die angeblich eine eigene Sprachgruppe bilden und nichts mit dem „Nationalslowenentum“ zu tun hätten. „Windische“ und „Deutsche“ hätten gemeinsam gegen die „Slowenen“ gekämpft. Kein einziger „Slowene“ habe für den Verbleib bei Österreich gestimmt. Im Gegensatz zu den „Slowenen“ seien die „Windischen“ eine Mischgruppe, die mit den „deutschen“ Kärntnern eine Schicksalsgemeinschaft, wenn auch keine sprachliche Gemeinschaft, bildeten. Dass in den vergangenen Jahrzehnten immer weniger Kärntner*innen „windisch“ sprächen, liege daran, dass ihre Kinder die deutsche Sprache bevorzugen, aus Angst, sonst statistisch zu den „Nationalslowenen“ gerechnet zu werden. So argumentiert der rechtsextreme Kärntner Abwehrkämpferbund.
Abgesehen davon, dass der Begriff „windisch“ tatsächlich bis Anfang des 19. Jahrhunderts existierte und dann im üblichen Sprachgebrauch nach und nach weitgehend durch den Begriff „slowenisch“ ersetzt wurde, ist an diesen Darstellungen der extremen Rechten alles falsch. Die „Windischentheorie“ wurde im Nachhinein (1927) entwickelt, um die Repression gegen die Kärntner Slowen*innen zu rechtfertigen und ist aus wissenschaftlicher Sicht klar widerlegt.
Nach den revolutionären Ereignissen in den Jahren 1918 und 1919 musste das Bürgertum jede Möglichkeit der Spaltung der Arbeiter*innenbewegung nutzen, um die eigenen Machtpositionen zu sichern und die vielen Verbesserungen für Werktätige wieder abzuschaffen. So trat direkt nach der Volksabstimmung wieder der Deutschnationalismus der Kärntner Eliten auf den Plan. Sofort begann eine Welle von Kündigungen von slowenischsprechenden Kärntner*innen in Staatsbetrieben und öffentlichem Dienst. Die Umsetzung des bei der Abstimmung versprochenen Minderheitenschutzes wurde von Anfang an verweigert. Nach Jahren der nationalen Unterdrückung in der ersten Republik und dem Austrofaschismus trieb der Nazifaschismus mit dem Anschluss an das deutsche Reich die Repression auf die Spitze. Die slowenischsprechede Bevölkerung wurde von den Nazis enteignet, deportiert, interniert, verfolgt, oft gefoltert und ermordet. Durch den mit den jugoslawischen Partisan*innen koordinierte bewaffneten Widerstand (vor allem) der slowenischsprechenden Bevölkerung wurden Truppen der Wehrmacht in Kärnten/Koroška gebunden und ein schnelleres Zurückdrängen der Nazi-Streitkräfte ermöglicht. Dieser heroische, einzige nennenswerte bewaffnete Widerstand gegen das Naziregime in Österreich wurde und wird von den österreichischen Eliten in weiten Teilen als „Verrat am Vaterland“ denunziert, die Unterdrückung der slowenischen Sprachgruppe ging und geht in der 2. Republik bis heute weiter.
Die Nationale Frage in Russland und in Österreich
Mit dem ersten Weltkrieg lieferte der Kapitalismus Millionen von Arbeiter*innen und Jugendlichen den Beweis, dass er keine Perspektive für die Menschheit bot. Der Sturz des Kapitalismus in Russland, angeführt durch die in in Sowjets organisierte Arbeiter*innenklasse löste eine Welle von revolutionären Erhebungen auf der ganzen Welt aus und beendete den Weltkrieg. Die Bolschewiki hatten sich in den Jahrzehnten davor auf die Möglichkeit revolutionärer Kämpfe vorbereitet. Sie hatten ein Programm entwickelt, um die größtmögliche Einheit der Arbeiter*innenklasse sicherzustellen, sie an die Spitze der bäuerlichen Massen zu stellen und den Aufbau einer neuen, sozialistischen Gesellschaft anzuführen. Besonderes Augenmerk legten sie dabei auf die Frage des Selbstbestimmungsrechts der Nationen. Das Zarenreich war ein Völkergefängnis. Die größte ethnische Gruppe, die Russ*innen, stellten mit 43% eine Minderheit der Gesamtbevölkerung. Alle anderen Nationen wurden von den Eliten dieser Gruppe brutal unterdrückt – sozial, kulturell und national. Die Bolschewiki, allen voran Lenin, verstanden, dass die nationale Unterdrückung ein Stolperstein für gemeinsame Kämpfe der Arbeiter*innenbewegung wird, wenn die Führung der Arbeiter*innenklasse dem bürgerlichen Nationalismus nicht konsequenten Internationalismus entgegenstellt. Lenin schreibt 1913: „Die Bourgeoisie aller Nationen sowohl in Österreich als auch in Russland betreibt unter der Losung der ‚nationalen Kultur‘ in Wirklichkeit die Zersplitterung der Arbeiter, die Schwächung der Demokratie und verhökert die Volksrechte und die Volksfreiheit an die Fronherren“.
