„Es brodelt unter der Oberfläche“

Interview mit Festus Okay von Sosyalist Alternatif, der türkischen Schwesterorganisation der SLP.

Bei den Wahlen im März wurde Erdogan gestärkt. Doch nach Soma sieht die Lage anders aus. Wie stabil ist sein Regime?

Wenn man die Wahlergebnisse als Maßstab nimmt, sieht das Regime auf den ersten Blick sehr stabil aus. Aber tatsächlich ist es mehr wie ein Boot, wo ein Loch geflickt wird und das nächste aufreißt und sie nur am Wasserschöpfen sind. Seit dem Gezi-Aufstand ist die Regierung mit Massenprotesten konfrontiert. Dann der Korruptionsskandal rund ums Gülen-Netzwerk. Die Wahlen waren eine kurze Verschnaufpause. Dann kam das Massaker von Soma. Das Neue ist nun, dass die soziale Frage im Vordergrund steht. Damit verändern sich auch langsam die Schichten, die gegen Erdogan auf die Straße gehen. Letztes Jahr waren es noch mehr städtische Schichten und viele Intellektuelle und Kleinbürger, nun werden es mehr ArbeiterInnen. Soma ist eher eine eher konservative Gegend, aber als Erdogan dort war, gab es massive Proteste gegen ihn. Doch das ist ein langsamer Prozess. Der Streikaufruf z.B. nach Soma wurde zwar teilweise befolgt, aber die Spaltung der ArbeiterInnen entlang ethnisch-religiös-kultureller Linien ist noch ein großes Hindernis. Und Erdogan versucht diese zu vertiefen.

Wie siehst du die Zukunft des Regimes?

Prägend ist eine massive Polarisierung. Die hat durch Soma zugenommen. Wichtig sind die Wahlen im August, bei denen Erdogan seine Macht ausbauen will. Die Frage ist, wie lange Menschen aus den ärmeren Schichten ihn noch unterstützen werden. Selbst Regierungsberater sagen, dass Soma und seine Auswirkungen Menschen erreicht, die Gezi nicht ansprechen konnte. Zur Zeit gibt es aber keine politische Kraft, die diese Wut bündelt und eine Alternative anbietet. Aber wir waren bei den Protesten und haben diese Forderung auch eingebracht. Die Stimmung drückt sich noch nicht in Massendemos aus. Es ist mehr ein Brodeln unter der Oberfläche. Aber selbst wenn es aussieht, als ob es sich kurzfristig stabilisieren kann – mittelfristig wird das Regime zusammen brechen.

 

Mehr zum Thema: 
Erscheint in Zeitungsausgabe: