So 17.02.2019
Die gesellschaftliche, politische und ökonomische Krise, die derzeit Venezuela erschüttert, bringt entscheidende Fragen und aufschlussreiche Lehren für Sozialist*innen und die internationale Arbeiter*innenklasse mit sich.
Darüber hinaus ist die venezolanische Krise auch eine drastische Warnung vor der Gefahr, der eine möglich „Labour“-Regierung unter Jeremy Corbyn in Großbritannien ausgesetzt sein wird, sollte diese den Versuch unternehmen, ein Programm radikaler Reformen umzusetzen, ohne dabei mit dem Kapitalismus zu brechen.
Die Kräfte des internationalen Kapitalismus haben sich hinter die Erklärung von Juan Guaidó, dem rechten Oppositionsführer in Venezuela, formiert, der sich selbst zum „Übergangspräsidenten“ ausgerufen hat. Jeremy Hunt, der Schlächter des britischen. Gesundheitssystems NHS, will, dass in Venezuela Wahlen stattfinden – während er sich Großbritannien gegen Neuwahlen wehrt!
Ein Putsch durch Juan Guaidó würde Privatisierungen, Austerität und noch stärkere Repression gegenüber Arbeitnehmer*innen bedeuten.
Zusammen mit einer Reihe weiterer rechtsgerichteter und reaktionärer Regierungen haben US-Präsident Trump, Brasiliens Präsident Bolsonaro und der argentinische Präsident Macri, Guaidó umgehend als Präsidenten anerkannt. Das war ein eindeutiger Bestandteil einer im voraus geplanten und koordinierten Intervention unter der Führung von Trump und dem US-Imperialismus.
Es ist offensichtlich, dass sie versuchen, einen Putsch durchzuführen, um Amtsinhaber Nicolás Maduro aus dem Amt zu jagen. Diesem schamlosen Eingreifen von Trump folgte die britische Premierministerin Theresa May genauso wie andere Regierungen in Europa, die auf herablassende Art gefordert haben, dass Maduro innerhalb von acht Tagen Neuwahlen anberaumen müsse.
Selbst die sogenannten „sozialistischen“ Regierungen in Spanien und Portugal haben sich der reaktionären Kampagne angeschlossen und drängen auf einen „Regimewechsel“. Führende Köpfe der Sozialdemokrat*innen, die sich in Deutschland mit Merkel in der Koalition befinden haben –ganz nach der Art eines modernen Noske oder Scheidemann (sozialdemokratische Politiker, die durch ihre Zustimmung für den Ersten Weltkrieg die Arbeiter*innen verraten haben) – diese Forderungen ebenfalls unterstützt.
Imperialistische Intervention
Trump hat „nichts ausgeschlossen“ und deutet eine militärische Intervention für den Fall an, dass Maduro einen Rücktritt ablehnt. Indem er Elliot Abrams zum Sonderbeauftragten für Venezuela ernannt hat, hat Trump den blutigen Charakter seiner Intervention klar gemacht. Abrams ist wegen seiner Rolle bei der Bewaffnung der „Contras“ in den 1980er Jahren in Nicaragua verurteilt worden.
Sozialist*innen und Arbeiter*innen sollten die reaktionären Putschversuchen, organisiert durch rechte Kräfte, nicht mittragen oder auf irgendeine Art unterstützen.
Sollten diese Kräfte erfolgreich sein, dann wird Repression und Angriffe gegenüber Arbeiter*innen und Sozialist*innen Venezuelas, die ohnehin schon genug zu leiden haben, noch dramatischer ausfallen. Jedes rechte Regime, das an die Macht kommt und Maduro ablöst, wird Rache nehmen an der Arbeiter*innenklasse und an den Sozialist*innen im Land.
Die Heuchelei des westlichen Imperialismus kennt keine Grenzen. Sie verurteilen die Regierung Maduro, arbeiten aber gleichzeitig mit brutalen Regimen in Asien, Afrika und Lateinamerika zusammen und unterstützen diese. Die Liste beinhaltet Saudi Arabien, den Irak, die Militär-Diktatur in Chile, Argentinien, Brasilien und andernorts – um nur einige zu nennen!