Nach dem 1. Weltkrieg wurde das auf dem Boden der ehemaligen Habsburger Monarchie Realität. Es gelang den nationalen Eliten der verschiedenen Volksgruppen – oft gegen den erbitterten und sogar bewaffneten Widerstand einer radikalisierten Arbeiter*innenklasse – neue Nationalstaaten auf kapitalistischer Grundlage zu etablieren. Nationale Minderheiten in den neuen Staaten wurden von neuen dominierenden Gruppen unterdrückt, die nationale Frage blieb in weiten Teilen ungelöst und es kam laufend zu neuen Konflikten über Gebietszugehörigkeiten – all das zieht sich bis heute durch. Die Unterdrückung und Ausbeutung der Arbeiter*innenklasse wurde und wird unter einer anderen Flagge und in einer anderen Sprache fortgesetzt.
Lenin stellt dem bürgerlichen Nationalismus ein Klassenprogramm entgegen: „Die Losung der Arbeiterdemokratie heißt nicht ‚nationale Kultur‘, sondern internationale Kultur des Demokratismus und der Arbeiterbewegung der ganzen Welt“. Die Bolschewiki entwickelten, dass die revolutionäre Partei Publikationen in den Sprachen der unterdrückten Volksgruppen erstellen und darin auch gegen die nationale Unterdrückung durch die russischen Eliten polemisieren muss; dass sie eine Garantie weitestgehender Selbstbestimmungsrechte bis hin zur Bildung eines eigenen Staates für alle Nationen und Volksgruppen abgeben muss; dass sie einen gemeinsamen Kampf für diese Rechte durch die unterdrückten Klassen aller Volksgruppen gemeinsam mit der russischen Arbeiter*innenbewegung, die der potentiell stärkste Verbündete im Kampf gegen die Eliten ist, organisieren muss; und dass dieser Kampf ein antikapitalistischer Kampf sein muss, um sicherzustellen, dass die unterdrückten Klassen nicht in „eigenen“ Nationalstaaten landen, in denen sie von „eigenen“ nationalen Eliten weiter unterdrückt und ausgebeutet werden. Sie setzten darauf, die unterdrückten Klassen aller im Zarenreich national unterdrückten Volksgruppen unter Führung der Arbeiter*innenbewegung, vom (im Zarenreich ebenfalls national unterdrückten) Bürgertum und Klerus ihrer eigenen Volksgruppe abzuspalten und für einen gemeinsamen Kampf für eine sozialistische Gesellschaft zu gewinnen. Um das zu erreichen war die größtmögliche Sensibilität im Umgang mit nationalen Gefühlen der im Zarenreich zusätzlich zur Klassenunterdrückung auch national unterdrückten Volksgruppen notwendig. Lenin schreibt zur Frage von nationaler Kultur und Internationalismus:
„In jeder nationalen Kultur gibt es – seien es auch unentwickelte – Elemente einer demokratischen und sozialistischen Kultur, denn in jeder Nation gibt es eine werktätige und ausgebeutete Masse, deren Lebensbedingungen unvermeidlich eine demokratische und sozialistische Ideologie erzeugen. In jeder Nation gibt es aber auch eine bürgerliche (und in den meisten Fällen noch dazu erzreaktionäre und klerikale) Kultur, und zwar nicht nur in Form von ‚Elementen‘, sondern als herrschende Kultur. Deshalb ist die ‚nationale Kultur‘ schlechthin die Kultur der Gutsbesitzer, der Pfaffen, der