Di 12.02.2008
1906 besuchte Francis Galton, ein britischer Naturforscher, die jährliche westenglische Nutztiermesse, bei der ein Ochsen-Gewicht-Schätz-Wettbewerb veranstaltet wurde. Insgesamt 787 Personen, sowohl Laien als auch „Experten“ nahmen daran teil und gaben einen Tipp ab. Galton entschloss sich zu einem Experiment, um die angebliche Dummheit der Masse zu beweisen: Er wertete die fast 800 Schätzungen statistisch aus. Der Mittelwert aller Schätzungen (1.197 Pfund) kam dem tatsächlichen Gewicht des Ochsen (1.207 Pfund) beeindruckend nahe. Galtons Versuch, die Dummheit der Masse auf diese Art zu beweisen, war gescheitert.
Die Tatsache, dass eine Gruppe von Menschen schlauer ist als Einzelne, ist schon vielfach bewiesen worden. Dennoch leben wir in einer Welt, in der „Experten“ oder Vorgesetzte in den Betrieben und der Politik das Sagen haben. Kann das auch anders gehen? Wie könnte das aussehen?
„Der Publikumsjoker bei ‘Wer wird Millionär?’ beweist es: In der Gruppe sind Menschen schlauer als jeder Experte“, so die Süddeutsche Zeitung vom 8. Dezember 2005 darüber, dass das Publikum bei Günther Jauchs Quiz-Sendung selten daneben liegt. In der Masse entfalte sich kollektive Intelligenz, schreibt James Surowiecki in seinem Buch „Die Weisheit der Vielen“. Es komme nur darauf an, das Wissen der Massen richtig zu organisieren.
Bürgerliche Demokratie...
Doch wie sieht es heute aus? Bestenfalls dürfen Menschen in Ländern wie Deutschland alle paar Jahre mal ein Kreuz machen. Die eigentlich wichtigen Entscheidungen fallen in den Chefetagen der Konzerne und Banken. Treffend hat Karl Marx die bürgerliche Demokratie verurteilt, in der es nur erlaubt sei, „einmal in drei oder sechs Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- und zertreten soll“ („Der Bürgerkrieg in Frankreich“).
...und Diktatur in den Betrieben
Während bei Wahlen zumindest so getan wird, als könne man wirklich was entscheiden, so wird in den Betrieben selbst dieser Anschein weggelassen. Hierarchien prägen das Bild, Entscheidungen treffen letztlich nur ganz wenige: Die Eigentümer der Betriebe. Immer wieder mal dürfen sich Mitarbeiter zwar an Ideenwettbewerben beteiligen. Das drückt aus, dass auch die Chefs auf das Fachwissen ihrer Beschäftigten nicht verzichten können. Aber wenn ihnen die Vorschläge nicht passen, lassen sie diese fallen.
Richard Müller, 1918 Vorsitzender der Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin, beschrieb die Verhältnisse im Kapitalismus so: „Kann man von Freiheit reden, wenn der Arbeiter seine Arbeitskraft dem Unternehmer verkaufen muss, wenn der Besitzende den Besitzlosen ausbeutet? Erweist sich die Idee der Demokratie nicht als ein Betrug, wenn die Gleichheit vor dem Gesetz bestenfalls zur Freiheit der Beherrschung und der Ausbeutung der werktätigen Bevölkerung durch den Kapitalismus wird? Wird nicht die Freiheit im kapitalistischen Staatswesen zur Freiheit des Verhungerns, und die Brüderlichkeit zur Heuchelei, zur schmachvollen Wohltätigkeitsprotzerei?“
Rätegesellschaft als Alternative
Im bürgerlichen Staat bleibt die Demokratie beschränkt, ist in der Praxis Diktatur, Herrschaft der Banken und Konzerne. Wir stimmen mit Surowiecki überein, dass es darauf ankommt, „die Exzellenz der Menge“, wie er es nennt, auch für den Alltag tauglich zu machen. Revolutionäre SozialistInnen setzen daher der bürgerlichen Demokratie das Rätesystem entgegen.
