Fr 13.03.2009
Winnenden am 11. März 2009: Die schwäbische Kleinstadt wird Schauplatz eines Amoklaufes, dem 15 Menschen zum Opfer fallen. Der Täter ist ein 17-jähriger ehemaliger Schüler der Albertville-Realschule, in der die Mordserie ihren Auftakt fand.
Neun SchülerInnen und drei Lehrerinnen werden im Schulgebäude erschossen. Drei weitere Menschen werden auf der Flucht getötet. Angehörige, LehrerInnen und Freunde stehen unter Schock. Am frühen Nachmittag, kurz nach Schulschluss, setzten sich Jugendliche im ganzen Bundesgebiet an ihre Computer und tippten Beileidsbekundungen und tröstende Worte in Blogs und Internetplattformen wie SchülerVZ. In den Beiträgen ist die meistgestellte Frage: „Wie konnte das nur passieren?“
Deutschland auf Platz zwei der Amokläufe
Die Tat ruft Erinnerungen an vorangegangene Amokläufe wach: Im März 2000 schoss ein 16jähriger Schüler eines Realschulinternats in Brannenburg (Bayern) auf den Leiter der Einrichtung, nachdem er tags zuvor von der Schule verwiesen wurde. Im April 2002 erschoss ein Erfurter Schüler 16 Menschen an seiner ehemaligen Schule. Im November 2006 eröffnete ein 18-jähriger in Emsdetten das Feuer in seiner Schule, verletzte mehrere Menschen und erschoss sich selbst. Deutschland hat nach den USA in den letzten 10 Jahren die meisten Amokläufe junger Menschen zu verzeichnen.
Wie in den vorangegangenen Fällen wird auch jetzt über den Tag hinweg eilig ein Täterprofil zusammengeflickt. Schwarze Kleidung, wenig Freunde, in sich gekehrt und vor allem eine Neigung zu „Killerspielen“ und Horrorvideos lautet die Beschreibung bis zum Abend des 11. März. Focus-Online titelt am 12. März: „Amokläufer spielte Gewaltspiele“. Den Kommentatoren der Medien zufolge stehe ein klares Motiv nicht fest. Der Junge komme aus wohl behüteten Verhältnissen.
Killerspiele als willkommenes Alibi für jugendfeindliche Politik
In Nachlese des Amoklaufs in Erfurt veröffentlichte die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ unter dem Titel „Software fürs Massaker" einen Artikel, der das PC-Spiel „Counter Strike“ als eine Art Trainingscamp für Amokläufer beschreibt. In gleicher Manier haben zahlreiche Politiker und „Experten“ in den so genannten „Killerspielen“ den Hauptgrund für Amokläufe ausgemacht. Die Spiele würden die Hemmschwelle zum Töten herabsetzen, Jugendliche abstumpfen und schließlich zum Töten trainieren. Edmund Stoiber und andere Politiker machten es zur Chefsache den Spielen den Garaus zumachen.
Abgesehen davon, dass es schwierig ist, überhaupt einen Jugendlichen zu finden, der nicht auch mal ein „Killerspiel“ spielt, kann ein ursächlicher Zusammenhang zwischen „Killerspielen“ und Amokläufen nicht belegt werden. Dieselben Jugendlichen, die Beileidsbekundungen und ehrliche Bestürzung anlässlich des Amoklaufs über das SchülerVZ posten, sind zugleich Mitglied in Gruppen wie: „Ja,ich spiele Counterstrike. NEIN, ich plane KEINEN Amoklauf!“
Natürlich kann der exzessive Gebrauch von „Killerspielen“, insbesondere bei Kindern und sehr jungen Jugendlichen, das Problembewusstsein zum Thema Gewalt negativ beeinflussen.
Es ist aber auch offensichtlich, dass sich die Amokläufe nicht auf eine Neigung zu solchen PC-Spielen reduzieren lassen. Für Politiker ist dies jedoch eine willkommene Erklärung. Diese Debatte verhindert nämlich, dass die Ursachenforschung auf ihr eigenes Handwerk, nämlich eine jugendfeindliche Politik, fällt.