Auch wenn Sozialist*innen sich gegen die reaktionären Putschversuche positionieren, können sie auch dem Maduro-Regime kein Vertrauen schenken.
In Venezuela braut sich eine ökonomische und gesellschaftliche Katastrophe zusammen. Das BIP ist zwischen 2013 und 2017 um 35 Prozent eingebrochen! Das ist ein stärkerer Abschwung als zwischen 1929 und 1933 in den USA zur Zeit der großen Depression. Damals sank das BIP um 28 Prozent. Der Zusammenbruch ist sogar ein wenig stärker als den, den die UdSSR durchgemacht hat, als diese 1992 auseinanderbrach und der Kapitalismus wieder hergestellt wurde.
Die Prognosen des IWF deuten darauf hin, dass die Hyperinflation in diesem Jahr auf bis zu 10.000.000 Prozent ansteigen wird, was die Löhne wertlos werden lässt. Das ist vergleichbar mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch in der Weimarer Republik in den Jahren zwischen 1921 und 1923.
Der ökonomische Kollaps in Venezuela hat dazu geführt, dass die Fortschritte bei der Gesundheitsversorgung, der Bildung und anderen Bereichen zunichte gemacht worden sind, zu denen es zuvor unter der Regierung von Hugo Chávez gekommen ist.
Der Hunger ist zurück und die gesellschaftliche Kollaps lässt sich in den Großstädten an einer steigenden Kriminalitätsrate ablesen. In der größten Flüchtlingskrise in der Geschichte Lateinamerikas haben schätzungsweise drei Millionen Menschen die Flucht aus Venezuela angetreten. Das sind zehn Prozent der Bevölkerung!
Die kapitalistische Klasse und ihre politischen Vertreter*innen machen sich diese verheerende soziale und wirtschaftliche Krise auf internationaler Ebene zu Nutze, um zu behaupten, dass der „Sozialismus ein weiteres Mal gescheitert“ ist.
In Spanien und Brasilien ist Venezuela in einer wüsten Kampagne benutzt worden, um den Sozialismus an sich in Verruf zu bringen. In Großbritannien wurde das Beispiel Venezuela während der Parlamentswahlen gegen den Kandidaten Jeremy Corbyn ins Feld gebracht und wird bei den nächsten Wahlen wahrscheinlich in noch stärkerem Umfang herangezogen werden. Corbyn will „London zum neuen Caracas“ machen, wird der Chor aller Voraussicht nach tönen.
Bedauerlicherweise haben Jeremy Corbyn und die meisten anderen Vertreter*innen der sozialistischen Linken der herrschenden Klasse in die Hände gespielt, indem sie unkritisch Lob über Maduro und die vorherigen Regierungen von Hugo Chávez nach dessen Wahl im Jahr 1999 ausgeschüttet haben.
Scheitern des Reformismus
Die kapitalistischen Kommentator*innen, die Jeremy Corbyn, Owen Jones und Sozialist*innen wegen ihrer unkritischen Verteidigungshaltung gegenüber der Regierung in Venezuela angreifen, ignorieren die „Socialist Party“ oder unsere internationale Organisation, das „Committee for a Workers‘ International“//“Komitee für eine Arbeiterinternationale“ (CWI). Wir haben die Reformen und Schläge gegen den Kapitalismus durch die Arbeiter*innenklasse Venezuelas und Hugo Chávez immer verteidigt. Dabei haben wir aber stets davor gewarnt, dass die Reformen unter Beschuss stehen und wieder umgekehrt werden, wenn der Kapitalismus nicht besiegt und durch eine demokratisch organisierte Planwirtschaft mit Verstaatlichungen ersetzt wird.
Wir haben davor gewarnt, dass es ohne diese Maßnahmen zwangsläufig zu ökonomischer Sabotage und zu Verwerfungen kommen wird und dass es der Konterrevolution ermöglichen wird, erneut an Boden zu gewinnen.
