Do 24.02.2022
Dieser Artikel erschien am 24. Februar auf der Website der International Socialist Alternative (ISA).
Europa blickt in den Abgrund des Krieges, nachdem der Kreml einen Großangriff auf die Ukraine gestartet hat.
Die ISA erklärt ihre uneingeschränkte Solidarität mit den Menschen in der Ukraine, die ohnehin schon unter Ausbeutung, Unterdrückung, Korruption und wachsender Armut leiden und nun auch noch mit dem Schrecken von Krieg und Blutvergießen konfrontiert sind.
Nachdem russische Truppen und Panzer die Grenze zur Ukraine überschritten haben, sind bereits die ersten Menschen getötet worden. Raketenangriffe haben Militärbasen und Flugplätze, auch in Kiew, getroffen. Es gibt bereits Berichte über Schusswechsel in Wohngebieten von Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine im Nordosten des Landes.
Die russischen Truppen müssen unverzüglich aus der Ukraine abgezogen werden!
Den Vorwand für den Einmarsch lieferte die Anerkennung der Volksrepubliken Luhansk und Donezk durch die russische Duma und Putin, auf die das Ersuchen der Volksrepubliken um russische Unterstützung folgte. Die Feindseligkeiten haben nach wochenlangem, eskalierendem Säbelrasseln zwischen Russland auf der einen Seite und der NATO und den USA auf der anderen Seite einen neuen und erschreckenden Höhepunkt erreicht.
Europa steht einem bewaffneten Großkonflikts gegenüber, der mit den verschiedenen geopolitischen Widersprüchen des neuen "Zeitalters der Unordnung" verknüpft ist. Sozialist*innen weltweit müssen ihre Arbeit verstärken und bereit sein, sich gegen imperialistische Kriege und alle weiteren Formen des Imperialismus, sowie für den Internationalismus der Arbeiter*innenklasse einzusetzen.
Imperialistische Interessen
Bis jetzt hat Russland betont, dass seine Sicherheit durch die Osterweiterung der NATO mit Waffen und Truppen entlang seiner Grenzen bedroht ist. Aber jetzt behauptet Präsident Putin, die Aufgabe des russischen Angriffs sei es, die Ukraine zu "entmilitarisieren" und zu "entnazifizieren". Seine Angriffe werden die ukrainische Bevölkerung jedoch nur noch wütender machen. Viele werden zu den Waffen greifen, um sich den russichen Truppen zu widersetzen.
Putin rechtfertigt seinen Angriff damit, dass die Unabhängigkeit der Ukraine nur ein Ergebnis der Russischen Revolution und der Politik der Bolschewiki sei, die unterdrückten Völkern das Recht auf Selbstbestimmung einräumten - eine Politik, die von Stalin und dem bürokratischen Regime, aus dem Putin selbst hervorgegangen ist, bekämpft wurde. Das ist eine wichtige Lektion. Die Unabhängigkeit kann nicht durch einen Appell an die NATO oder die EU erreicht werden, sondern nur durch einen gemeinsamen Kampf gegen den neuen Zaren und seinen Krieg.
Die Menschen, die am meisten unter einem Krieg zu leiden haben, die ihr Leib und Leben, das Leben ihrer Söhne und Töchter, Mütter und Väter, ihre Häuser und ihr Einkommen riskieren werden - die einfachen Menschen der Arbeiter*innenklasse, die in der Ukraine leben - sind zu bloßen Zuschauer*innen degradiert worden, deren Schicksal von Mächten entschieden wird, auf die sie keinen Einfluss haben.
Die heutige ukrainische Führung, das kapitalistische Establishment, dessen einziges Anliegen stets die Verteidigung der Interessen der Oligarch*innen war und die das Land seit seiner Unabhängigkeit von einer Krise in die nächste gesteuert hat, hat sich im vergangenen Jahrzehnt an den Westen verkauft. Sie erhofften sich auf diese Weise den Schutz der NATO und einen wirtschaftlichen Vorteil durch die Annäherung an Europa. Sie sind in jeder Hinsicht gescheitert: Das durchschnittliche Familieneinkommen liegt heute 20 % unter dem Niveau von 2013, und der Schutz durch die NATO wird nicht von dem Interesse des ukrainischen Volkes abhängen, sondern von den wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen der USA und der NATO-Verbündeten.
Auch die wirtschaftlichen Schocks des Krieges werden weltweit zu spüren sein - die Aktienmärkte reagieren bereits, der russische Aktienmarkt fiel um 40 %, bevor der Handel ausgesetzt wurde. Die Energie- und Lebensmittelpreise werden drastisch ansteigen und den ohnehin schon starken Inflationsdruck in der Weltwirtschaft noch verstärken. Und künftige Generationen in der Ukraine und in Russland, die schon jetzt mit niedrigen Einkommen und schlechter Gesundheitsversorgung leben, werden die Kosten des Krieges bezahlen müssen.