Bourgeoisie. […] Wenn wir die Losung der ‚internationalen Kultur des Demokratismus und der Arbeiterbewegung der ganzen Welt‘ aufstellen, so entnehmen wir jeder nationalen Kultur nur ihre demokratischen und ihre sozialistischen Elemente; entnehmen sie nur und unbedingt als Gegengewicht zur bürgerlichen Kultur, zum bürgerlichen Nationalismus jeder Nation. Kein einziger Demokrat und erst recht kein einziger Marxist verneint die Gleichberechtigung der Sprachen oder die Notwendigkeit, in der eigenen Sprache gegen die ‚eigene‘ Bourgeoisie zu polemisieren, anti-klerikale oder antibürgerliche Ideen unter dem ‚eigenen‘ Bauerntum und Kleinbürgertum zu propagieren […].“ Mit diesem internationalistischen Zugang zur Nationalen Frage gelang es den Bolschewiki, eine breite, bunte Front verschiedener Volksgruppen und Nationalitäten hinter einem Klassenprogramm zu vereinen. Das Ergebnis war, dass viele Nationen und Volksgruppen nicht die Möglichkeit der Gründung eines eigenen Staates wählten, sondern sich dazu entschieden, Teil eines gemeinsamen Projektes zu bleiben, nämlich des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft.
Welches Programm im Kampf gegen nationale Unterdrückung?
In Österreich gab es nach dem 1. Weltkrieg keine Partei mit einem revolutionären Programm und einem klaren, bewussten Zugang zur nationalen Frage. Mit einem klaren Plan und Programm bewaffnet, wäre der Konflikt um die Gebietsansprüche des SHS-Staats eine Gelegenheit gewesen, nationale Gräben in Kärnten/Koroška dauerhaft zu überwinden und den Aufbau einer gemeinsamen Klassenorganisation der slowenisch- und deutschsprechenden Kärntner*innen voranzutreiben. Mit einer reformistischen, sozialdemokratischen Führung war das nicht zu machen. Dabei hätten die Bedingungen kaum besser sein können: Die deutschsprechende österreichische Arbeiter*innenklasse sagte dem Österreichischen Bürgertum nach dem Desaster des Weltkrieges den Kampf an und versuchte mitunter, die Macht zu übernehmen. Der slowenische Nationalismus war in Kärnten/Koroška historisch schwach. Seine untergeordnete Rolle gegenüber serbischem und kroatischem Nationalismus im SHS-Staat wirkte alles andere als Souverän. Große Teile der Kärntner Slowen*innen wandten sich von „ihren“ nationalen Eliten ab. Sie waren deshalb nicht deutsch- oder „österreich“-national, sie hofften auf bessere Lebensbedingungen und weitgehende Minderheitenrechte in der ersten Republik – und nahmen an, dass die Bedingungen für den Kampf um diese Rechte in Österreich besser waren, als im SHS-Staat. Das wird beim Vergleich der Volksabstimmung mit dem Ergebnis der Nationalratswahlen im Juni 1921 in der Region deutlich: Die Zahl der slowenischsprechenden Kärnter*innen, die für einen Verbleib bei Österreich stimmten, stimmte in etwa mit den Stimmen für die Sozialdemokratie bei dieser Wahl überein. Es waren nicht deutschnationale „Windische“, sondern klassenbewusste slowenischsprechende Arbeiter*innen und Kleinbauern, die die Abstimmung zu Gunsten Österreichs entschieden.