Immer wieder baute die Arbeiterklasse in ihren Kämpfen eigene Organe auf: ob mit der Pariser Kommune 1871 oder mit den Räten in den Russischen Revolutionen 1905 und 1917, 1918 in Deutschland oder auch in der Ungarischen Revolution 1956. Die Bezeichnungen können verschieden sein, Funktion und Aufgaben sind die gleichen.
Es ist kein Zufall, dass sich in revolutionären Situationen immer wieder spontan Arbeiterräte gebildet haben. Die Grundlage der Gesellschaft ist die Wirtschaft. Dort sind es wiederum die Beschäftigten, die alle Güter und Dienstleistungen erzeugen. Die Beschäftigten kommen in den Betrieben zusammen, arbeiten gemeinsam, kennen sich, sprechen miteinander. Die erwerbstätige Bevölkerung verbringt einen großen Teil ihrer Zeit gemeinsam am Arbeitsplatz. Ebenso die SchülerInnen in der Schule, die Studierenden an der Uni. Deshalb liegt es nahe, dass man die wichtigen Entscheidungen auf Versammlungen in den Betrieben, Schulen und Hochschulen diskutiert und beschließt. Für die tägliche organisatorische Arbeit werden aus diesen Reihen VertreterInnen gewählt. Für die stadt- und landesweiten Gremien werden Delegierte gewählt. So sind die ersten Räte entstanden.
Durch die demokratische Mitwirkung jedes Mitglieds der Gesellschaft kann die schöpferische Energie der Individuen erstmals voll zum Zug kommen. Bereits heute gibt es Millionen Menschen, die ehrenamtlich tätig sind in Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, Selbsthilfeorganisationen, Hilfsorganisationen, Sportvereinen. Im Sozialismus wird es noch viel weniger ein Problem sein, engagierte und verantwortungsvolle Leute zu finden, die für einen durchschnittlichen Lohn und während ihrer Arbeitszeit die Gesellschaft verwalten.
Wenn die Beschäftigten im Betrieb oder die BewohnerInnen eines Stadtteils zum Schluss kommen, dass gewählte VertreterInnen ihre Aufgabe schlecht erledigen, können sie jederzeit abgewählt und durch andere Personen ersetzt werden. Niemand erhält Privilegien. Keiner einen Posten auf Lebenszeit.
Die Räte sind beschließende wie ausführende Organe, die künstliche Trennung in Legislative und Exekutive entfällt. Ist sie heute doch nur ein Argument, demokratische Rechte auszuhebeln.
Die Rätedemokratie beruht auf dem Gemeineigentum an den Produktionsmitteln und einer demokratisch geplanten Wirtschaft. Damit ist der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit überwunden. Im Sozialismus bestehen die heutigen Gerichte, die heutige Polizei, das heutige Militär – die alle den Interessen der Kapitalisten dienen – nicht weiter. Es sind Räteorgane, die das öffentliche Leben organisieren.
Die Räte werden nach Richard Müller „zur Grundlage einer neuen Gesellschaftsordnung. Das Rätesystem wird sich politisch und ökonomisch betätigen. Es wird politisch in der Übergangsperiode zur Herrschaftsorganisation des Proletariats; seine Organe müssen die politische Verwaltung übernehmen. Ökonomisch wird es zur Organisation der Produktion.“
Wie können Räte organisiert werden?
In Räten vereinigen sich verschiedene Interessen, die der Beschäftigten eines Betriebes, die der NutzerInnen und der Gesellschaft als Ganzes. Alle diese Gruppen haben berechtigte Interessen, die gemeinsam am Besten zum Tragen kommen. Die Triebkraft der kapitalistischen Produktion ist der Profit. Um den Bedarf der Gesellschaft kümmert sich der Kapitalismus nicht. In vergangenen Ausgaben der Solidarität haben wir detailierter auf die Möglichkeiten hingewiesen, wie eine Planung im Interesse der Menschen organisiert werden kann. Klar ist: Mit Internet und anderen modernen Kommunikationstechnologien ist es noch leichter, den Bedarf zu ermitteln und entsprechend zu produzieren.