Tatort Schule
Sämtliche Amokläufe der jüngsten Zeit fanden in den Schulen ihren Ausgangspunkt. Ginge es einzig um das Ausleben von Gewaltphantasien, hätte auch jeder andere Ort für die Tat gewählt werden können. Für zahlreiche SchülerInnen ist die Schule ein Ort der Peinigung, des Stresses, der Verzweiflung und letztlich auch der Perspektivlosigkeit und Ohnmacht. In Ankündigungen von Amokläufern ist oft von Rachefeldzügen die Rede. Der Amokläufer von Erfurt wurde kurz vor der Planung seiner Tat darüber benachrichtigt, dass er seinen Gymnasialabschluss nicht erhalten würde. Für einen Jugendlichen in Thüringen bedeutete das völlig ohne Schulabschluss dazustehen in einem Bundesland mit 17 Prozent Arbeitslosigkeit und einer allgegenwärtigen Perspektivlosigkeit. Obwohl der Schüler in Winnenden aus einer gutbetuchten Unternehmerfamilie kam, hat auch er von der fünften Klasse an starke schulische Probleme gehabt. Obwohl er nicht mehr Schüler war, wählte er die Schule als Tatort. Das kann kein Zufall sein.
Amokläufe sind die Ausnahme – Kranker Leistungsdruck ist die Regel
LehrerInnen sind mit Klassengrößen von über 30 SchülerInnen überfordert. Schulsozialarbeit findet kaum statt. Auf die Belange und Probleme einzelner Jugendlicher kann unter diesen Bedingungen kaum Rücksicht genommen werden. Auf Seiten der SchülerInnen ist Leistungsdruck allgegenwärtig. Der Wechsel von einem höheren Schulzweig auf einen niedrigen wird als Versagen wahrgenommen. Gute Zensuren werden als notwendig angesehen, um später Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Freizeit wird vor dem Hintergrund von Schulzeitverkürzungen wie „G8“ immer enger. Der Druck von Klausuren und Abschlusstests bestimmt das Leben vieler junger Menschen. Eine Schülerin machte in Erfurt während einer Trauerveranstaltung im Jahr 2002 deutlich: „Ihr alle wisst ja unter welchem Leistungsdruck wir stehen. Ausreichend Gelder für die Bildung aber fehlen. Wir haben in den Schulen eingeschränkte Gedankenfreiheit. Wir müssen aufpassen, was wir sagen, um uns nicht schlechtere Zensuren einzufangen“ (Berliner Zeitung, 30.04.2002).
Die Reaktionen von SchülerInnen auf den schulisch bedingten Druck sind unterschiedlich. Die einen meistern ihn ohne große Probleme. An einer immer größeren Anzahl geht der Schulstress allerdings nicht spurlos vorbei. Mittlerweile leiden 20 Prozent der Jugendlichen und Kinder unter psychischen Erkrankungen. Sie äußern sich meistens in starker Angst, Aggressivität, Essstörungen oder depressiven Symptomen, die bis hin zu Selbstmordgefährdung oder noch schlimmeren Absichten reichen. Während grausame Amokläufe hierbei die Ausnahme darstellen, ist Verzweiflung ein Massenphänomen unter SchülerInnen. Der Druck im aktuellen Schulsystem macht krank
Jugendfeindliches Umfeld
Außerhalb der Schule wachsen Jugendliche in einem familiären Umfeld auf, indem die Eltern eine Erziehung unter extremen Bedingungen meistern sollen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Krise drohen Kündigungen und der Arbeitsdruck steigt. In vielen Bereichen ist die Arbeitszeit seit Jahren enorm flexibilisiert. Überstunden und Wochenendarbeit stehen auf der Tagesordnung. Die Verantwortung für die Erziehung der Kinder wird dabei allein auf die Familien und vor allem die Frauen geschoben. Hortbetreuung oder Ganztagsangebote an Schulen sind selten und müssen oft aus privater Tasche bezahlt werden. Für viele Familien ist das unbezahlbar. Kostenlose Freizeitangebote jenseits der Schule, z.B. in Jugendzentren, in denen Sozialarbeiter im Krisenfall als Ansprechpartner zur Verfügung stehen, sind seit Jahren von enormen Kürzungen betroffen.