Wie hätte sich eine revolutionäre Führung in der Situation rund um die Gebietsansprüche des SHS-Staates in Kärnten/Koroška verhalten können? Sie hätte gemeinsam mit den slowenischsprechenden Arbeiter*innen ein Programm zur Frage von Minderheitenrechten entwerfen können. Dieses Programm hätte sie in eigenständigem, von der offiziellen Kampagne der Landesagitationsleitung zur Volksabstimmung unabhängigen Propagandamaterial in slowenischer und deutscher Sprache unter die Bevölkerung bringen können. Sie hätte in diesem Programm erklären können, warum jede einzelne Forderung gegen den Willen der deutschnationalen österreichischen Eliten durchgesetzt werden muss und warum jeder Nationalismus den Unterdrückten beider Sprachgruppen schadet. Sie hätte den Aufruf zur Abstimmung für einen Verbleib bei Österreich mit dem Aufruf verbinden können, sich dauerhaft dem Kampf um dieses Programm anzuschließen. Sie hätte den Kampf um soziale Verbesserungen, Minderheitenrechte und gegen nationale Spaltung verbinden müssen mit dem Kampf gegen das kapitalistische Gesellschaftssystem im Allgemeinen und erklären können, warum jeder erkämpfte Fortschritt erst dann sicher ist, wenn die Arbeiter*innenklasse selbst die Macht übernommen und abgesichert hat. Sie hätte deutschsprechenden Arbeiter*innen wieder und wieder erklärt, warum die Kärntner Slowen*innen wichtige Bündnispartner*innen im Kampf gegen den österreichischen Kapitalismus sind; dass die antislowenische Propaganda ein Versuch ist, die Unterdrückten zu spalten um ihre Kampfkraft zu schwächen; und dass eine Garantie aller gewünschten Minderheitenrechte seitens der Arbeiter*innenbewegung nötig ist, um das Vertrauen zu ihren deutschsprachigen Klassenbrüdern und -schwester zu zementieren. Sie hätte Aufrufe an die unterdrückten Arbeiter*innen im SHS-Staat formulieren und sie zur Unterstützung ihres revolutionären Programms und zum Kampf gegen das erzreaktionäre Regime im SHS-Staat formuliere können, wie das auch die Bolschewiki im Anschluss an die Oktoberrevolution getan haben.
Die Kärntner Slowen*innen und der Verrat der Sozialdemokratie
Doch die Sozialdemokratie verriet die Kärntner Slowen*innen, wie sie auch die deutschsprechende Bevölkerung Österreichs verriet. Als die Rätebewegung an Dynamik gewann, demobilisierte die Sozialdemokratie. Sie sorgte dafür, dass die Neugründung Österreichs auf kapitalistischem Boden stattfand und die Machtfrage, die die selbstorganisierten Arbeiter*innen- und Soldatenräte gestellt hatten, zu Gunsten der alten Eliten entschieden wurde. Anstatt einen klaren Kampf für die Interessen der Arbeiter*innenklasse zu führen, setzte sie auf Kompromisslösungen mit diesen Eliten und begab sich sofort in Koalitionen mit konservativen und reaktionären Parteien – sowohl auf Bundesebene, als auch in Kärnten/Koroška. Während große Teile der Kärntner Slowen*innen ihren nationalen Eliten den Rücken kehrten, führte die Sozialdemokratie die deutschsprechenden Arbeiter*innen Österreichs zurück in ein „Bündnis“ mit ihren nationalen Eliten und lieferte diesen Eliten die slowenischsprechenden Kärntner*innen aus.