Beständig haben wir uns gegen die bürokratischen „top-down“-Methoden ausgesprochen, die vom Regime angewendet worden sind. Im Gegensatz dazu haben wir uns für eine echtes System der demokratischen Kontrolle und Verwaltung durch die Beschäftigten eingesetzt. Nur so kann der Korruption und den repressiven Methoden entgegengewirkt werden, die verstärkt zum Merkmal des chavistischen Regimes geworden sind.
Mit Bedauern müssen wir feststellen, dass diese Warnungen von vielen innerhalb der sozialistischen Linken ignoriert worden sind, die nun ihrerseits die herrschende Klasse mit einer Waffe ausgestattet haben, mit der sie den Sozialismus in Misskredit bringen wollen.
Es ist nicht der Sozialismus, der in Venezuela gescheitert ist. Gescheitert ist der Versuch, auf bürokratische Weise und von oben Reformen durchzuführen, ohne dabei über eine gemischten kapitalistische Wirtschaft mit bedeutenden staatlichen Interventionen hinauszugehen.
Dies ist eine Warnung für alle künftigen radikal linken Regierungen und auch für eine mögliche Corbyn-Regierung in Großbritannien. Ein radikal linkes Reformprogramm wird auf den erbitterten Widerstand von Seiten der kapitalistischen Klasse stoßen, die alles daran setzen wird, um eine solche Regierung zu untergraben und zu sabotieren.
Es wird nur möglich sein, eine solche Kampagne zurückzuweisen, indem ein Programm zur Abschaffung des Kapitalismus und zum Aufbau einer sozialistischen Wirtschaft aufgelegt wird, die demokratisch geplant werden und auf der Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und Banken basieren muss, die die ökonomischen Abläufe kontrollieren.
Das hat in Venezuela zu keinem Zeitpunkt stattgefunden. Die derzeitige Krise ist eine Folge dieses Versagens. Wären diese Schritte auf dem Höhepunkt der revolutionären Bewegung (die sich nach dem gescheiterten Putsch gegen Chávez im Jahr 2002 entwickelte) in Venezuela durchgeführt worden, dann wäre es möglich gewesen, eine freiwillige demokratisch-sozialistische Föderation zusammen mit Kuba, Bolivien und Ecuador zu schaffen.
Dadurch hätte die Situation in ganz Lateinamerika und darüber hinaus vollkommen verändert werden können. Tragischer Weise zahlt die Arbeiter*innenklasse Venezuelas nun den Preis für das Scheitern des Reformismus, der nicht endgültig mit dem Kapitalismus brechen will.
Es ist nicht sicher, ob der Putschversuch, der von Trump unterstützt wird, Maduro erfolgreich von der Macht vertreiben kann. Trump und sein führender Kriegstreiber der „Nationale Sicherheitsberater“ John Bolton, der für den Plan des Regime-Wechsels verantwortlich ist, scheinen darin gescheitert zu sein die erste Grundlage für einen erfolgreichen Putsch sicherzustellen: Dass das Militär auf ihrer Seite ist!
Bislang macht das Oberkommando den Eindruck, als verharre es auf der Seite Maduros. Ein Grund dafür ist, dass das Militär durch und durch mit dem Regime verwoben ist, leitende Funktionen in der Regierung besetzt und dadurch sehr lukrative Geschäftsinteressen absichern kann – vor allem in Bezug auf das staatliche Öl-Unternehmen PDVSA.
Trotz des Angebots einer „Amnestie“ durch Guaidó, vertrauen viele Offiziere berechtigter Weise nicht seinen Zusagen. Wahrscheinlich erinnern sie sich nur allzu gut an die „Amnestie“, die den „M19 Guerrillas“ in Kolumbien in Aussicht gestellt wurde. Nachdem sie die Waffen niedergelegt hatten, sind sie in den 1980er und -90er Jahren von der kolumbianischen Regierung ermordet worden.