Jeder kennt die Lage in seinem Betrieb, seiner Schule, seinem Stadtteil am Besten. Wie kann die Arbeit optimal organisiert werden, was soll auf dem Lehrplan stehen, welcher Spielplatz braucht eine Erneuerung? Um das zu entscheiden, braucht es keine Vorgesetzten oder abgehobenen Politiker. Das können die Menschen vor Ort am Besten entscheiden. Von daher ist die erste Rätestruktur, die es zu bilden gilt, eine, die sich auf einen Betriebsteil, eine Bildungseinrichtung oder einen Stadtteil bezieht. Die Menschen in diesen Bereichen wählen sich ihre VertreterInnen aus ihrer Mitte.
Diese lokalen Räte müssen natürlich zusammengefasst werden, um weitergehende Entscheidungen, wie zum Beispiel die Organisation des Nahverkehrs, zu treffen. Also wählen diese Räte VertreterInnen, die sie zu stadtweiten Versammlungen schicken. Dort kann dann gemeinsam diskutiert und entschieden werden, welche Stadtteile was für eine Nahverkehrsanbindung brauchen. Ähnliches muss landes-, bundesweit und letztendlich international geschehen.
Die „Weisheit der Vielen“ kann aber nur dann erreicht werden, wenn die tatsächliche Macht in ihren Händen liegt und nicht in den Händen einer Minderheit von Kapitalbesitzern. Und diese „Weisheit“ wird sich nur durchsetzen können, wenn alle Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse durch und durch demokratisch sind. In den stalinistischen Ländern war zwar der Kapitalismus abgeschafft aber mangels Demokratie hat sich nicht die „Weisheit der Vielen“, sondern die Beschränkheit der Bürokraten durchgesetzt. In einer rätedemokratischen Gesellschaft werden dagegen die vielfältigen Talente, Fähigkeiten und das immense Wissen aller Menschen endlich auch im Interesse aller Menschen eingesetzt.
Sowjets in der Russischen Revolution 1905
Im Revolutionsjahr 1905 bildete sich in Russland ein neues Zentrum heraus: die Sowjets. Nicht über Nacht. Erst nach Monaten des Kampfes wurde am 10. Oktober in Petersburg der erste Arbeiterrat gegründet. Dann schossen Räte fast überall im Zarenreich wie Pilze aus dem Boden; auch auf dem Land. Damit entstand eine Doppelherrschaft. Auf der einen Seite der alte Staatsapparat, Feudalherren, Kapitalisten – auf der anderen Seite die Sowjets.
Die Rätedelegierten wurden direkt am Arbeitsplatz gewählt. Arbeiterparteien und Gewerkschaften durften eigene VertreterInnen entsenden. Am 15. Oktober kamen zur Sitzung des Petersburger Sowjets bereits mehrere hundert Delegierte, die von der Hälfte aller Lohnabhängigen in der Hauptstadt gewählt worden waren.
Zunächst waren diese Sowjets als Kampforgane, als Streikkomitees gegründet worden. Bald schon gingen aber Post, Telegrafendienste und Bahnverkehr in die Leitung der Sowjets über. Kapitalisten mussten sich an die Sowjets wenden, wenn sie ein privates Telegramm verschicken wollten.
Damals schlug der zaristische Staatsapparat nach zwei Jahren Kampf die Revolution nieder. Aber diese Ereignisse beinhalten bis heute wichtige Lehren: Räte entstehen als Kampforgane und können sich dann in der Revolution in Organe zur Machtergreifung wandeln – um schließlich den Ausgangspunkt für den Aufbau einer sozialistischen Demokratie zu bilden.