Dieser Krieg ist auch Teil des Konflikt zwischen den USA und China um die Weltherrschaft. Die Regierung Biden erklärte offen, China sei ihr "Hauptkonkurrent" und Russland "am gefährlichsten". Innerhalb der NATO drängen die USA ihre europäischen Verbündeten seit Jahren dazu, ihren Kriegsetat zu erhöhen. Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Zu den aktuellen Motiven der USA gehört es, die Verbindungen zwischen dem US-amerikanischen und dem europäischen Imperialismus zu stärken, um zukünftige Konflikte mit China vorzubereiten - und das alles auf Kosten des ukrainischen Volkes.
Durch die NATO-Osterweiterung in Polen, Rumänien und den drei baltischen Staaten ist die NATO bis an die Grenze der ehemaligen Sowjetunion vorgedrungen. Die NATO-Länder haben die Ukraine bis an die Zähne bewaffnet. Biden und seine kriegstreiberischen Verbündeten, die seit Wochen eine "False Flag"-Operation durch Russland vorhersagen, haben eine sich selbst erfüllende Prophezeiung geschaffen. Unabhängig davon, inwieweit die NATO direkt in den sich abzeichnenden Krieg verwickelt ist, trägt der westliche Imperialismus eine Mitverantwortung für das Anheizen eines Konflikts, in dem Familien aus der Arbeiter*innenklasse ihre gefallenen Angehörigen betrauern und den höchsten Preis für die Kriegshandlungen und ihre wirtschaftlichen Folgen zahlen werden.
Schwacher russischer Imperialismus in der Offensive
Der russische Imperialismus hat kalkuliert, dass jetzt der Moment günstig ist, einen entscheidenden Schritt zur Durchsetzung seiner Interessen zu unternehmen. Der US-Imperialismus ist geschwächt, die Europäische Union kämpft mit ihrer inneren Spaltung, und China wird zum Hauptanliegen der USA bei dem Kampf um die Neugestaltung der Weltordnung. Putin tritt das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer*innen mit Füßen, er betrachtet die Ukraine als integralen Bestandteil Russlands, ähnlich wie Xi Jinping Anspruch auf Taiwan erhebt.
Die Bedeutung der Ereignisse in der Ukraine geht weit über die Grenzen der Ukraine hinaus. Eine Wirtschaftskrise, Wellen von reaktionärem Nationalismus und potenziell Millionen von Flüchtlingen werden zu weiteren globalen Krisen führen, gerade als es schien, als würde die Pandemie in eine neue, besser zu bewältigende Phase eintreten.
Obwohl es sich um ein brutales autoritäres Regime handelt, muss der Kreml immer noch abwägen, ob die russische Bevölkerung einen umfassenden Krieg um die Ukraine akzeptieren wird. 2022 ist nicht 2014, als die Übernahme der Krim eine gewaltige patriotische Welle auslöste. Die meisten Russ*innen haben keine Lust auf einen Krieg gegen die Ukraine, da sie bereits mit einem niedrigeren Lebensstandard, einer eskalierenden Inflation und - während der Pandemie - mit über einer Übersterblichkeit von über einer Million Menschen konfrontiert sind. Laut einer Meinungsumfrage (23.02.2022) sind 40 % der russischen Bevölkerung, vor allem die junge und städtische Bevölkerung, gegen die Anerkennung der Republiken, die als Kriegsvorwand benutzt wurde.
Russland ist ein militärischer Riese, aber seine Wirtschaft beträgt nur etwa 6 % der Volkswirtschaften der NATO-Staaten zusammengenommen. Sein BIP ist kleiner als das Italiens. Schwere Sanktionen und ein Krieg könnten der Wirtschaft sehr schaden und in Verbindung mit den russischen Kriegsopfern das wachsende Misstrauen gegenüber allem, was die Regierung sagt, noch verstärken. Putin mag froh sein, dass er die Unterstützung Pekings hat, aber wenn ein lang anhaltender Krieg die wirtschaftlichen Ressourcen aufzehrt, könnte er Xi bitten müssen, ihm finanziell unter die Arme zu greifen.
Es sind die Arbeiter*innenklasse und die Armen, die für Sanktionen den Preis zahlen. Wenn das Vermögen der 500 größten Oligarchen in Russland während der Pandemie um 45 % auf 640 Milliarden Dollar gestiegen ist, werden ein paar Milliarden auf eingefrorenen Bankkonten keinen großen Unterschied machen.