Sollte jedoch mehr dafür sprechen, dass das Regime seinem Ende entgegen geht oder in sich zusammenfällt, dann kann die Unterstützung des Militärs für Maduro allerdings einbrechen. Es könnte zu Spaltungen und Flügelkämpfen kommen.
Guaidó war in der Lage, nicht nur die Mittelschicht sondern auch Teile der Arbeiter*innenklasse und der Armen zu mobilisieren, die zuvor Chávez unterstützt haben und (bis vor kurzem noch) bereit waren, „Maduro eine Chance“ zu geben.
Jetzt aber, da 90 Prozent der Venezolaner*innen in Armut leben, haben sich Teile der Arbeiter*innen aus den alten Hochburgen von Chávez – wie etwa dem „23 de Enero“ (einem Arbeiter*innenviertel, das nach dem Aufstand vom 23. Januar 1958 gegen das damalige Militärregime benannt wurde) – aus Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung den Protesten von Guaidó angeschlossen.
Explosive Situation
Vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Zusammenbruchs und von gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen kommt es zu einer extrem explosiven und instabilen Situation. Venezuela könnte zerfallen und zu einem „failed state“ (dt.: „gescheiterter Staat“) werden. Elemente dieses Phänomens sind bereits erkennbar.
Sollte die Armee auseinanderbrechen – was nicht auszuschließen ist –, dann könnte Venezuela in einen Bürgerkrieg gerissen werden. Möglich ist sogar, dass das Land eine Entwicklung wie im Libanon durchmacht und unterteilt wird. Maduro könnte sich dann im Präsidentenpalast Miraflores einrichten und einige Regionen und Städte unter seiner Kontrolle haben. Auf der anderen Seite stünde ein Regime Guaidó, das Altimira kontrolliert und andere reiche Teile von Caracas oder andere Städte.
Sollten die USA direkt militärisch eingreifen – was ebenfalls nicht vollkommen ausgeschlossen ist –, so würde dadurch eine schlimme Situation nur noch katastrophalere Ausmaße annehmen. Die meisten Venezolaner*innen und die Masse der Menschen in Lateinamerika sind gegen eine derartige Intervention. Die Geschichte US-imperialistischer Interventionen in Lateinamerika wäre die Basis für eine Reaktion großer Teile der venezolanischen Gesellschaft und der Massen auf dem gesamten Kontinent.
Solch eine Entwicklung vorangetrieben durch das Regime von Trump würde die Beziehungen zwischen den Großmächten (vor allem zu Russland und China) schwer in Mitleidenschaft ziehen. Sowohl Russland als auch China halten zu Maduro, da sie über ihn Einfluss auf Lateinamerika aufrecht erhalten.
Das chinesische Regime hat Kredite in Höhe von 38 Mrd. £ an Venezuela vergeben, die es im Falle einer Entfernung des Maduro-Regimes zu verlieren droht. Hinzu kommt, dass Maduro auch der engste Verbündete Chinas auf dem lateinamerikanischen Kontinent ist. Sollte er durch Guaidó abgelöst werden, so wäre dies ein Rückschlag für die Interessen Chinas in der Region. Schließlich wäre dadurch das Band Venezuelas zum US-Imperialismus gestärkt.
Diese Krise hält enorm zentrale Lehren für die internationale Arbeiterklasse bereit. Sozialist*innen müssen sich gegen jeden Putschversuch der Rechten stellen und sich gegen jegliche imperialistische Intervention wehren.
Aber trotzdem können Sozialist*innen der Regierung Maduro nicht trauen. In Venezuela kämpfen die Mitglieder unserer dortigen CWI-Sektion namens „Izquierda Revolucionaria“ (dt.: „Revolutionäre Linke“) heldenhaft für eine gemeinsame Front aller Sozialist*innen, ehemaliger Chávistas und Arbeiter*innen, um für eine Alternative zur rechte Konterrevolution aufzubauen und eine echte sozialistische Alternative, basierend auf tatsächlicher Arbeiter*innendemokratie zu erkämpfen.