Quo vadis, EUtanic?

Die EU war immer ein Eismeer, doch nun werden die Eisberge größer, die sie zum Kentern bringen können.
Jan Millonig

Die EU wurde vor über 70 Jahren mit mindestens so viel Gloria aus der Taufe gehoben, wie einst die Titanic, aber steuert zunehmend auf den Eisberg kapitalistischer Realität zu. Genauso wie das Schiff, das für diese Metapher herhalten muss, wohnen der EU Konstruktionsfehler und Widersprüche inne. Sie kann weder die Versprechen halten, noch stehen genug Rettungsboote zur Verfügung. Aber vor allem sind die Offiziere auf der Brücke so zerstritten, dass sie das Ruder immer wieder hin und her werfen. Opfer sind wie schon damals vor allem die Holzklassen.

Die EU zeigt uns eines deutlich: „DAS Kapital“ gibt es nicht. Die besitzenden Klassen der Nationalstaaten haben ihre eigenen Interessen, es gibt verschiedene Fraktionen je nach Wirtschaftsstruktur (z.B. exportorientierte Branchen vs. Binnenmarkt). Die Herrschenden setzen bei unterschiedlichen Bedingungen auf andere Strategien. Stärkere Wirtschaften sind nicht bereit, ihre Position gegenüber Schwächeren aufzugeben und haben sogar inner-imperialistische Interessen, wenn man sich das Engagement von z.B. österreichischen Banken in Südost- und Osteuropa ansieht. All das wird vor allem dann schlagend, wenn die wirtschaftlichen Spielräume, also der Gesamtkuchen, kleiner werden. So befindet sich der Staatenbund spätestens seit der Krise 2008 in einer Zerreißprobe und erlebt zunehmend beschleunigende Zentrifugalkräfte.

Die durch die Corona-Pandemie beschleunigte Krise lässt das Karussell jetzt durchdrehen. Wir sahen, wie das Vorhaben der mächtigen (aber auch wackeligen) deutsch-französischen Achse von Macron und Merkel, Wirtschaftshilfen offensiv zu verteilen, am Widerstand von vier relativ kleinen Länder scheiterte. Die “Sparsamen Vier” (Österreich, Dänemark, Schweden und Niederlande) wollten das Paket kleiner dimensionieren, es auf zurückzuzahlende Kredite beschränken und die Vergabe an neoliberale “Strukturveränderungen” knüpfen. Der Kompromiss ist vom Anspruch des hochtrabenden Namens “Wiederaufbauplan” weit entfernt. Bei den über 15 Millionen Arbeitslosen und über 90 Millionen Armen in der EU wird nicht mehr viel ankommen.

Auch der “Green Deal” droht im Tauziehen unterzugehen. Es werden noch Jahre und einige Hochwasser-Katastrophen vergehen, bis man die gegensätzlichen Interessen in Maßnahmen gegossen hat. Schon jetzt vermag nichts von den aktuellen Ideen den Klimawandel aufzuhalten.

Doch spätestens die Flüchtlingskrise 2015 hat die Illusion von “europäischen Werten” und “gemeinsamer Außenpolitik” der EU verpuffen lassen. Innerhalb von Stunden wurden nicht nur humanitäre Werte, sondern auch das Schengen-Abkommen fallen gelassen. Schon standen deutsche Polizist*innen in Salzburg am Bahnhof, um Züge nach Deutschland zu kontrollieren. Eine „Verteilung“ der Geflüchteten zwischen den EU-Staaten fand nie statt. Kurz, Orban und Co. erklärten die Idee noch bevor sie vorgeschlagen wurde für gescheitert. Abgesehen vom menschlichen Leid, das diese Politik verursacht, offenbart sie, wie wertlos die EU in Krisen ist.

Die Corona-Krise setzte hier ganz neue Maßstäbe und führte Millionen Menschen vor Augen: Der Kapitalismus kennt keine Solidarität. Wenn es hart auf hart kommt, herrscht das Recht des Stärkeren. Deutschland und Frankreich hatten einen Ausfuhrstopp für Masken, auch an die „europäischen Freunde“, verhängt. Impfstoffe wurden nach dem Prinzip “wer zuerst zahlt, mahlt zuerst” gesichert. Die EU-Kommission verlor dieses Rennen und die scheinbare Planung und Zusammenarbeit landete am Boden des kapitalistischen Chaos. Die EU war in der Corona-Krise als Institution de facto nicht existent.

Daneben untergraben Russland und China den Einfluss der EU in verschiedenen Ländern immer stärker, bauen ihren wirtschaftlichen Einfluss aus und treiben so einen Keil in den Versuch der EU-Anbindung an die USA. Das steigende Selbstbewusstsein heimischer Kapitalist*innen in Osteuropa drückt sich auch im aktuellen Konflikt zwischen der EU, Polen und Ungarn aus. An der Oberfläche geht es um rechtliche und „demokratische“ Fragen, doch in Wahrheit geht es um die Möglichkeiten der Nationalstaaten, eigenständige Wirtschaftspolitik und geostrategische Positionierungen zu setzen. Innenpolitische Probleme von Orbán und PiS-Regierung machen die EU als Sündenbock gelegen und lassen das Rad der Zentrifuge schneller werden.

Doch dieses Schiff wird nicht so schnell sinken. Wahrscheinlicher ist es, dass die „EUtanic“ im Eisberg stecken bleibt. Klar ist, dass die oberen Klassen immer genug Rettungsboote finden werden, während die Holzklassen in den unteren Decks festsitzen. Denn Schulden, Budgetlöcher und humanitäre Krisen (Stichwort: Hochwasser und Klimawandel!) sollen wir ausbaden. Oder aber wir können den wichtigsten Konflikt in der EU für uns entscheiden – jenem zwischen der Arbeiter*innenklasse auf der einen Seite und den Wirtschaftsbossen und ihrer politischen Vertretung auf der anderen. Klar ist, die EU ist eine Vereinigung der Herrschenden. Wir müssen dem eine Vereinigung der Arbeiter*innen, Jugend und Armen aller Länder entgegenstellen. Wir wollen nicht wie Leonardo DiCaprio am Gitter rütteln und dann ertrinken - wir haben eine Welt zu gewinnen.

 

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