Mo 01.09.1997
Die Sozialversicherung - also Arbeitslosen-, Unfall-, Kranken- und Pensionsversicherung - wurde wegen der Industrialisierung für die Lohnabhängigen notwendig. Vorher gab es keine ausgeprägte und prinzipielle Trennung zwischen Haushalt und Produktion - die Familie mußte sich um die Kranken und Alten kümmern.
Die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft trennte durch die Entstehung der Industrie nicht nur die Produktion vom Haushalt, sondern auch den Produzenten von den Produktionsmitteln. Auf der einen Seite standen die Kapitalisten, die Besitzer der Produktionsmittel, auf der anderen die ArbeiterInnen, die nur ihre Arbeitskraft verkaufen können und deren Existenz daran gebunden ist.
Das Elend der ArbeiterInnen spitzte sich bis zur Existenzbedrohung zu, wenn infolge von Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit oder Alter das Lohneinkommen wegfiel. Hinzu kommt, daß es im Frühkapitalismus auch keine ArbeitnehmerInnenschutzbestimmungen gab - d.h. die Arbeitsbedingungen waren extrem gesundheitsschädlich, und der gesundheitliche Zustand der Bevölkerung verschlechterte sich mit der Entwicklung der Industrie.
In die Zeit der Einführung von Sozialpolitik fällt auch die Herausbildung der ArbeiterInnenbewegung. Durch die Einführung erster sozialpolitischer Maßnahmen, Unfall- und Krankenversicherung für unmittelbar an Maschinen Arbeitende, wollten die Herrschenden der ArbeiterInnenbewegung den Wind aus den Segeln nehmen, was aber nicht gelang. Aufgrund dieser Intention spricht man von repressiver, staatsautoritärer Sozialpolitik, die die Einführung sozialpolitischer Maßnahmen mit gleichzeitiger politischer Unterdrückung von ArbeiterInnenparteien und Gewerkschaften verband.
Die Sozialversicherung und Sozialpolitik fanden in den revolutionären Jahren 1918 bis 1920, als Europa unter dem Eindruck der russischen Revolution stand und die Sozialdemokratie in Regierungen war, eine große Ausdehnung und Wandlung: ArbeiterInnenschutzbestimmungen, 8-Stundentag, Urlaub, kollektive Arbeitsverträge, allgemeine Arbeitslosenversicherung. Die drohende Revolution bewegte die Bürgerlichen nun zu vielen Zugeständnissen an die ArbeiterInnenklasse, die für sie davor jahrelang indiskutabel waren.
Der Anteil der Versicherten an den unselbständig Erwerbstätigen stieg von 7 % (1890) auf 60 % (1930). Die Sozialpolitik wurde durch die Sozialdemokratie vorangetrieben. Dies stellt einen Fortschritt gegenüber der in der Monarchie praktizierten „Sozialpolitik von oben“ dar, allerdings wurde damit auch versucht, die revolutionäre Bewegung 1918 -21 zu ersticken.
Die Wirtschaftskrise in den 30er Jahren, Austro- und Nazifaschismus brachten neben der Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung auch große sozialpolitische Rückschläge. Erst in den 50er Jahren wurde der österreichische Sozialstaat wieder weiterentwickelt. Diese Tendenz dauerte dann im großen Nachkriegsaufschwung bis in die 70er Jahre an und führte dazu, daß heute nahezu alle Bevölkerungs- und Berufsgruppen, auch die selbständig Erwerbstätigen- in das Sozialversicherungssystem eingebunden sind. Seit Einsetzen der Wirtschaftskrise in den 70er Jahren und vor allem seit ihrer Verstärkung in den 80er und 90er Jahren ist der Sozialstaat allerdings wieder massiv in Frage gestellt worden und wird an allen Ecken und Enden beschnitten.