Nach der Volksabstimmung ließ die Sozialdemokratie die nationalen Rechte und den versprochenen Minderheitenschutz für die Kärntner Slowen*innen wieder fallen wie eine heiße Kartoffel. Es gab in Kärnten nur wenig Großgrundbesitz (in der Hand des deutschsprechenden Adels), aber sehr viele slowenischsprechende Kleinbäuer*innen. Viele spätere Revolutionäre kamen aus dieser Schicht, hatten ein Erbteil von einem kleinen Landbesitz, auf dem sie wohnen konnten, und das sie mehr schlecht als recht ernährte. Dazu kamen Tagelöhner-Tätigkeiten wie Baumschlagarbeiten auf Adeligen Besitzungen und andere kurzfristige Jobs. Viele versuchten dem Elend zu entkommen und Jobs in den wenigen großen Industriebetrieben zu bekommen. In Betrieben wie bei den Büchsenmachern in Ferlach/Borovlje, in der Bergwerksindustrie in Bleiburg/Pliberk, der Holzindustrie in Bad Eisenkappel/Železna Kapla und anderen war der Assimilierungsdruck enorm, die slowenische Sprache verpönt. Unter den Slowen*innen, die in diese Industrien eintraten, war die Sozialdemokratie traditionell stark verankert. Doch sie nutzte das nicht, um dem deutschnationalen Assimilierungsdruck entgegenzutreten und die Frage der Nationalen Unterdrückung mit dem Kampf für demokratische und soziale Rechte zu verbinden. Im Gegenteil: Sie tat das Problem im besten Fall als Nebensache ab, im schlechtesten Fall stimmte sie in den Deutschnationalismus mit ein. Besonders deutlich wird diese Politik am Beispiel einer Sitzung der Kärntner Arbeiterkammer. Die KPÖ hat die nationale Frage in Kärnten/Koroška in der ersten Republik im Gegensatz zur Sozialdemokratie ernst genommen und unter den slowenischsprechenden Arbeiter*innen eine Basis aufgebaut. Als der KPÖ-Abgeordnete Johann Kazianka 1930 eine Denkschrift zur Frage der Kärntner Slowen*innen auf slowenisch vorlas, verließen die Abgeordneten aller anderen Fraktionen aus Protest gegen die Verwendung der slowenischen Sprache die Sitzung. Die Delegierten der Sozialdemokratie zogen gemeinsam mit den „christlich-sozialen“ (deren Mutterpartei, die heutige ÖVP, sich 1934 in die „Vaterländische Front“, die Partei des Austrofaschismus, auflöste) und deutschnationalen (die im Wesentlichen in die NSDAP mündeten) Delegierten aus dem Saal aus.
Das „Bündnis“ der Sozialdemokratie mit dem Bürgertum „scheiterte“ in dem Moment, in dem sich die Herrschenden wieder fest genug im Sattel fühlten, um zur Offensive gegen die Arbeiter*innenbewegung überzugehen. Die slowenischsprechenden Arbeiter*innen bekamen die Schläge der Reaktion doppelt und dreifach zu spüren. Im Gegensatz zur Führung der Sozialdemokratie waren sie bereit, zu kämpfen. Als 1934 in Linz, Wien und anderen wichtigen Städten der bewaffnete Widerstand gegen den Austrofaschismus losging, warteten slowenischsprechende Kärntner*innen auf den Kampfbefehl – vergeblich. Der spätere Partisanenführer Karel Prušnik-Gašper schreibt in seinem Buch „Gämsen auf der Lawine“: „Wir waren in unserer Scheune versammelt, reinigten Gewehre und verteilten Munition. Man bestimmte mich, in Eisenkappel auszukundschaften, wann wir losschlagen sollten. Der Führer der Sozialdemokraten sagte mir aber, dass es noch zu früh sei und wir noch zuwarten sollten. Ich kehrte zurück und teilte es ihnen mit. Die Burschen waren ungeduldig. Wir warteten auf Befehle von oben. Darauf warteten wahrscheinlich Tausende und Abertausende von arbeitenden Menschen, die bereit waren, die Republik zu verteidigen und zu erhalten. Als ich Tags darauf, am 15. Feber, nach Eisenkappel ging, um mich zu erkundigen, sagte mir derselbe sozialdemokratische Führer, dass es bereits zu spät sei, da das ‚Herz der Republik, Wien, zu schlagen aufgehört‘ habe. Wenn wir damals gewusst hätten, dass die Arbeiter in Leoben und anderen steirischen Industriezentren noch auf den Straßen kämpften, hätten auch wir losgeschlagen“.
