Do 22.10.2015
Am 7. und 8. September kam es zu explosiven Massenprotesten. Die Proteste richteten sich diesmal nicht gegen die Regierung, wie vor zwei Jahren bei den Gezi-Protesten. Diesmal standen sie in Zusammenhang mit Angriffen gegen im Westen der Türkei lebende KurdInnen. Auslöser war, dass 16 Soldaten durch einen Angriff der PKK ums Leben gekommen waren. Geführt von NationalistInnen wandte sich die Stimmung schnell gegen KurdInnen. Unter Duldung der Polizei wurden Büros der linken pro-kurdischen HDP, Geschäfte, Buchhandlungen und kurdische Cafes mit Brandanschlägen angegriffen. Viele bezeichneten diese Ereignisse als die „türkische Kristallnacht“.
Hintergrund sind die neuerlichen Parlamentswahlen am 1. November. Die regierende AKP hatte bei den Wahlen im Juli ihre absolute Mehrheit verloren und konnte nicht mehr allein regieren. Zu dieser Niederlage hatte nicht zuletzt die HDP (Demokratischen Partei der Völker, eine neue linke Formation, die aus der kurdischen Bewegung entstanden ist) beigetragen. Sie erreichte 13% der Stimmen, ein sensationelles Ergebnis. Damit brachte sie die ganze Parteienarithmetik im bürgerlichen Parlament, sowie die Machtpläne von Erdogan, durcheinander. Erdogan boykottierte Koalitionspläne mit anderen Parteien. Dann ließ er PKK-Stellungen bombardieren und beendete damit die 2-jährige Waffenruhe. Jetzt versucht er mit nationalistischer Propaganda Stimmen von WählerInnen der nationalistischen MHP zu gewinnen. Parallel dazu tut er alles, um die HDP an der 10%igen Wahlhürde scheitern zu lassen, indem er sie politisch zu diskreditieren versucht.
Nicht alle, die sich in der ersten Septemberwoche an diesen Ereignissen beteiligten, hassen KurdInnen oder sind FaschistInnen. Die Mehrheit davon waren Jugendliche und einfache Leute, die keine linke Alternative sahen. Gäbe es eine linke Massenkraft, hätte dies eine zweite „Gezi“-Bewegung sein können. Die Wut hätte sich nicht gegen KurdInnen, sondern gegen die AKP und die herrschende Klasse gerichtet.
Die Lage in der Region ist sehr kompliziert. Sie wird sich politisch und sozial weiter destabilisieren. Der Erfolg der HDP war ein riesiger Schritt für die Einheit der türkischen und kurdischen ArbeiterInnenklasse. Das jagte den Herrschenden und der AKP einen gehörigen Schreck ein. Die HDP hatte es geschafft, auch Unterstützung eines Teiles der türkischen ArbeiterInnenklasse zu gewinnen. Allerdings sind die Achillesferse der HDP die falschen Kampfmethoden der PKK. Eben darauf schießen sich die nationalistischen Kräfte ein.
Die programmatischen und strukturellen Schwächen der HDP machen ihre weitere Entwicklung unklar. Daher muss die Linke, während sie die HDP kritisch unterstützt, gleichzeitig für den Aufbau einer linken Kraft stehen, die ein klares sozialistisches Programm hat. Dieses Programm muss die demokratischen Forderungen der KurdInnen und anderer Minderheiten mit sozialen Forderungen der gesamten ArbeiterInnenklasse verbinden. Die im letzten Jahr gegründete BHH (Vereinte Juni Bewegung) könnte neben der HDP eine solche Kraft werden. Allerdings hatte ihre sektiererische Haltung bei den Wahlen im Juni sie fast in die Bedeutungslosigkeit getrieben. Eine von linken Gewerkschaften, Berufsverbänden, HDP und BHH organisierte Konferenz für eine breitere antikapitalistische Front könnte ein wichtiger Schritt in Richtung einer linken Kraft werden.
Sosyalist Alternatif lehnt alle Kampfmethoden ab, die zur Spaltung der Arbeiterklasse führen – so auch individuellen Terrorismus. Wir verteidigen die demokratischen Forderungen der kurdischen Bevölkerung bis hin zum Recht auf Lostrennung. Um diese Forderungen durchzusetzen, müssen die KurdInnen die türkische ArbeiterInnenklasse dafür gewinnen. Daher ist es notwendig, den Kampf um demokratische Rechte mit dem Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung zu verbinden, unter der alle ArbeiterInnen in der Türkei leiden. Kampfmethoden, durch die ihre Kinder ums Leben kommen, werden die ArbeiterInnenklasse nie überzeugen. Sie können nur die Spaltung, die schon existiert, weiter vertiefen – und damit den Herrschenden und ihrem Vertreter Erdogan in die Hände spielen.
Sosyalist Alternatif fordert u.a. eine sofortige Beendigung aller militärischen Operationen, Nein zu den rassistischen Angriffen auf die KurdInnen, sofortiger Stopp der Angriffe durch die PKK, Stopp der Unterstützung jihadistischer Gruppen durch die Türkei. Wir stehen für den gemeinsamen Kampf der türkischen und kurdischen ArbeiterInnenklasse gegen jihadistische Angriffe und gegen die AKP-Regierung sowie für eine demokratische und sozialistische Föderation des Nahen Ostens auf freiwilliger Basis. Nur so ist ein Ende der Gewalt möglich.