Eine weitere Tragödie muss verhindert werden
Nach jedem Amoklauf werden Maßnahmen in Angriff genommen, die an den ursächlichen Problemen nichts ändern. Weder ein weiteres Verbot von Killerspielen, noch Sicherheitsdienst und Metalldetektoren am Schuleingang werden die Perspektiven von Jugendlichen verbessern. Auch nach diesem Amoklauf ist zu befürchten, dass bürgerliche Politiker in erster Linie die Repression auf Schulhöfen verstärken wollen.
Der österreichische Standard kommentiert die Folgen des Massakers von Erfurt wie folgt: „Es ist ja nicht so, dass nach dem Massaker von Erfurt nichts passiert ist. Die Waffengesetze wurden verschärft, der Kauf von Computerspielen wurde erschwert. Vieles aber wurde nicht gemacht, Einen Psychologen wollte der damalige Innenminister Otto Schily in jede Schule schicken. Der Vorsatz blieb ein Vorsatz.“
Auch heute kommen noch 12.000 SchülerInnen auf einen Schulpsychologen. Seit Erfurt hat sich an diesen Verhältnissen nichts geändert. Die Logik ist klar: Mehr Schulpsychologen kosten Geld. Verbote von irgendwelchen Killerspielen kosten nichts und wälzen die Verantwortung für gesellschaftliche Missstände auf die Jugendlichen ab.
Statt einer Debatte über „sichere Schulen“ brauchen wir ein sicheres Schulsystem, was SchülerInnen und LehrerInnen den Druck nimmt. Dazu sind als erstes eine drastische Verkleinerung der Klassen und eine massive Erhöhung der LehrerInnenstellen nötig.
Nach dem Erfurter Amoklauf gründete sich ein Bündnis aus SchülerInnen, die einen Trauermarsch von mehreren Tausend SchülerInnen organisierten. Eine Forderung von ihnen war die Verkleinerung der Klassengrößen.
Statt zahlreicher Tests und Hetze von einer Benotung zu der nächsten, brauchen wir ein Schulsystem das sich an die individuellen Lernschnelligkeiten der SchülerInnen anpasst. Noten sind keine objektive Feststellung der Leistung von SchülerInnen, mit Noten wird die Konkurrenz untereinander gefördert. Notenvergabe heißt „Lernen durch Angst“. Deshalb müssen Noten abgeschafft werden und Fähigkeiten und Interessen individuell mit den SchülerInnen diskutiert werden.
Dazu muss die Selektion in Haupt-, Realschule und Gymnasium aufgehoben werden. Stattdessen brauchen wir eine Schule für alle, die Lerngruppen mit SchülerInnen verschiedenster Stärken, Interessen und Fähigkeiten zusammenbringt.
Besonders groß ist oftmals der Druck für SchülerInnen aus ärmeren Familien. Sie können es sich aus Kostengründen oft nicht leisten, dass die Kinder ein Gymnasium oder gar eine Universität besuchen. Hohe Gebühren für Bücher, fehlendes Geld für Schulmaterialien oder für Klassenfahrten machen es schwierig für ärmere Jugendliche am Bildungssystem teilzunehmen. So gehen heute nur zehn Prozent der Jugendlichen aus einfachen Arbeiterfamilien auf ein Gymnasium. Noch geringer ist diese Prozentzahl unter MigrantInnen. Bildung darf nicht abhängig sein vom Geldbeutel. Deshalb muss es vollkommen kostenlose Bildung für alle geben.
Damit SchülerInnen ihre Kritik, Probleme und Sorgen frei äußern können, bedarf es demokratisch gewählter Gremien in den Schulen, an denen SchülerInnen. LehrerInnen und Gewerkschaften gemeinsam bestimmen was und wie gelehrt wird.
Um dieses zu verwirklichen, muss es eine vollkommen öffentliche und ausreichend finanzierte Bildung geben.
Verschärfung durch kapitalistische Krise
Der Druck an Schulen, soziale Auslese, Jugendarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit war schon in den Jahren des Wirtschaftsaufschwungs enorm. Das wird sich in der gerade begonnen kapitalistischen Krise noch massiv steigern. Immer mehr Jugendliche laufen Gefahr, in diesem System zu verzweifeln. Um Ohnmacht, Isolierung und Verzweiflung in Widerstand zu verwandeln ist eine antikapitalistische Antwort nötig, die die Interessen hinter dem dreigliedrigem Schulsystem und seiner Funktion in der kapitalistischen Wirtschaft aufdeckt und Alternativen formuliert. Warum werden Milliarden in die Banken gepumpt und nicht in die Schulen? Warum werden nur marode Banken und nicht alle im Interesse der Allgemeinheit verstaatlicht, um die bisherigen Überschüsse in Bildung und andere Bereiche einzusetzen? In was für einer Gesellschaft leben wir eigentlich, in der immer mehr Menschen von Hartz IV leben und einige wenige Milliarden einstecken?