In der 2. Republik
Die Kärntner Slowen*innen wurden nach dem Partisan*innenwiderstand gegen die Nazidiktatur von den Österreichischen Eliten der zweiten Republik und der extremen Rechten als „Banditen“ und „Verräter“ beschimpft. Für viele in der Verfassung verbrieften Rechte und Verbesserungen der Kärntner Slowen*innen (wie etwas das slowenische Gymnasium) musste hart gekämpft werden, in der Regel auch gegen die Kärntner SPÖ. Viele Rechte wurde nur schleppend und manche bis heute nicht umgesetzt. Gegen jedes noch so kleine Zugeständnis mobilisierte die extreme Rechte, dabei kam es oft zu Übergriffen und Ausschreitungen. Die SPÖ spielte hier auch in der zweiten Republik keine positive Rolle. Zuerst war ihr die Integration von Altnazis wichtiger als die Rechte der slowenischsprechenden Minderheit. Als die Kreisky-Regierung Anfang der Siebziger nach immer lauteren Forderung der slowenischsprechenden Bevölkerung zweisprachige Ortstafeln aufstellte, kam es im Herbst 1972 zum „Ortstafelsturm“, bei dem eine progromähnliche Stimmung herrschte. Auch Funktionär*innen der SPÖ beteiligten sich daran. Die Autokolonne des Ortstafelsturms am 25. Oktober 1972 wurde sogar vom SPÖ-Bürgermeister von St. Kanzian/Škocjan v Podjuni, Vitus Jesse, angeführt. Bis heute wurden die ursprünglich zugesicherten zweisprachigen Ortstafeln nicht vollständig aufgestellt – ein Symbol für die Missachtung der Minderheitenrechte der slowenischsprechenden Kärnter*innen durch die 2. Republik.
Die Verbrechen, Verschleppungen und Ermordungen durch Austrofaschismus und Nazidiktatur, aber vor allem auch der gewaltige Assimilierungsdruck, der in der 1. und 2. Republik ausgeübt wurde, haben zu einem Rückgang der slowenischsprechenden Bevölkerung Kärntens/Koroškas geführt. 1890 deklarierten sich 30% der Kärntner Bevölkerung als Slowen*innen. 1951 waren es noch 9%. 1971 bekannten sich etwa 20.000 Kärntner*innen zum Slowenentum, 2001 waren es noch 13.100.
Die SPÖ hat ihre Massenbasis in der Arbeiter*innenklasse mittlerweile verloren und ist zu einer normalen, kapitalistischen Partei geworden. Bis heute gibt es keine Partei, die dem antislowenischen Deutschnationalismus der extremen Rechten ein klares Klassenprogramm entgegenstellt. Diese Partei gilt es aufzubauen.
Aktuell hat sich die Stimmung in Kärnten wohl verbessert. Slowenische Intellektuelle wie die Schriftstellerin Maja Haderlap werden umworben. Zum 100. Jahrestag hat die Bundesregierung die Volksgruppenförderung, die die Erhaltung und Sicherung von Volksgruppen unterstützen soll, von rund vier (davon entfielen 2018 1,4 Millionen auf die Kärntner Slowen*innen) auf rund acht Millionen Euro verdoppelt (allerdings wurde die Förderung davor seit etwa einem Vierteljahrhundert nicht mehr erhöht) und eine „Jubiläumsspende“ von 4 Millionen Euro an das Land Kärnten beschlossen. Diese kleinen Gesten passieren zu dem Preis, dass über die jahrzehntelange Unterdrückung (insbesondere auch nach 1945) kaum gesprochen wird. Die nationale Unterdrückung und rechte Hetze gegen die slowenischsprechenden Kärntner*innen wird durch ein Gleichsetzen von „Hitzköpfen auf beiden Seiten“ heruntergespielt. Sehr schnell, wenn es die herrschenden kapitalistischen Eliten brauchen, können auch in Kärnten wieder rechtsextreme Gruppen, die auf nationale Spaltung setzen, wie die FPÖ, an die Macht kommen – ÖVP und SPÖ zeigten und zeigen auf allen Ebenen, dass sie kein Problem damit haben, mit der FPÖ zu koalieren. Der Kampf um die Durchsetzung und Sicherung der Rechte der slowenischen Minderheit sind daher noch lange nicht vorbei. Die Rechnung der Eliten nach 100 Jahren einen "Schlussstrich" zu ziehen wird nicht aufgehen. Die aktuelle "Versöhnung" ist auf Sand gebaut. Solange die Verbrechen (dazu gehört insbesondere auch der Kärntner Ortstafelsturm) gegen die Kärntner Slowen*innen nicht ehrlich aufgearbeitet werden, bleibt die Frage auf der politischen Tagesordnung.