Dieser Krieg hat mit dem Schutz der betroffenen Bevölkerungen nichts, aber auch gar nichts zu tun. Die NATO hatte und hat keine Probleme mit Diktatoren, wenn es ihr passt, und Putin unterstützt die rechtesten Parteien in Europa - so viel zum Thema "Antifaschismus" oder "Verteidigung der demokratischen Rechte". Ein Krieg wird schreckliches menschliches Leid bedeuten, er wird mit dem Verlust von Menschenleben, wirtschaftlicher Not und weiteren Flüchtlingen bezahlt werden und er wird keines der bestehenden Probleme oder zwischenimperialistischen Spannungen lösen. Trotz gegenteiliger Behauptungen liegt er nicht im Interesse der Arbeiter*innenklasse und der einfachen Bevölkerung in allen beteiligten Ländern.
Wir können uns auf keine der beteiligten imperialistischen Institutionen oder ihren Kriegsmaschinerien verlassen, um Frieden oder Wohlstand zu schaffen. In der Tat bittet die Ukraine seit Jahren die NATO und den Westen um konkrete Unterstützung, die ihr jedoch verweigert wird. Wir sollten kein Vertrauen in die imperialistischen Institutionen haben. Jede "diplomatische Lösung", die sie vereinbaren, würde zwar zunächst von den Menschen auf der ganzen Welt begrüßt werden, aber letztlich auf Kosten der einfachen Menschen gehen und nur den Boden für weitere Spannungen und Konfrontationen bereiten. Die Großmächte haben sich als unfähig erwiesen, die von ihnen zu verantwortende Gesundheits- und Klimakrise in den Griff zu bekommen, sie sind nicht gewillt, die steigenden Lebenshaltungskosten für die einfachen Menschen zu bekämpfen, und nun wird ihr Krieg die Lage noch verschlimmern.
Die einzige Kraft, die in der Lage ist, Krieg und Zerstörung zu stoppen, ist die vereinte Arbeiter*innenklasse. Die ISA ruft die Arbeiter*innenbewegung weltweit zum Aufbau einer massiven internationalen Bewegung gegen Krieg und Imperialismus auf. Dazu müssen auch die Verweigerung der Produktion und des Transports von Waffen und Streiks gehören. Gleichzeitig müssen soziale Forderungen aufgestellt werden, die einen echten Ausweg für die Mehrheit der Menschen bieten. Dazu könnte auch ein gemeinsames Vorgehen der Beschäftigten in multinationalen Unternehmen gehören, die in verschiedenen direkt betroffenen Ländern tätig sind.
Dies wird kein leichtes Unterfangen sein. Wir werden uns gegen massive Stimmungsmache auf allen Seiten behaupten müssen, und es wird Zeit und leider auch Leid kosten, bevor die realen Entwicklungen diese einseitige Propaganda entlarvt und die wahren Fragen in den Vordergrund rücken. Aber der Krieg ist die Hebamme der Revolution, er legt die Widersprüche auf die sichtbarste und greifbarste Weise offen. Rechtzeitige und mutige Initiativen in der Anfangsphase eines Krieges sind ausschlaggebend für den Charakter und das Programm, das die Bewegung annehmen wird, wenn sie an Stärke gewinnt.
Dieser Krieg ist nicht im Interesse der Arbeitenden und der Jugend, wo auch immer sie leben. Er dient geopolitischen und wirtschaftlichen imperialistischen Ambitionen. Die ISA wird sich dem Krieg entgegenstellen, wo immer wir vor Ort sind, in Russland, den USA, der Ukraine und anderswo. Insbesondere stehen wir an der Seite der Jugendlichen und Arbeiter*innen in Russland in ihren Forderungen, den Krieg durch den Aufbau einer Anti-Kriegs-Bewegung an den Arbeitsplätzen und Universitäten zu bekämpfen. Für Solidarität gegen die Kriegstreiber und für einen Krieg gegen die Armut, und nicht gegen andere Völker.
Wir sagen:
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Nein zum Krieg in der Ukraine! Für das Recht der Menschen in der Ukraine, über ihre eigene Zukunft zu entscheiden, einschließlich des Selbstbestimmungsrechts für Minderheiten!
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Für die Rückkehr der russischen Truppen in die Kasernen in Russland und den Abzug aller NATO-Truppen aus Osteuropa.
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Kein Vertrauen in die beteiligten "friedenserhaltenden" imperialistischen Kräfte!
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Keine Illusionen in die Diplomatie der Kriegshetzer*innen. Aufbau einer massiven Antikriegs- und antiimperialistischen Bewegung, die Arbeiter*innen und Jugendliche über die Grenzen hinweg miteinander verbindet!
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Für eine internationalistische, sozialistische Alternative der Arbeiter*innenklasse zu kapitalistischen Konflikten, die zu Krieg und Zerstörung führen!