Eine wirkliche Alternative zu diesen Zuständen ist eine sozialistische Gesellschaft, in der die Bedürfnisse aller Menschen im Mittelpunkt stehen. Damit dies möglich wird, müssen die großen Konzerne und Banken in öffentliches Eigentum überführt und unter die demokratische Kontrolle und Verwaltung der Belegschaften und Vertretern der arbeitenden Bevölkerung gestellt werden. In einer Gesellschaft, die nicht der Profitlogik und dem Konkurrenzdenken unterliegt, könnten soziale Fortschritte dauerhaft gesichert werden.
Bundesweite Demos am 28.3. und Bildungsstreik(Anm: auch in Wien findet am 28.3. eine Demonstration statt "Wir zahlen Eure Krise nicht" - die SLP und die Plattform für kämpferische und demokratische Gewerkschaften organisieren dabei einen Block von LehrerInnen, SchülerInnen und Eltern gegen die Pläne von "Bildungsministerin" Schmied.)
Ein wichtiger Ansatzpunkt, um sich gegen den Zustand an Schulen und Unis unmittelbar zu wehren ist der Bildungsstreik, der am 17. Juni bundesweit stattfindet. Linksjugend["solid] beteiligt sich aktiv an den Vorbereitungen. Nicht nur SchülerInnen, Azubis und Studierende leiden unter den heutigen Zuständen. Auch Lehrkräfte sind betroffen. Wir sollten uns deshalb für den größtmöglichen Schulterschluss zwischen SchülerInnen, Studierenden und LehrerInnen und dem Personal an Schulen und Unis am 17. Juni einsetzen.
Die Großdemos gegen die Folgen der kapitalistischen Krise am 28. März sind ein Auftakt, uns gemeinsam mit vielen anderen Menschen dagegen zur Wehr zu setzen dafür, dass Jugendliche, Erwerblose und abhängig Beschäftigte für die kapitalistische Krise zahlen sollen.
Das kann der Beginn sein, in Deutschland endlich zu französischen Verhältnissen zu kommen.
Am 29. Januar streikten in Frankreich zwei Millionen Menschen gegen die Folgen der Krise und die Situation an den Schulen. Zehntausende SchülerInnen besetzten im Vorfeld des Streiks ihre Schulen. Der nächste Generalstreik ist für den 19 März geplant. Sprechen wir auch in Deutschland mit den Herrschenden endlich französisch: „Tous ensemble“- alle gemeinsam.
Forderungen:
- Kostenlose Bildung für alle
- Verkleinerung der Klassen auf maximal 15 SchülerInnen
- Rücknahme des Turboabiturs (G8)
- Sofortige Einstellung von 100.000 LehrerInnen
- Einstellung von genügend SchulsozialarbeiterInnen und PsychologInnen an allen Schulen
- Schluss mit Leistungsdruck, Auslese und Elitebildung im Interesse der Banken und Konzerne: Abschaffung aller Noten, Ausbau der Wahlmöglichkeiten nach Fähigkeiten und Interessen zur individuellen Förderung
- Eine Schule für alle mit kostenlosen Ganztagsangeboten
- Demokratische Verwaltung von Schulen, inklusive Festlegung der Lehrinhalte und –methoden, durch demokratisch gewählte Gremien von SchülerInnen, LehrerInnen und Gewerkschaften
- Statt Rettungspakete für Banken und Konzerne: Sofortige Rücknahme aller Kürzungen in den Bereichen Jugend, Bildung, Soziales, Gesundheit, Kultur und Schaffung von ausreichend selbstverwalteten Jugend- und Freizeit-einrichtungen
- Abschaffung von Hartz IV
- Jugendarbeitslosigkeit stoppen: Für eine drastische Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden pro Woche bei vollem Lohn und Personalausgleich